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BERLINER DIALOG 28, 2005  Sekten

 

Stichwort: Zeugen Jehovas
von Rüdiger Hauth

Entstehung und Geschichte
Die heute als Jehovas Zeugen oder Zeugen Jehovas bekannte Sekte wurde gegründet von Charles Taze Russel, geboren am 16. Feb. 1852 in Allegheny/Pennsylvania. Seine Eltern gehörten der Presbyterianischen Kirche an.

Schon als 15-jähriger beschäftigte sich Charles Taze Russel intensiv mit religiösen Fragen. Dann schloß er sich 1870 einer adventistischen Splittersekte an, den Second Adventists. Von deren Vorstellungen, z.B. der Berechenbarkeit des Zeitpunkts der Wiederkunft Christi und des Endes der Welt, wurde er stark beeinflußt. Seine Zusammenarbeit mit der Splittersekte dauerte einige Jahre.
Nachdem er sich im Streit von ihr getrennt hatte, brachte Russell 1879 eine eigene Zeitschrift mit dem Titel "Zion's Watch Tower and Herald of Christ's Presence" heraus, um seine inzwischen gewonnenen Erkenntnisse und Lehren besser verbreiten zu können. Ab 1897 erscheint der Wachtturm auch auf Deutsch. 1881 gründete Russel die "Wachtturm-Traktat-Gesellschaft". In den folgenden Jahren entstand sein Hauptwerk, die "Schriftstudien". Gleichzeitig unternahm er zahlreiche Reisen, 1903 auch nach Deutschland, um seine Anhänger zu besuchen. Er starb am 31. Oktober 1916 während einer Vortragsreise in Texas.
Mit der Gründung der "Wachtturmgesellschaft" im Jahre 1881 beginnt auch die Geschichte der "Ernsten Bibelforscher", die im Sommer 1931 den Namen "Zeugen Jehovas" bekamen.

Wachturmzentrale in New York
Die Wachturmzentrale in New York
Foto: Eimuth

Präsidenten der Gesellschaft
Russells Nachfolger im Präsidentenamt, Joseph F. Rutherford (1869-1942), der mit Hilfe von Intrigen und brutaler Macht an die Spitze gekommen war, führte zahlreiche Neuerungen ein, die mit der Einführung der "Theokratischen Ordnung" schließlich in der Errichtung einer geistig-geistlichen Diktatur mündeten. So wurde 1932 die "Leitende Körperschaft" in der Zentrale in Brooklyn/N.Y. zum "Kanal Jehovas" erklärt, dem bis heute exklusive Befugnisse der Verwaltung und alle Entscheidungen hinsichtlich der Lehre zustehen.
Sechs Jahre später hatten sich alle Zeugen Jehovas per Erklärung der "Theokratischen Ordnung" zu unterwerfen oder die Organisation zu verlassen. Auf Rutherford gehen auch das System der statistischen Berichte und das der "Königreichssäle" (Versammlungshäuser) zurück.
Der dritte Präsident, Nathan H. Knorr (1905-1977), sorgte für eine weltweite Ausbreitung der Wachtturm-Ideologie und entwickelte eine Reihe von typischen Schulungstechniken ("Theokratische Predigtdienstschule").
Unter seinem Nachfolger, Frederick Franz (1893-1992), erreichte die Sekte die Höchstzahl an "Verkündigern". Die Zeugen Jehovas sprechen nicht von Mitgliedern. Im Jahre 1998 waren es 5,4 Mio, davon rund 166.000 in Deutschland.
Seit Dezember 1992 amtierte der fünfte Präsident, Milton G. Henschel, (1920 bis 2000), dem im Jahre 2000 der jetztige Präsident, Don Adams (geb. 1925), folgte.

Lehre und Praxis
* Zu den wichtigsten Begriffen der Lehre der Wachtturm-Gesellschaft gehört "Harmagedon" (nach Offenbarung 16, 16), womit eine bald stattfindende apokalyptische Endschlacht Gottes gegen das "Böse" in der Welt gemeint ist, bei der nur Jehovas Zeugen überleben werden.
* 144.000 Zeugen Jehovas werden danach vom Himmel aus zusammen mit Jesus Christus herrschen, Millionen jetzt lebender Zeugen Jehovas werden für immer in einem Paradies auf der Erde leben.
* Die Trinitätslehre der christlichen Kirchen wird scharf abgelehnt; Jesus Christus ist in der Lehre der Wachtturm-Gesellschaft Jehovas Geschöpf. Vor seiner Geburt war er der Erzengel Michael, nach seinem Tod wurde er wieder eine Art Geistwesen. Seit 1914 habe er unsichtbar sein Königreich errichtet.
* Die Bibel wird "wörtlich", entsprechend den eigenen mutwilligen "Übersetzungen" und als "Gesetzbuch Jehovas" interpretiert.
* Die besondere Lehre der Jehovas Zeugen zur "Blutfrage" (Verbot von Blutttransfusionen) wird mit dem biblischen Verbot des Blutverzehrs (1. Mose 9; Apostelgeschichte 15,20) begründet.
* Alle kirchlichen Feiertage, insbesondere Weihnachten und Ostern, gelten als "heidnischen Ursprungs". Mit der selben Begründung werden auch Geburtstagfeiern abgelehnt.
* Für ihre Bibelstudien benutzt die Sekte neben ihrem Schrifttum (Der Wachtturm, Erwachet, zahlreiche Broschüren) seit 1960 eine eigene, stark den eigenen Lehren folgende Bibelübertragung, die "Neue-Welt-Übersetzung".

Typisch für Jehovas Zeugen ist ihr Auftreten in der Öffentlichkeit, der sogenannte "Felddienst". Dazu gehören unter anderem das "Wachtturm-Stehen" auf belebten Straßen und Plätzen und die "Mission von Tür zu Tür".
Darauf bereiten sich Jehovas Zeugen in zahlreichen wöchentlichen Zusammenkünften vor. Ehemalige Zeugen berichten von einem wöchentlichen Einsatz von 20 Stunden für die Organisation bei Schulungen und Werbeeinsätzen.
Ein dunkler Punkt im ZJ-System ist der unnachgiebige Umgang mit Kritikern in den eigenen Reihen. Diese werden ohne Rücksicht auf das soziale Umfeld (Familie, Freunde) mit "Gemeinschaftsentzug" bestraft, d.h. aus der Gemeinschaft entfernt.. Nach einem Jahr erfolgt entweder die "reuevolle Rückkehr" des Betreffenden oder sein endgültiger Ausschluß.

Struktur
Die Struktur der Sekte ist streng hierarchisch von oben nach unten geordnet. Diese undemokratische Organisationsstruktur bezeichnet die Sekte als "theokratisch". Für die einzelnen "Verkündiger" gibt es in der Organisation keine Mitsprache oder eigene Entscheidungsmöglichkeiten.

In Deutschland strebt die bisher in verschiedenen eingetragenen Vereinen ("e.V.") organisierte Religionsgemeinschaft den Status einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts in den einzelnen Bundesländern an. Eine deswegen seit 1990 zunächst im Bundesland Berlin geführte rechtliche Auseinandersetzung ist noch nicht entschieden. Gegen das letztergangene Urteil hat die Berliner Landesregierung im Juli 2005 Beschwerde eingelegt. Auf eine Entscheidung ist also noch zu warten.
(Siehe Bericht und Kommentar, S. 43)
Sitz der deutschen Leitung ist Selters/Taunus. Anschrift:
Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas e.V.,
Am Steinfels, 65618 Selters OT Niederselters, Telefon 06483 41-0.

In den juristischen Auseinandersetzungen um die Körperschaftsrechte in Berlin ist auch eine
"Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland e.V." mit Sitz in Berlin hervorgetreten.

Anschrift: Grünauer Straße 104, 12557 Berlin, Telefon 030 65481054.

Zahlen
Die WTG nennt in ihren ausführlichen statistischen Veröffentlichungen nicht die Zahl der "Mitglieder",
sondern diejenige von "Verkündigern", d.h. der aktiv im Werbedienst stehenden Menschen.
Für das Jahr 2004 werden 6.513.132 "Verkündiger" in 96.894 Versammlungen in 235 Ländern und Gebieten angegeben.
In Deutschland gab es 2003 165.935 Zeugen Jehovas in 2.175 Versammlungen.
2004 werden für Deutschland trotz 3.844 Taufen nur 165.201 Verkündiger in 2196 Versammlungen angegeben.
Quelle für 2004: Der Wachtturm, 1.2.2005, Jg. 126, Nr. 3.
Die Zahlen finden sich auch auf http://www.jehovaszeugen.de/sta/default.htm [Nicht mehr online!]

Probleme und Entwicklungen
Mit der Zugehörigkeit zur Sekte verändert sich das Wesen und Denken eines Menschen radikal. Die von der Sektenführung festgelegte Abgrenzung gegenüber Staat und Gesellschaft wird von den einzelnen "Zeugen" im großen und ganzen strikt beachtet und macht sie in vielen Ländern der Welt zu völligen Außenseitern (keine Teilnahme an Geburtstagsfeiern; Ablehnung der christlichen Feste, besonders Weihnachten und Ostern; Probleme im schulischen Bereich usw.).
Dies gilt, mit Ausnahmen, auch für das soziale Umfeld von Familie, Nachbarschaft und Beruf. Besonders in Familien, in denen nur ein einzelner Zeuge Jehovas ist, bleiben Spannungen und negative Folgen für das Zusammenleben erfahrungsgemäß nicht aus.

Bisweilen gibt es Ausnahmen, und seit einigen Jahren versuchte die WTG z.B. mit ihrer Broschüre »Jehovas Zeugen - Menschen aus der Nachbarschaft. Wer sind sie?« (1996) das Außenseiter-Image etwas zu mildern und Jehovas Zeugen als »Menschen wie du und ich« darzustellen.
In diesem Zusammenhang sind in letzter Zeit auch Image-Kampagnen der Wachtturm-Gesellschaft etwa im Hinblick auf die Problemfelder Wehrersatzdienst (Zivildienst), "Blutfrage" und Beteiligung an Wahlen zu beobachten.

Jehovas Zeugen Broschüre

Beurteilung
Konfessionskundlich gesehen stellt die Wachtturm-Gesellschaft mit ihren Zeugen Jehovas den Typ einer gesetzlichen Endzeitsekte dar.
Das Lehrsystem und das von den einzelnen »Verkündigern« praktizierte Verhalten im Alltag ist auf das für die nahe Zukunft erwartete »Ende der Geschichte und der Welt« (»Harmagedon«) hin ausgerichtet.
Das Selbstverständnis ist exklusiv: Nur die der »Theokratischen Organisation« Zugehörigen werden »Harmagedon« überleben, während andere Menschen und Strukturen dem Untergang geweiht sind.
Lehrinhalte, die ein krasses Mißverstehen biblischer Texte widerspiegeln, werden vom "Kanal Jehovas", der "Leitenden Körperschaft" mit ihren Organen, doktrinär und autoritär an die unteren Ebenen weitervermittelt: Widerspruch wird nicht geduldet und auch nicht geübt. Die Sektenführung arbeitet gegenüber den "Verkündigern" im wesentlichen mit den Instrumenten "Angst" (vor dem Ausschluß und damit vor der ewigen Verdammnis) und "Belohnung" (Leben auf einer paradiesischen Erde). Von den Verkündigern selbst wird die totale "Hingabe an Jehova" gefordert, z.B. der nach Stunden meßbare Einsatz für die Wachtturm-Gesellschaft bei Haustürbesuchen und anderen Werbeeinsätzen.

Ratschläge
Der Arbeitskreis Religiöse Gemeinschaften der VELKD gibt in seinem "Handbuch Religiöse Gemeinschaften" folgende Ratschläge und Hinweise zum kirchlichen Umgang mit Zeugen Jehovas:
1. Eine bei den ZJ vollzogene Taufhandlung wird nicht als christliche Taufe anerkannt.
2. ZJ haben kein Patenamt.
3. Ein ZJ kann als Pate bei einer Taufe der evang.-luth. Kirche unter keinen Umständen zugelassen werden.
4. Jehovas Zeugen, die evang.-luth. werden wollen, müssen, wenn sie nicht vor ihrer Zugehörigkeit zu den ZJ rite getauft worden sind, getauft werden. Darauf, daß der Taufe sorgfältiger Unterricht vorangeht, ist besonders zu achten. Auch bei Zulassung von Kindern zur Taufe (und Konfirmation), von denen auch nur ein Elternteil zu den ZJ gehört, ist Aufmerksamkeit geboten, da mit rücksichtslosen Beeinflussungsversuchen des ZJ-Elternteils zu rechnen ist.
5. Die kirchliche Trauung eines evang.-luth. Christen mit einem ZJ bzw. mit einem Partner, bei dem begründeter Verdacht besteht, daß er sich heimlich zu den ZJ hält, kann nicht gewährt werden. Vgl. auch 6.
6. Läßt sich ein evang.-luth. Christ mit einem ZJ im Kreis der Theokratischen Organisation trauen oder schließt er standesamtlich mit einem solchen eine Ehe, ist mit ihm ein seelsorgerliches Gespräch im Sinne von Vorschlag 2 zu führen.
7. Aushilfsweise Trauung von zwei ZJ durch einen evang.-luth. Pfarrer ist nicht möglich.
8. Kirchliche Mitwirkung bei Bestattung von verwaisten ZJ ist nur in dem Fall möglich, wenn keine Zweifel darüber bestehen, daß der Verstorbene mit den ZJ gebrochen hat und nur durch den Tod am Wiedereintritt in die evang.-luth. Kirche gehindert worden ist.
9. Gastweise Zulassung von ZJ zum Abendmahl in der evang.-luth. Kirche ist nicht möglich.
10. Aktive Teilnahme am Gedächtnismahl der ZJ läßt sich nicht mit der Mitgliedschaft in der evang.-luth. Kirche vereinbaren und bedeutet - sofern sie nach einem seelsorgerlichen Gespräch fortgesetzt wird - die Trennung von der Kirche.
11. Bei regelmäßiger Teilnahme eines evang.-luth. Christen an Veranstaltungen der WT-Gesellschaft ist ein Gespräch mit ihm zu führen. - Üblicherweise werden solche Personen von sich aus die Beziehungen zur Kirche abbrechen.
12. Für Veranstaltungen der ZJ kommt die Überlassung kirchlicher Räume nicht in Betracht.

Buchempfehlungen zu Jehovas Zeugen:
Hauth, Rüdiger: Kleiner Sektenkatechismus, Brockhaus-Verlag, Wuppertal, 7. Aufl. 2004, S. 75-113
Doyon, Josy: Hirten ohne Erbarmen. Zehn Jahre Zeugin Jehovas - Der Bericht eines Irrweges.; 332 S.; 4. Aufl. 1990; Theologischer Vlg. Zürich; ISBN: 3290114031
Franz, Raymond: Der Gewissenskonflikt. Menschen gehorchen oder Gott treu bleiben; 392 S.; 3. aktualisierte und ergänzte Aufl. 1996; Claudius Vlg. München; ISBN: 353262074X
Haack, Friedrich-Wilhelm; Gandow, Thomas: Jehovas Zeugen.; 108 S.; 16. aktualisierte und erweiterte Aufl. 1997; Evangelischer Presseverband München; ISBN: 3583506081
Köppl, Elmar: Die Zeugen Jehovas, Eine psychologische Analyse; Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen; 2.Aufl. München 1990; 232 S.;
Pape, Günther: Die Zeugen Jehovas. Ich klage an. Bilanz einer Tyrannei.; 304 S.; Pattloch Vlg. Augsburg 1999; ISBN: 3629008593
Pape, Klaus-Dieter: Die Angstmacher. Wer (ver)führt die Zeugen Jehovas; 283 S.; St. Benno Vlg. Leipzig 1998; ISBN: 3746212685
Wilting, Joseph: "Das Reich, das nicht kam. 40 Jahre hinter der prächtigen Fassade der Zeugen Jehovas, Vlg. IKS Garamond, 280 S.; ISBN 3-934601-01-4
Neitz, Ursula: Dämonen auf dem Dach, IKS Garamond, Jena 2004; ISBN: 3-934601-83-9
Schmidt, Martina: Ich war eine Zeugin Jehovas, Protokoll einer Verführung, Gütersloher Verlagshaus, 2005, ISBN 3-579-06851-2.

Jugendbücher zum Thema:
Krauß, Irma: Esthers Angst 212 S. Beltz, 2000, ISBN: 3-407788-47-9
Frey, Jana: Das eiskalte Paradies - Fischer (Tb.), Frankfurt 2003, ISBN: 3-596804-20-5
Dahms, Anne-Grethe: Abwärts in den Himmel; Sauerländer 1998; ISBN: 3-794143-33-7.

Offizielle Webseiten
Offizielle Seiten der WTG:  http://www.watchtower.org/   http://www.watchtower.org/languages/deutsch/index.html 
Website der "Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland":
http://www.jehovaszeugen.de/
(hier geht es vornehmlich um das Körperschaftsverfahren, aber auch um medizinische Fragen)

Kritische Seiten
Deutsche Aussteiger bieten umfassende Informationen und weitere Links zu kritischen Seiten unter:
http://www.xzj-infolink.de/
 
Silent Lambs (Initiative, die den fragwürdigen internen Umgang der WTG mit sexuellem Mißbrauch dokumentiert):
http://www.silentlambs.org/     http://www.silentlambs.de/


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