Kritisches
Die dokumentierten Gutachten bieten auch viele wichtige Aspekte, ich möchte jedoch einige kritische Anmerkungen machen:
Das Buch will keine "Sektenkunde" bieten, daher werden in manchen Untersuchungen die Gruppen und Anbieter anonymisiert. Die Leserschaft kann mutmaßen, daß sich hinter der "Hugo-MöllerBewegung" die Bruno-Gröning-Freundeskreise verbergen. Die teilweise Anonymisierung wirkt irreführend, eine durchgängige wäre jedoch unmöglich gewesen.
Passung
Mit Recht betonen die Berichte, daß, wenn ein Mensch im Laufe seines Lebens in eine Gruppe eintritt oder von einem Psychoanbieter Gebrauch macht, der Verbleib von der "Passung" abhängt. Nicht jeder Mensch findet überall, wonach er sucht, er wird sich ein Gegenüber suchen, daß zu seinem Lebensthema paßt, das er - oftmals unbewußt - bearbeitet. Der Betroffene verlasse die Gruppe, wenn das Thema abgeschlossen ist oder er die Erfahrung mache, daß die Gruppe doch nicht zu ihm paßt und seinen Erwartungen nicht entspricht, oder wenn der Konformitätsdruck der Gruppe zu groß wird.
Manipulation
Der Begriff "Gehirnwäsche" oder "brain washing" sei unzutreffend, weil so den Gruppen von außen Allmacht zugeschrieben werde, während Einstieg, Verbleib und Ausstieg gruppendynamische und systemische Prozesse sind, an denen der einzelne und die Gruppe beteiligt seien. Hilfreich wäre in diesem Zusammenhang allerdings ein Hinweis darauf, daß es Organisationen gibt, in denen gezielte Manipulation zu vermuten ist. So aber entsteht der Eindruck, es gäbe sie überhaupt nicht.
Der Gedanke der Manipulation gilt als nachträglich konstruiertes "Argument" für die "Dekonversion" betroffener Menschen, auch lasse ein "schwaches Selbstbewußtsein" ein Milieu als "manipulativ" erscheinen.
Aussteiger
Eindrucksvoll widerlegen die Interviews die Ansicht, ehemalige "Sektenmitglieder" wären kaputte Typen und somit therapiebedürftig. Daß es jedoch Menschen gibt, die auf Beratung und Begleitung, manchmal sogar psychiatrische Behandlung angewiesen sind, wird unterstrichen.
Die Gutachten bemühen sich, nicht schwarz - weiß zu malen, sondern zu differenzieren. Bei dieser Differenzierung wäre es allerdings wünschenswert gewesen, nicht allein "Deprogrammierung" als Methode anzugreifen, sondern auch festzustellen, daß sämtliche bekannten Arbeitsstellen für Sekten- und Weltanschauungsfragen in offizieller Trägerschaft in Deutschland diese Methode als menschenverachtend ablehnen.
Das Vorurteil, staatliche oder kirchliche Experten beriefen sich allein auf "selektive Aussteigerberichte", wird leider auch in den Gutachten verbreitet. Die Anmerkung, das Beratungsangebot übersteige den Beratungsbedarf, ruft, milde gesagt, Verwunderung hervor.
Für eine neutrale Beratung wird Fachkompetenz in weltanschaulicher Hinsicht erwartet, die nur aufgrund weitgehender Vernetzung möglich ist.
Die Berater und Therapeutinnen brauchen hiernach für die Beratung außer der Sachinformation nur die übliche psychologische Qualifikation. Darüber hinaus wäre Erfahrung im Bereich "Mediation", also in Bezug auf Vermittlung und Vermittlungstechniken, wünschenswert. Es wird gewünscht, daß zwischen Gruppenmitgliedern, ihren Angehörigen und den Gruppen im Konfliktfall "Mediation" möglich sein sollte. Als Beispiel wird eine "Konfliktlösung" unter Beteiligung der ISKCON in Berlin angeführt.
Religionsneutral
Natürlich wird die Forderung erhoben, daß die Beratung wert- und religionsneutral sein müsse. Es wird betont, die Beratungspersonen müßten sich aber über ihren religiös-weltanschaulichen Standpunkt klar sein. Allerdings macht Frau Roderigo, die diese Forderung erhebt, ihren eigenen Standpunkt auch nicht deutlich.
Als problematische Lebensthemen von Menschen gelten anscheinend nur familiäre Probleme, Beziehungs- und Entwicklungsprobleme. Religiosität oder Spiritualität sind dagegen unzureichend thematisiert.
Die Forschungsberichte und Gutachten zeigen auch, daß das Gebiet "Religionspsychologie" in Deutschland bisher leider schlecht entwickelt ist.
Über die Psychoanbieter wird gesagt, die Kunden seien meistens zufrieden, dennoch wird eine bessere "Wirkungsforschung" der Angebote gefordert. Meditation wirke oft als positive Therapiemethode, eine "Nebenwirkungsstudie" steht aber aus. Leider wird hier kein Zusammenhang zwischen Meditation und Religiosität hergestellt, als ob Meditation als "Therapiemethode" anzuwenden wäre. Das Buch endet mit dem Autorenverzeichnis, vor das ein Interview mit Frau Schumann von ISKCON gestellt ist. Sie behauptet, daß Sektenbeauftragte von Staat und Kirche Probleme mit Gruppen "konservieren", um ihre Stellen zu erhalten. Auch sollten ihrer Meinung nach Beratende ihren eigenen Auffassungen und Religionen nicht "verhaftet" sein und andere Religionen aus deren Zusammenhang verstehen. Beratungsarbeit solle demnach allein von "selbst nicht vrhafteten" und zugleich andere Religionen "aus deren Zusammenhang verstehenden", qualifizierten Psychologen oder Therapeuten geleistet werden.
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