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ELTERNINITIATIVEN

BERLINER DIALOG 14, 3-1998 - Advent

Die Ergebnisse der Enquete-Kommission
"Sekten und Psychogruppen"

und die Folgen für die Beratungs- und Betroffenenarbeit
von Udo Schuster

Nach zweijährigen Beratungen hat die Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" am 9. Juni 1998 ihren Endbericht vorgelegt. Die Münchener Elterninitiative meint, der Bericht sowie die abschließende Debatte des Bundestages über diese Ergebnisse hätten in der Öffentlichkeit noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die das Thema an sich und die Kommission im Besonderen für ihre Arbeit verdient hätten. Mit dieser zusammenfassenden Darstellung der Arbeit der Enquete-Kommisssion und einer Stellungnahme dazu will die Münchener Elterninitiative das Thema und die offenen Fragen wieder auf die Tagesordnung setzen.

Auf knapp 400 Seiten haben Politiker und Sachverständige aus verschiedensten Bereichen die zahlreichen Facetten dieses komplexen Themas beleuchtet. Mit Recht weist die Kommissionsvorsitzende Ortrun Schätzle darauf hin, daß damit wohl die umfangreichste Untersuchung zu dieser Materie vorgelegt wurde, die im deutschsprachigen Raum bisher erstellt wurde.

Udo Schuster

schuster.jpg - Udo Schuster

Anhörungen und Expertengespräche, Gutachten und Forschungsaufträge sowie Einzel- und Delegationsreisen bildeten die Grundlage des Berichts. Dabei wurde den Gruppen genauso die Möglichkeit zur Anhörung eingeräumt wie ehemaligen Mitgliedern. Betroffeneninitiativen und gesellschaftliche Gruppen wurden gehört; nationale wie internationale Aspekte untersucht.
Einseitigkeit der Kommission in der Informationsbeschaffung, der Bewertung und der Handlungsempfehlungen gibt es weder in der einen noch in der anderen Richtung. Interessanterweise wird der Vorwurf, die Kommission betreibe Inquisition vor allem aus dem Umfeld einer Gruppe, nämlich des VPM, erhoben. Der VPM, obwohl zur Anhörung eingeladen und erschienen, verweigerte jegliche Auskünfte und nutzte die Möglichkeit zur Darstellung der eigenen Position nicht.(1)
Die Schlußfolgerungen für die Beratungs- und Betroffenenarbeit sollen anhand der einzelnen Bewertungen und Handlungsempfehlungen auf der einen Seite und unseren Forderungen als Eltern- und Betroffeneninitiative auf der anderen Seite gezogen werden.

Konkrete Forderungen aus Sicht der Initiativen
1. Klare Qualifikationsvoraussetzungen
2. Auseinandersetzung mit den Inhalten
3. Anwendung von Steuer- und Abgabenrecht
4. Durchsetzung von Sozialversicherungspflicht und Nachversicherung
5. Forschung und Aufklärung
6. Beweissicherung und Beweisfindung
7. Nicht nur Kultmitglieder, sondern auch ihre Angehörigen benötigen Beratung und Hilfe
8. Neben den Inhalten müssen sich Fachleute auch mit den angewandten Psychotechniken auseinandersetzen
und positive Identifikationsmöglichkeiten anbieten
9. Öffentliche Stellen müssen verstärkt für Fragen und Besonderheiten im Zusammenhang
mit der Mitgliedschaft in solchen Gruppierungen sensibilisiert werden
10. In der Beratungsarbeit/ Ausstiegsberatung Tätige müssen verstärkt geschult werden
11. Mehr Aufmerksamkeit ist der 2. Generation in den Gruppen zu widmen
12. Beratung und Hilfe für Aussteiger

Kommen wir nun aber zu den Positionen und Empfehlungen des Endberichtes.

Begrifflichkeiten
Der Bericht empfiehlt, im beschriebenen Problemfeld auf den "Sektenbegriff" gänzlich zu verzichten, da er zu Mißverständnissen führen könne und Unschärfen aufweise.
Tatsächlich ist der Begriff "Sekte" von seinem Ursprung her theologisch-apologetisch gefüllt und nur bei der Beschreibung bestimmter Gruppen korrekt angewendet. Aus diesem Grunde hat Friedrich-Wilhelm Haack, Gründer unserer Initiative, bewußt den Begriff "Neue Jugendreligionen" und nicht etwa "Neue Sekten" zur Beschreibung des neuen Phänomens gewählt.
Elterninitiativen und Selbsthilfegruppen haben, wie bereits an anderer Stelle dargestellt, sich bewußt um eine korrekte Begrifflichkeit, die den jeweils konkreten Phänomenen angemessen ist, bemüht.(2)
Die Kommission möche statt von "Sekten" lieber von "Neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen" sprechen. Ob sich ein solcher Begriff in der umgangssprachlichen Diskussion durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.

Bewertungen
Die Kommission hat sich auf Zahlenspielereien jeglicher Art nicht eingelassen. Dies sicherlich auch, nachdem das Ergebnis einer entsprechenden Umfrage wohl von seiner Qualität her eher dürftig ausgefallen ist3. Sie ist zu dem Ergebnis gekommen, daß ein Konfliktpotential festzustellen ist, das von seiner Qualität her die Quantität bei weitem übersteigt. Einzelnen Gruppen wird darüber hinaus ein hohes politisches Konfliktpotential bescheinigt. Hauptsächlich betroffen ist dabei das unmittelbare soziale Umfeld des Einzelnen: Familie, Eltern, Freunde, Partner, Kollegen und sein individuelles persönliches Befinden, wie die physische und psychische Gesundheit des Einzelnen oder finanzielle Engagements, die aus der Mitgliedschaft oder Teilnahme an Programmen, Seminaren, Trainings, Therapien etc. erwachsen.

Die Begründung von Mitgliedschaften ist niemals ein einseitiger Prozeß, sondern ein Zusammenführen eines, aus einer entsprechenden persönlichen Situation heraus resultierenden individuellen Bedürfnisses mit einem passenden Angebot.
Aus dieser Sicht kommt die Kommission zu dem Ergebnis, daß es kein einheitliches, biografisches Schema einer Mitgliedschaft gibt, sondern dies von der jeweiligen Lebensgeschichte und Lebenssituation des jeweiligen Betroffenen abhängig ist.
Die Kommission weist darauf hin, daß es, individuell verschieden, durchaus positive Aspekte eines Engagements in einer Extremgruppe geben kann. Sie zeigt aber auch auf, daß es "beträchtliche Gefahren" geben kann.
Zeitlich begrenzte Bindungen hätten nach den Erkenntnissen der Kommission gegenüber Dauerbindungen eindeutig das Übergewicht.
Aber auch zeitlich begrenzte Bindungen und Verpflichtungen können weitreichende Auswirkungen z.B. auf die psychische Gesundheit und finanzielle Situation haben. Angewandte Psychotechniken und "Therapien" können einen erheblichen Eingriff in die menschliche Psyche darstellen und entweder aufgrund der angewandten Technik selbst oder deren unsachgemäßer Anwendung für Körper und Seele schädlich sein.
Ein gesondertes Problem sehen die Mitglieder der Enquete-Kommission für die 2. Generation (Kinder und Jugendliche) in den Gruppen. Defizite werden klar aufgezeigt.
Der Bericht bekennt sich klar zu den Verpflichtungen aus Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes, aus dem sich staatliche Neutralität gegenüber religiösen Entscheidungen und Bekenntnissen des Einzelnen ergibt. Er macht aber auch deutlich, daß bei Verstößen gegen grundlegende Bürgerrechte staatliches Handeln notwendig und gerechtfertigt ist. Insbesondere betont er die Notwendigkeit präventiver Aufklärung über mögliche Gefahren.
Allerdings wird Konfliktstoff zum einen nur bei einem Teil neureligiöser Gruppen geortet. Zum anderen müßten Weiterentwicklungen auch in Form von "Besserungen" in die Beurteilung mit einbezogen werden.
Strukturen, Aktivitäten und Ziele der untersuchten Gruppierungen seien zunächst nicht stärker konfliktgeladen als andere Religionen, Weltanschauungsgemeinschaften oder gesellschaftliche Gruppen.
Die Forderung und Erwartung in allen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften, feste Regeln für die Lebensführung und Bindung an Autorität, Tradition etc. zu beachten, berge auch in traditionellen Gemeinschaften grundsätzlich schon eine gewisse Brisanz in sich.

Über diese Merkmale hinaus könnten jedoch die folgenden Kennzeichen konfliktverschärfend wirken: (4)
° Konflikte mit der gesellschaftlichen Ordnung, wenn Veränderungen angestrebt werden, die mit dem demokratischen Rechtsstaat unvereinbar sind.
° Konflikte mit bestehenden Gesetzen, z.B. durch Nichtbeachten des bestehenden Arbeits- und Sozialversicherungsrechtes.
° Totalitäre Machtverhältnisse der Gruppenstruktur mit Beschränkung oder Beseitigung verfassungsmäßiger Rechte der Mitglieder.
° Ideologien und ihre Inhalte, die u.a. auf eine Entwertung vorhandener Erfahrungen, Realitätsverlust, einen Ausschließlichkeitsanspruch der Lehre und/oder eine gruppenspezifische Moral hinzielen, die Moralverstöße gegenüber Außenstehenden rechtfertigt.
° Benutzen religiöser Aktivitäten als Vorwand zur Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Absichten.
° Elitebewußtsein mit scharfen Abgrenzungen zu Andersdenkenden und Außenstehenden.
° Erschwernis des Austritts durch Angst vor sozialer Isolation und Schaffen wirtschaftlicher Abhängigkeit
° Besonders für Kinder bestehen Probleme, da sie in die Gruppen hineingeboren werden, und die Mitgliedschaft somit kein Prozeß freier Willensentscheidung ist.

Das Auftreten der Gruppen sei auch ein Zeichen von Wertewandel und Veränderungen in unserer Gesellschaft. Sie seien eine Folge beschleunigter Veränderungen und damit einhergehender Orientierungsprobleme. Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, in Konfliktfällen die politische Auseinandersetzung zu führen und Hilfestellung zu geben.
Zwar stellten zum gegenwärtigen Zeitpunkt diese Gruppen keine Gefahr für den Staat und die Gesellschaft dar. Aktivitäten einiger radikaler Organisationen lassen aber Vorsicht und ggf. staatliche Vorkehrungen ratsam erscheinen. Besonders genannt werden hier:
° Angebote des Psycho- und Lebenshilfemarktes
° Seminarangebote in den Bereichen Persönlichkeitsentwicklung und Managementberatung
° Schneeballsysteme und Multi-Level Marketing-Firmen

Ganz klar wird aus dem Bericht deutlich, daß die Scientology Organisation eine besondere Rolle im negativen Sinne einnimmt. Sie ist nach Auffassung der Kommission keine religiöse Organisation.
Die Stellungnahmen der Enquete-Kommission zeigen, daß man differenziert und ohne Pauschalisierungen die einzelnen Facetten des Phänomens beleuchtet hat, und daraus zu differenzierten Beurteilungen kommt.
Für die Aufklärungs- und Beratungsarbeit bestätigen die Bewertungen des Berichtes einerseits vorhandene Erkenntnisse, andererseits zeigt der Bericht aber auch neue Aspekte bzw. differenziertere Sichtweisen zum Verständnis einzelner Prozesse auf. Die besondere Aufmerksamkeit, die der Bericht bestimmten Angeboten des Psycho- und Lebenshilfemarktes schenkt, decken sich mit den Inhalten vieler Anfragen bei Betroffeneninitiativen und Beratungsstellen in der letzten Zeit, wo Themen und Probleme des "Psychomarktes" immer mehr Raum einnehmen.

Handlungsempfehlungen
Verfassungsrechtliche Normen
Hier sieht die Kommission in ihrer Mehrheit keine Veranlassung, den Art. 4 des Grundgesetzes sowie die Bestimmungen des Art.140 GG i. V. m. 137 (5) WRV zu ändern. Dies heißt konkret, keine Änderung in Bezug auf die Religionsfreiheit und die Körperschaftsrechte.

Neu zu schaffende Rechtsvorschriften
Gesetzliche Regelung der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe
Hier liegt bereits ein Gesetzentwurf des Bundesrates, der auf Initiative der Bundesländer Bayern und Hamburg eingebracht wurde, dem Bundestag vor. Er wurde in der vergangenen Legislaturperiode nicht mehr verabschiedet und muß neu in die Diskussion gebracht werden.
Aus Sicht der Beratungs- und Betroffenenarbeit ist eine klare Gesetzesregelung nur zu begrüßen. Sinnvoll wäre es aber darüber hinaus, wenn als Qualitätsnachweis für seriöse Anbieter und Fachverbände ein Zertifizierungsverfahren stattfinden würde. Zertifizierung und Qualitätsmanagement haben bereits in zahlreichen Wirtschaftszweigen Einzug gehalten und sich bewährt. Dies hätte folgende Vorteile:
° Offenlegen von Methoden
° Festlegen klarer Qualitätsstandards
° Leichtere Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen seriösen und nicht seriösen Anbietern

Einrichten einer Stiftung
Eine Stiftung in diesem Problemfeld hätte u.a. die folgenden Aufgaben:
° Forschung entweder direkt oder durch Vergabe von Aufträgen
° Systematische Erfassung bestehenden Materials und Publikation für die Allgemeinheit
° Aufklärungsarbeit durch eigene Publikationen oder Anregungen für Veröffentlichungen
° Fort- und Weiterbildung
° Nationaler und internationaler Austausch durch Fachkongresse
° Beratung für Einzelpersonen und private Beratungsstellen

Die Idee, mittels einer durch ihre Rechtsform unabhängigen Institution Forschung, Information, Aufklärung und Beratung voranzutreiben, ist zu begrüßen.
Allerdings ist ein gewisser Widerspruch oder eine Doppelung insofern zu sehen, als auch dem Bundesverwaltungsamt mittels gesetzlicher Regelungen Befugnisse in den Bereichen Sammlung und Auswertung, Aufklärung und Information übertragen werden sollen.

Gesetzliche Regelung zur staatlichen Förderung privater Beratungs- und Informationsstellen
Im Gegensatz zur Bundesregierung sieht die Kommission durchaus die Möglichkeit, mittels gesetzlicher Regelungen private Beratungsstellen zu fördern. Es geht dabei um sachliche, die grundrechtliche Bekenntnisfreiheit schützende, das staatliche Neutralitätsgebot berücksichtigende Aufklärungsarbeit und Einzelfallberatung.
Ein früheres Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes gegen die damalige Förderung der Aktion für Geistige und Psychische Freiheit (AGPF), den Zusammenschluß einiger Initiativen, wird hier von der Enquetekommission richtigerweise dahingehend interpretiert, daß Förderung durchaus möglich ist und die Bundesrichter damals das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage moniert haben.
Wenn es jetzt nicht zu einer Förderung kommt, bestünde eher Verständnis dafür, wenn man offen zugäbe, daß eine Förderung derzeit aufgrund knapper Haushaltsmittel nicht möglich ist. Zu befürchten ist aber, daß man sich auf Probleme der Ressortabstimmung und verfassungsrechtliche Bedenken, die nicht einmal die Richter des Bundesverwaltungsgerichtes gesehen haben, zurückzieht.

Einführung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit für juristische Personen
und Personenvereinigungen
Mit diesen Vorschlägen begibt man sich auf juristisches Neuland, da unsere Rechtslage bisher nur Individualverschulden und dessen Ahndung kennt.
Eine Gruppe wie Scientology konnte sich deshalb bei Straftaten von Mitgliedern immer darauf zurückziehen, hier hätte es sich um eine Verfehlung eines Einzelnen gehandelt, die Organisation selbst sei davon nicht betroffen.
Als Beispiel mögen hier die Bespitzelungsaktion der Scientologen gegen Pfarrer Friedrich Wilhelm Haack und Staatsminister a.D. Dr. Peter Gauweiler oder die jüngsten Ermittlungen der Münchner Staatsanwaltschaft wegen Verstoßes gegen das Heilpraktikergesetz und im Zusammenhang mit einem Todesfall dienen. (Vgl. Dokumentation im BERLINER DIALOG 4-98 zum Todesfall Aigner).
Sollte hier eine Änderung gelingen, hätte dies für die Gruppen weitreichende Folgen. Sie könnten nicht mehr einzelne Mitglieder zu Gesetzesverstößen anstiften und sich selbst zurückziehen und die Betroffenen dann "im Regen stehen lassen". Vielmehr würde ihr Verhalten selbst geahndet.
Künftig könnte dann im Gegensatz zu bisher auch festgestellt werden, inwieweit die Gruppen mit Straftaten in Verbindung zu bringen sind.

Weitere angeregte Neuregelungen:
u.a. im Bereich Pyramidenspiele (Schaffung eines eigenen Straftatbestandes) und Einbeziehen von Strukurvertrieben in die einschlägige Gesetzgebung für Finanzidienstleistungs- und Versicherungsvermittler.

Ergänzungen, Anwendungen, Erweiterungen bisherigen Rechts
Als weitere Handlungsempfehlungen werden auch Ergänzungen und Erweiterungen bestehender Rechtsnormen angeregt. Hier sind insbesondere folgende Vorschläge von besonderer Bedeutung:
° Klare Definition der Heilkunde im Heilpraktikergesetz. Insbesondere soll es bei der Frage, ob eine Tätigkeit als Ausübung der Heilkunde anzusehen ist, ausreichen, daß bei den Betroffenen der Eindruck erweckt werde, die Tätigkeit ziele auf eine Beseitigung oder Linderung vorhandener Beschwerden ab.
° Ferner regt die Kommission die Aufnahme eines Straftatbestandes des "Heilschwindels" als Betrugstatbestand an. Damit sollen Fälle erfaßt werden, in denen über die Wirksamkeit von Heilmethoden getäuscht wird.

Zu begrüßen ist auch die Forderung nach einheitlichen Zulassungsvoraussetzung für die Ausübung der Heilkunde.
° Im Kindschaftsrecht wird grundsätzlich keine Notwendigkeit für zusätzliche Rechtsvorschriften gesehen. Allerdings weist der Bericht auf "Anwendungsdefizite" hin. Deutlich wird im Bericht auch auf Forschungsdefizite im Bereich der Situation von Kindern und Jugendlichen aufmerksam gemacht. Ferner fordert die Kommission auf europäischer Ebene eine Vereinheitlichung des Kindschaftsrechts insbesondere im Hinblick auf das Sorgerecht.
° Die Beobachtung der Scientology Organistion durch den Verfassungsschutz wird begrüßt und eine Fortsetzung der entsprechenden Maßnahmen gefordert.

Ein breiter Raum wird der Frage der Forschungsförderung eingeräumt. Immer wieder weist der Endbericht auf erhebliche Erkenntnisdefizite und die Notwendigkeit weiterer Forschungsarbeiten hin. Deshalb wird das Initiieren eines Forschungsverbundes bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu den Themen neue religiöse und ideologische Gemeinschaften, Psychogruppen, neuzeitliche Esoterik und freie Spiritualität empfohlen. Insgesamt werden 16 Forschungsfelder benannt. Die sind u.a.
° Konzepte für Aufklärung, Prävention und Rehabilitation
° Klärung juristischer Fragen aus der Praxis
° Phänomene des rituellen Mißbrauchs
° Gefährdungspotentiale durch psychologisch wirksame Methoden, unprofessionelle Anwendung und persönliche Prädisposition
° Verbreitung unseriöser Angebote im Bereich Persönlichkeitsentwiclung
° Situation von Kindern und Jugendlichen und insbesondere deren Erziehungs- und Lebenssituation
° Haftungsfragen bei der Anwendung psychologisch wirksamer Methoden
° Biografische und lebensthematische Hintergründe

Defizite und Problempunkte
Drei Bereiche sind im Bericht der Enquete-Kommission nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt.

Inhalte
Dies ist zum einen die Auseinandersetzung mit inhaltlichen Positionen der Gruppen. Dies wäre aus folgenden Gründen jedoch notwendig gewesen:
1. Lehre und Praktiken bedingen einander und können nicht voneinander losgelöst gesehen werden. Auch dem zur weltanschaulichen/religiösen Neutralität verpflichteten Staat kann es nicht verwehrt sein, sich mit den Inhalten und Ideologien auseinanderzusetzen und Widersprüche zum Menschenund Gesellschaftsbild unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung darzustellen.
2. Viele Gruppen haben einen gesellschaftverändernden - diesseitsbezogenen politischen Anspruch, mit dem sie sich auch dem Meinungsstreit und der Bewertung stellen müssen. Die dabei dem Staat auferlegten engeren Grenzen sind zu berücksichtigen, hindern ihn aber nicht an der klaren und pointierten Darstellung seiner Positionen. Dies gilt insbesondere, wenn die Gruppen ein totalitäres Ideengut und Gesellschaftsbild vertreten.
Der Kommission ist allerdings zugute zu halten, daß hier der Einsetzungsbeschluß keinen entsprechend klaren Auftrag erteilt hat, der es ihr ermöglicht hatte, Lehrinhalte und Ideologien einzelner Gruppen genauer zu durchleuchten.

Soziale Absicherung
Ein Defizit ist auch in der Frage der sozialen Absicherung von Anhängern zu sehen, die überwiegend oder ausschließlich für eine Gruppe tätig sind, wenn für sie nicht gleichzeitig eine entsprechende soziale Absicherung erfolgt. Das Ergebnis der entsprechenden Anhörung, bei der von zuständiger Stelle im Ergebnis darauf hingewiesen wurde, diese Individualansprüche seien von den Betroffenen selbst durchzusetzen, eine Überwachung oder Sanktion der Einhaltung arbeitsvertraglicher oder tarifvertraglicher Ansprüche sehe das deutsche Arbeitsrecht nicht vor, ist unbefriedigend. Hier wären eine klare Bewertung und Handlungsempfehlungen der Kommission dringend notwendig gewesen. Die um so mehr, als gerade mangelnde soziale Absicherung für die Betroffenen ein großes Problem darstellt.

Rechtsextremismus
Ein weiterer Bereich ist der religiös-weltanschaulich verbrämte Rechtsextremismus, wie er in vielen neuheidnischen, deutschgläubigen "Blut und Boden Mythen" oder auch Rassereligionen anzutreffen ist.
Dort wird eine völkisch-rassistische Ideologie mit Überhöhung der arisch-germanisch-nordischen Rasse vertreten. Gemischtrassige Beziehungen lehnt man mit teils menschenverachtender Begründung (nicht arische Rassen seien aus einer Kreuzung zwischen Gott-Menschen und Tieren entstanden) strikt ab. Es gibt starke antisemitische Tendenzen mit der Theorie einer "jüdisch-freimaurerischen Verschwörung". Das Christentum wird als "Religion für Gemischtrassige", und "Propagandalehre für die Judenherrschaft" diffamiert. Teilweise kommt es zu einer Vermischung mit der fernöstlichen Ideologie des Glaubens an die Wiedergeburt. Es gibt darüber hinaus zahlreiche Kontakte und Vernetzungen in die rechtsextreme Szene.
Gerade hier wird deutlich, daß sich der wehrhafte Rechtsstaat zur Verteidigung seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung auch mit extremen religiösen und weltanschaulichen Ideologien kritisch beschäftigen und eine klare Position beziehen muß.

Bewertung des Berichtes
Zusammenfassend läßt sich folgendes feststellen:
1. Grundsätzlich ist es äußerst positiv zu werten, daß sich nunmehr eine Enquete-Kommission zwei Jahre intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt und damit die gesellschaftliche Bedeutung des Problems offenkundig gemacht hat.
2. Die Kommission kommt zu klaren Bewertungen. Sie "drückt" sich nicht vor Stellungnahmen. Der Umstand, daß aufgrund der Ergebnisse ihrer Analysen einzelne Einschätzungen revidiert werden müssen, ist als Untersuchungsergebnis zu akzeptieren.
3. Im Gegensatz zu manchen anderen Berichten staatlicher Stellen, hat die Kommission es nicht bei dem Hinweis "es liegen keine Informationen und Anhaltspunkte vor" bewenden lassen, sondern klar auf Erkenntnisdefizite hingewiesen und die Notwendigkeit umfangreicher Forschungsarbeit in einzelnen Bereichen aufgezeigt.
4. Sie hat darüber hinaus aber zahlreiche klare Handlungsempfehlungen erarbeitet und damit ebenfalls klare Positionen bezogen und brauchbare Lösungen aufgezeigt.

Ein Problem besteht darin, daß die Kommission ihre Arbeit zum Ende der 13. Legislaturperiode hin beendet hat. Es bleibt abzuwarten, inwieweit der 14. Deutsche Bundestag die Empfehlungen des Berichtes aufgreift oder die Vorschläge der Diskontinuität durch eine neue Wahlperiode zum Opfer fallen.

Gerade um dies zu vermeiden, sollten Eltern- und Betroffeneninitiativen, Selbsthilfegruppen und in der Beratung Tätige diesen Bericht als Chance und als gute Grundlage für die weitere Arbeit werten. Sie sollten mit dazu beitragen, daß die Vorschläge auch in die Praxis umgesetzt werden. Die Arbeit, die von den Mitgliedern der Kommission, Politikern und Sachverständigen gleichermaßen, geleistet wurde und die Ergebnisse des Endberichtes sind dieses Engagements wert.

Anmerkungen
1 Endbericht der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen", BT Drucksache 13/10950 Seite 24, nachfolgend immer als Endbericht mit Seitenangabe zitiert
2 siehe: Udo Schuster, "Der Psychomarkt Eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft" in Dürholt, Kroll, Schuster, "Aber Wie...?", Bericht über die Jahrestagung 1997, ARW, Graue Reihe, Band 3, München 1998
3 "Repäsentative Umfrage zur quantitativen Verbreitung und Mitgliedschaft in religiösen und Weltanschaulichen Bewegungen" von Infratest Burke, Zwischenbericht der Enquete-Kommission, BT-Drucksache 13/ 8170, Seite 33 ff.
4 Endbericht, Seite 89 ff.

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Udo Schuster, 36, ist Prokurist bei einer großen deutschen Geschäftsbank und seit 1985 Vorstandsmitglied der Elterninitiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e. V.

Heft 4-98 erscheint zu Epiphanias

bd15.jpg - Berliner Dialog 15


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