Wahlen
Erste Schritte in die neue Richtung waren die "Ältestenschulungen", die Anfang 1998 durchgeführt wurden. Dort erfuhren die Gemeindevorstände der einzelnen Versammlungen, daß es künftig dem Gewissen des Einzelnen zu überlassen sei, ob er sich an demokratischen Wahlen beteiligt oder nicht. Allerdings sprach man etwas nebulös von sogenannten "nichtpolitischen" Wahlen. Ein Zeuge Jehovas darf sich also ab sofort zum Klassensprecher, Elternvertreter oder Betriebsrat wählen lassen. Er darf aber weiterhin nicht seinen Stimmzettel bei einer Bürgermeister-, Gemeinderats-, Landtags- oder Bundestagswahl abgeben.
Interessant dabei ist, daß diese "neue Erkenntnis" nur unter vorgehaltener Hand gilt. Das heißt, der gemeine Zeuge Jehovas weiß bisher nichts davon. Er muß aber künftig nicht mehr mit dem Ausschluß aus der Sekte rechnen, wenn er sich passiv oder aktiv an den genannten Wahlen beteiligt.
Blutfrage
Ähnlich zwielichtig ging die WachtturmGesellschaft in Sachen Bluttransfusion vor. In einer Vereinbarung mit der Bulgarischen Regierung machte sie folgende Zusage: "Jedes Mitglied hat das Recht, das [medizinische System] aus freiem Willen in Anspruch zu nehmen, und zwar ohne Kontrollen und Sanktionen..." Diese Aussage bezog sich ausdrücklich auf "die Haltung der Zeugen Jehovas zur Blutfrage". Außerdem verpflichtete man sich, sie in die offiziellen Statuten der Wachtturm-Gesellschaft aufzunehmen. Damit war eigentlich klar gesagt, daß künftig kein Zeuge Jehovas mehr einen Ausschluß befürchten mußte, wenn er sich zu einer Bluttransfusion entschloß.
Doch die Vereinbarung sollte offensichtlich geheim bleiben. Zumindest wurden die weltweit 5,4 Millionen Zeugen Jehovas bis jetzt nicht darüber informiert. Sie hätten vermutlich auch nie von dem Zugeständnis in Sachen Bluttransfusion erfahren, wenn die Nachricht nicht vom weltweiten Netzwerk ehemaliger Zeugen Jehovas verbreitet worden wäre. So jedenfalls erfuhren beispielsweise die erstaunten Sektenmitglieder in Skandinavien erst aus den Medien, welche Freiheiten man ihren Glaubensbrüdern in Bulgarien zugestanden hatte.
Bei InfoLink, dem Internet-Informationsdienst aktiver Zeugen-Jehovas-Aussteiger in Deutschland http://www.sewolf.com/infolink, konnten auch die hiesigen Zeugen Jehovas wortwörtlich nachlesen, was ihre Führer heimlich vereinbart hatten. Das Dokument war nämlich auf dem Internet-Server der Europäischen Kommission für Menschenrechte in Straßburg zu finden und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Ein Umstand, der für einiges Aufsehen sorgte. So gingen bei der Wachtturm-Zentrale in Selters zahlreiche Anfragen ein, was es denn mit dieser "neuen Erkenntnis" auf sich habe und ob es denn stimme, daß Bluttransfusionen jetzt erlaubt seien.
Die Wachtturm-Gesellschaft sah sich in die Ecke gedrängt. Auf der einen Seite ließ sich die eindeutig formulierte Bulgarien-Vereinbarung nicht mehr aus der Welt schaffen. Gleichzeitig aber traute man sich offensichtlich nicht, die seit Jahrzehnten gepredigte "Wahrheit" völlig über den Haufen zu werfen. Zu viele Zeugen Jehovas hatten schon ihr Leben gelassen, weil sie selbst in Extremsituationen eine Bluttransfusion verweigert hatten. Zu viele Eltern hatten ihre Kinder dieser "biblischen Erkenntnis" geopfert. Zu tief war die Lehre im Bewußtsein der Anhänger verwurzelt. Eine radikale Kehrtwende hätte mit Sicherheit zu einer massiven Verunsicherung unter den Zeugen geführt, denen man in letzter Zeit sowieso schon einige tiefgreifende Lehränderungen zugemutet hatte. Außerdem war zu befürchten, daß ein solcher Bruch zu einem spürbaren Schwinden der besonders in Europa ohnehin schon stagnierenden Mitgliederzahlen führen würde.
Und so ließ die Reaktion der WachtturmGesellschaft eher Hilflosigkeit denn Überzeugtheit erkennen. Im Bemühen, die Sache herunterzuspielen gab Wachtturm-Sprecher Michael Bjoerk in Schweden vor der Presse an, daß keinem Zeugen Jehovas je für eine Bluttransfusion die Gemeinschaft entzogen worden sei. An anderer Stelle hieß es, dies sei schon immer eine "persönliche Gewissensentscheidung" gewesen. In einem Schreiben des deutschen Zweigbüros war zu lesen, daß eine Bluttransfusion für einen Zeugen Jehovas nicht automatisch den Gemeinschaftsentzug mit sich bringen würde: "Ausschlaggebend sind vielmehr die Umstände und die Einstellung des Betroffenen."
Chronologie
Gerade diese "Einstellung" ist es jedoch, die schon so manchem Zeugen Jehovas den Rauswurf aus seiner Religionsgemeinschaft gekostet hat. Nicht nur in Sachen Bluttransfusion, sondern auch wenn er beispielsweise die von der Wachtturm-Gesellschaft gelehrte Chronologie angezweifelt hatte, nach der Jesus Christus exakt im Jahr 1914 seine himmlische Herrschaft angetreten hat. So ging es nämlich dem Schweden Carl Oloff Jonsson, der diese Zahlenakrobatik bereits in den 80er Jahren widerlegt hatte und kurz darauf gehen mußte.
Dabei war er nur seiner Zeit voraus. Im Wachtturm vom 15. 9. 98 findet der aufmerksame Leser nämlich einige Aussagen, die eindeutig die Abkehr von dieser Chronologie einläuten. Nachdem zuerst seitenlang darüber berichtet wurde, daß chronologische Angaben in der Bibel immer nur von zweitrangiger Bedeutung waren, steht dort nämlich zu lesen: "Unsere Überzeugung, daß wir in der Zeit des Endes leben..., beruht nicht allein auf Chronologie, sondern auf Ereignissen, die beweisen, daß sich biblische Prophezeihungen erfüllen."
Die Frage ist nur, wie es Tausende von Menschen schaffen, mit einer "Wahrheit" umzugehen, die immer genau dann von einer "neuen Erkenntnis" umgeworfen wird, wenn sich wieder einmal eine der scheinbar unumstößlichen Erkenntnisse als unhaltbar erwiesen hat.
Stephan Wolf schreibt uns: "Warum ich mich nach meinem Ausstieg weiterhin mit der Sekte beschäftige? Weil ich erkannt habe, daß es eine Informationslücke zu diesem Thema gibt. Viele Zeugen Jehovas haben eine idealisierte Vorstellung von ihrer Religionsgemeinschaft und wissen nicht, was es mit der Wachtturm-Gesellschaft wirklich auf sich hat. Viele erkennen zwar, daß etwas nicht stimmt, können ihre Zweifel aber mangels Informationen nicht genauer definieren. Mit InfoLink möchte ich möglichst sachlich über die Situation informieren und den internationalen Informationsaustausch, der unter ehemaligen Zeugen Jehovas besteht, auch für Ex-Zeugen und noch-Zeugen im deutschsprachigen Raum zugänglich machen."
Stand: 15.10.1998
Nachdruck: Weitere Veröffentlichungen nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Verfassers.
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(c) 1998 Stephan E. Wolf: Fax +49-7043-94 00 01, eMail: sewolf@csi.com
Stephan E. Wolf, 47, ist Werbefachwirt VWA und lebt als Freier Werbetexter, Fachübersetzer und Journalist in Knittlingen. Er war 20 Jahre bei den Zeugen Jehovas und stieg 1994 aus. Seither ist er in der Sektenberatung tätig, seine Spezialität sind Recherche und Information über die Zeugen Jehovas.
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