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BERLINER DIALOG 18-19, 3/4-1999 - Epiphanias 2000

DIALOG & APOLOGETIK

Apokalypse der Hoffnung
Christliches Endzeitbewußtsein - Diesmal:
Am Ende eines Jahrtausends - von Thomas Gandow

Ein Jahr nur noch - dann ist das Jahrtausend zu Ende - jedenfalls wenn man mathematisch korrekt vorgeht. Dann endet das 20. Jahrhundert und das 21. beginnt. Aber andererseits: Es sind nur noch wenige Tage vor einer runden Zahl, die für Events, aber auch Computercrashs Anlaß sein wird.

Mit 1999 geht ein Jahr zu Ende, in dem wir in Europa näher am Abgrund waren als in den Jahren des "Kalten Krieges" und des Betonwalls.

Jedenfalls: Der vermeintliche Völkerfrühling entlud sich in Krieg. Ist es vielleicht schon wieder normal und alltäglich, daß es hier und da Krieg gibt?

Es sind nicht so sehr "Eckdaten" der Jahrtausend Wende und Zahlenspekulationen, sondern eher objektive Verhältnisse, Krieg und Kriegsgeschrei, die uns das Gefühl geben, daß nichts fest und sicher, daß vielmehr alles unsicher ist.

In dieser Lage sehnen sich viele nach einer neuen Weltordnung, manche versuchen, sie herbeizuführen, wieder andere fürchten das neue Zeitalter mehr als das alte, vermeintliche Chaos.

Berliner Mauer - offen - sw

Ein Blick durch die geöffnete Berliner Mauer

Krieg gab es 1999. Krieg wurde vorausgesagt für 1999. So beschrieb Alexander Tollmann in seinem Bestseller "Das Weltenjahr geht zur Neige" über den im Sommer 1999 ausbrechenden 3. Weltkrieg, er beginne mit einem
"überraschenden Überfall der russischen Armee auf Mitteleuropa, nachdem unmittelbar vorher eine gewisse Entspannung die Hoffnung auf Frieden aufkommen ließ".
Bei Köln sollte dann die Entscheidungsschlacht stattfinden; Bayern und Österreich südlich der Donau bleiben noch verschont, aber im Oktober 1999 komme auch noch ein zerstörerischer Komet.(1)
Katastrophenvoraussagen für 1999 gingen z.B. von Überflutungen durch eine russische Atombombenexplosion nördlich der Faröer-Inseln aus(2); andere stützten sich auf eine angebliche Untergangsvoraussage des französischen Sehers Nostradamus für den 18. August 1999.(3)
Vor 10 Jahren, als eine Weltenära zu Ende ging und ein Imperium zusammenbrach, als alles wankte und sich veränderte, wurde wenigstens im Osten vieles, auch das bis dahin Undenkbare für möglich gehalten - auch wenn die erste Reaktion der einen auf die sich abzeichnenden Veränderungen die Selbstberuhigung war:
"Die Mauer steht noch Hundert Jahre!" - "Wahnsinn!" war die Reaktion der anderen, oppositionellen Seite. Sogar sie, die Opposition, empfand nicht die Versteinerung, die Mauer, die mechanische Wiederholung des Immergleichen als "unnormal”, sondern den Durchbruch. Veränderung wurde als "Wahnsinn", als "verrückt" empfunden.

Christen glauben, daß sich alles ändern kann
Christen glauben an die grundsätzliche Möglichkeit von Änderungen. Veränderung des Einzelnen, der Gemeinschaft, der Geschichte. Veränderungen zum relativ Guten, aber auch Veränderungen zum Schlechteren, ja sogar zum Bösen sind grundsätzlich möglich.
Die Apokalypse, also die "Aufdeckung", die Offenbarung des geheimen Sinns der Menschheitsgeschichte, zeigt, daß das Böse, daß die Gewalt und die Unterdrückung nicht das Letzte sind. Daß sie nicht das letzte Wort behalten.
Christen glauben auch an die Vorläufigkeit und Endlichkeit ihres Lebens, der Welt und der Zeit, denn der
"Glaube, es ginge 'immer weiter' und ein Ende wäre nicht in Sicht, jedenfalls für uns nicht, gehört zu den Märchen der 'modernen Welt', den Märchen von ihrer Endlosigkeit und Alternativlosigkeit"
schrieb Jürgen Moltmann.(4)
Vor allem aber glauben Christen, selbst in der schlimmsten Gegenwart, daß das Gute, daß Heil und Rettung nicht hergestellt werden können oder müssen, sondern grundsätzlich, wenn auch außerhalb unserer Möglichkeiten vorhanden sind. Das hat seinen Ursprung bei Jesus und seiner Auferstehung.
Christen singen zu Ostern: "Wär' er nicht erstanden, / so wär' die Welt vergangen." (!)
Eine paradoxe Endzeitlehre: Demnach ist das "Vorletzte", die Welt mit all ihren Schrecklichkeiten, schon verschlungen in den Sieg des "Letzten", völlig Neuen und unvorstellbar Anderen. Der Auferstandene ist der Erste einer neuen Schöpfung. Damit verliert für Christen der Tod und selbst das Ende der Welt und der Zeit seine Schrecken.
Zugleich ist für den Glaubenden Christus der Erlöser und Ermöglicher des Vorläufigen. Darum singen wir: "Wär' er nicht auferstanden, / so wär' die Welt vergangen."
Wendezeit war also schon.
Die jetzige Zeit ist für Christen von der Auferstehung her geprägt und bestimmt.

Wer kann das glauben?
"Unsere Erlösung aber ist in Gott verborgen" (Kolosser 3,3), also unsichtbar. Hier setzen schon und gerade in "normalen" Zeiten Kritiker an. Nietzsche bemängelte, daß diese Erlösung so sehr verborgen sei, daß man nicht einmal den Erlösten ihre Erlösung ansehe.
In einer jüdischen Geschichte heißt es, Schüler brachten einem Rabbi die Nachricht, der Messias sei gekommen. Der Rabbi habe sich von seinen Büchern erhoben, sei zum Fenster gegangen, habe aus dem Fenster auf die Straße geschaut und sei wieder zurückgekommen und habe sich wieder zu seinen Büchern gesetzt. Auf die Frage seiner aufgeregten Schüler "Was sollen wir jetzt tun" habe er geantwortet "Nichts tun, weiter studieren. Wie kann der Messias gekommen sein, wenn sich nichts in der Welt verändert hat?"
Eine moderne Kult-Bewegung mit messianischem Anspruch, die Mun-Bewegung, bezweifelte immerhin nicht eine gewisse geistige Erlösung durch Jesus Christus, fragt aber zur Begründung ihres weitergehenden Anspruchs: "Fühlst Du Dich etwa erlöst? Meinst Du nicht auch, daß es eine körperliche, physische Erlösung geben muß?"

Apokalypse: Der Blick in die Wirklichkeit Gottes
Wie sollen Christen gegenüber solchen Argumenten, ja vor allem angesichts kraß ihrer Erlösung widersprechender Umstände an ihrem Glauben festhalten? Aus dem sauber tapezierten und gut beheizten Gemeindesaal oder aus der theologischen Fakultät, wo man Religion als leichte, blähungsfreie Kost an die geschmäcklerischen unter ihren Verächtern zu vermarkten sucht, argumentiert es sich möglicherweise leichter und schlüssiger gegen solche grundsätzliche Infragestellung. Vielleicht.
Was aber sollen die verfolgten Christen im Sudan sagen? In Indonesien? In Indien? Oder was sagten die verfolgten Christen in der Nazi-Zeit? Im Gulag? In Korea unter japanischer Besetzung? Im Römischen Reich im Zeitalter der Christenverfolgung? Wie können sie noch die Welt verstehen und an ihrem Glauben festhalten, daß das Böse und der Tod nicht das letzte Wort haben? In solchen Zeiten entstehen andere Lieder:
"Spricht der Tor: 'Wo ist dein Gott?' / der dir täglich Hohn und Spott / ersinnt und dichtet; / halt fröhlich stand:... Hab gute Zeit, / steh, Christenheit, / lache, wo sie dräuen. / Dein Gewinn heißt Ewigkeit,/ der soll dich nicht gereuen"
dichtete Rudolf Alexander Schröder.(5)

Wenn alles in Scherben fällt
Die Apokalypse, also die Aufdeckung, die Offenbarung des geheimen Sinns der Menschheitsgeschichte, will zeigen, daß das Böse, daß die Gewalt und die Unterdrückung nicht das Letzte sind. Daß sie nicht das letzte Wort behalten.
Denn für den Glaubenden steht das Urteil über die Tyrannen schon fest:
"... Ob er tausend Schwerter zählt, / sie schlagen all ins Leere. / Ruhm und Reichtum, Kunst und Pracht, / großes Wissen, kühne Macht / sind Traum und Schatte: / Zerschellt wie Glas, / gefällt wie Gras, / bevor es Samen hatte.
Was Hochmut spricht, / das dauert nicht."
(6)
enthüllte R.A. Schröder schon 1937. Nicht die Bestie, nicht die Tiere in Menschengestalt, nicht die Mörder und Schlächter haben das letzte Wort, sondern das Lamm, der Menschensohn.
Apokalypse, Enthüllung, ist also nicht schreckliche Zukunftsschau, sondern Beschreibung schrecklicher Gegenwart. Aber sie läßt hinter aller schrecklichen Gegenwart doch schon den Sieg der Wahrheit aufleuchten. So wird sie zu einer Hilfe der Hoffnung.

Haben wir nicht selbst in Kirchenkampf und noch in der DDR-Zeit gesungen:
"Es mag sein, daß alles fällt./ Daß die Burgen dieser Welt / um dich her in Trümmer brechen. / Halte du den Glauben fest, / daß dich Gott nicht fallen läßt. / Er hält sein Versprechen." (7)

Enthüllung als Fahrplan
Die Bilder der (jüdischen und) christlichen Enthüllungen (Apokalypsen), die die verborgene Wirklichkeit "hinter" der schrecklichen Gegenwart und damit den außer ihr liegenden, verborgenen Sinn der Geschichte aufdecken wollen im Lichte des Glaubens sind oft massiv als Programme des geschichtlichen Ablaufs, als Fahrpläne drohenden Schreckens mißverstanden und fehlinterpretiert worden.
Der als gegenwärtig geschilderte, offensichtliche Schrecken wurde in die Zukunft projiziert. Das Enthüllte aber, der hinter der Geschichte liegende, der Erfahrung widersprechende Sieg des Lammes über die Bestie wurde in die Geschichte integriert; so konnte das Millennium(8) dann sogar als die eigene Zeit oder die in Kürze anbrechende, konkrete Zukunft verstanden werden.
Die Datierung des Dionysios Exiguus, der die Zählung der Jahre "unter der Herrschaft des Herrn Christus" einführte, sollte sicherlich nicht einer solchen Vergeschichtlichung des Reiches Gottes oder des Millenniums dienen. (9)

Runde Zahlen und Millennium
Jedoch hat es solche platten Deutungen der Zeitzählung immer wieder gegeben. Aus einem Mißverständnis heraus ist es zu einer Identifikation der runden Kalenderzahlen mit dem "Millennium" gekommen. Dies Mißverständnis, von der Filmindustrie anschaulich in Szene gesetzt, ist ausschlaggebend für die heutige Jahrtausendwende-Faszination geworden.
Eine vergleichbare "mediale" Beschäftigung mit dem Jahrtausendwechsel hat es "beim vorigen Mal" wohl nicht gegeben(10). Möglicherweise aber hat die erste Jahrtausendwende unserer Zeitrechnung doch fürchterliche und auch sehr hoffnungsvolle, zukunftsweisende Impulse freigesetzt.(11)
Unabhängig davon, ob die vorige Jahrtausendwende ein Ereignis war oder nicht, scheint es mir angesichts des derzeitigen Jahrtausendwechsels und all der Medienereignisse und Bücher12 eine naive und phantasielose Vorstellung zu sein, anzunehmen, daß eine derartig intensive Beschäftigung mit dem Jahrtausendwechsel und damit im Zusammenhang mit dem Thema "Endzeit" nicht auch ein Rücklaufphänomen in der Wirklichkeit erzeugt.

Adventisten
Die jetzt weithin als "Freikirche" auftretende und akzeptierte "Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten (STA) lehnt heute "Endzeitspekulationen" ab, hält aber dennoch - oder gerade deswegen - an der "Heiligtumslehre" mit dem 22.10.1844 als Beginn der Endzeit fest. In einer offiziellen Erklärung von 1995 werden
"sämtliche Berechnungen und Spekulationen über die Wiederkunft Christi"
zurückgewiesen.(13) Damit wollte die Gemeinschaft der Adventisten klarstellen, daß sie
"nicht Daten für das Weltende festlege, noch seit ihrer Gründung im Jahre 1863 so etwas jemals getan hätte."
(14)

Diese "Klarstellung" bedeutete jedoch im Klartext auch, daß weiter an der konkreten Datierung der Vorläufer der Adventisten, der Milleriten, festgehalten wird, die die Wiederkunft für 1844 bzw. den 22.10.1844 erwarteten. Die an diesem Datum nicht eingelöste Endgerichtserwartung wurde nämlich durch Reinterpretation zur sogenannten "Heiligtumslehre" umgeformt, das Datum beibehalten: Die STA lehren nämlich bis heute in Aufnahme dieses ursprünglich erwarteten, unbiblischen Termins, Jesus Christus habe am 22.10.1844 das himmlische Heiligtum betreten, um dort das Untersuchungsgericht durch Studium der mit "peinlicher Genauigkeit" geführten "himmlischen Bücher" zu beginnen. Die Wiederkunft Christi hat sich also nach dieser Lehre nur verzögert bis zum Abschluß des evaluierenden Aktenstudiums.

Jehovas Zeugen
Schon mehrfach sind auch Jehovas Zeugen mit Endzeitprophezeiungen hervorgetreten.
"Jehovas Zeugen sind keineswegs ,Propheten der Angst-, die ihren Mitmenschen mit dem Weltuntergang drohen"
heißt es in einer neueren, weitverbreiteten Selbstdarstellungs-Broschüre der Wachtturm-Organisation.(15) Im selben Artikel aber heißt es wenig später:
"Ist es nicht ein herzerfreuender Gedanke, daß bald die Zeit kommt, in der es nur gute Menschen auf der Erde gibt?" (16)

Wie dieser Zustand herbeigeführt werden soll, und was aus den "anderen" Menschen werden soll, wird in der für weite Verbreitung bestimmten Broschüre nicht erwähnt, ist aber ständige, feste Lehre. "Harmagedon" (17) heißt nämlich die letzte Abrechnungsschlacht bei Jehovas Zeugen. Die Wachtturm-Gesellschaft lehrt, daß "Jehova Gott" "in Kürze", am Ende der von der Wachtturm-Gesellschaft errechneten 6000 Jahre Menschheitsgeschichte in einer letzten Vernichtungsschlacht alles Böse der Welt - und alle Menschen, die nicht zur Organisation der Zeugen Jehovas gehören, vernichten wird. Dann werden nur noch "gute" Menschen auf der gereinigten Erde leben. Die 144.000 ersten Zeugen Jehovas aber werden mit Christus vom Himmel aus die Erde regieren.
Schon für 1874 wurden von Vorläufergruppen der Wachtturmgesellschaft die Wiederkunft Christi und das Endgericht erwartet; weitere "Berechnungen" führten zum Jahre 1914. Viele spätere Daten folgten, darunter auch das Jahr 1925. Ab 1966 wurde verkündet, daß 1975 das Ende der Menschheitsgeschichte erreicht sei. Derzeit wird kein konkretes End-Datum angegeben. Hingewiesen wird aber auf die verrinnende Zeit, die sichtbar wird an den wenigen, etwa noch 7000 lebenden Mitgliedern des "gesalbten Überrestes” der "Generation von 1914". Lange stand im Impressum jeder "Erwachet"-Zeitschrift
"Vor allem aber stärkt diese Zeitschrift das Vertrauen zum Schöpfer, der verheißen hat, noch zu Lebzeiten der Generation, die die Ereignisse des Jahres 1914 erlebt hat, eine neue Welt zu schaffen, in der Frieden und Sicherheit herrschen werden."

Dann wurde diese konkrete Datierung fallen gelassen.
"Jehovas Zeugen erwarten sehnlich die Offenbarung Jesu, die die Beseitigung des Bösen mit sich bringen und bessere Zustände auf der Erde nach sich ziehen wird. In Verbindung damit wurde manchmal auf Daten hingewiesen, die sich später als unkorrekt herausstellten. Das macht die Zeugen aber nicht zu falschen Propheten, denn sie haben sich nie angemaßt, unfehlbare Voraussagen ,im Namen Jehovas - zu machen (5. Mose 18:20-22)"
bescheinigt sich die Organisation in der zitierten Broschüre.Heute wird, ohne konkretes Datum im Wachtturm, der Zeitschrift der Wachtturm-Organisation, von einem unmittelbar bevorstehenden Angriff auf die "falsche Religion", die Kirchen und anderen Religionen gesprochen. Ausgeführt wird dieser Angriff durch das mit den "Vereinten Nationen" identifizierte "Scharlachfarbene, wilde Tier" aus Offb.17. Es werde auch den Beginn der großen Trübsal oder Drangsal einleiten dadurch, daß es
"in naher Zukunft auf einzigartige Weise 'an heiliger Stätte' Stellung beziehen" wird(18) ; [dann wird] "'das abscheuliche Ding' auf bedrohliche Weise an der sogenannten heiligen Stätte der Christenheit stehen." (19)

Katastrophen-Boten
Aus einer - mehr oder weniger zutreffenden, mehr oder weniger von der Umwelt geteilten - Analyse des Zustandes der Welt leiten manche Gruppen auch, weitgehend unabhängig von biblischen Stoffen, eine unabänderlich kommende Katastrophe ab. Sittlicher Verfall, ökologische Desaster, ökonomische Zusammenbrüche oder Kriege, mit anderen Worten, der Zerbruch aller individueller und sozialer Gewißheiten können Anknüpfungspunkt solcher Erwartungen sein. Die Gruppen selbst aber bieten ein durchrettendes Rezept an, Mittel und Methoden, wie es der Welt, wenn sie denn folgen würde, aber mit Sicherheit den Mitgliedern der Gruppe gelingen kann, die Katastrophe zu überstehen. Dabei geht es nicht um einen Aufruf zu ethischem Verhalten (vgl.Jeremia7,5-7), sondern um den mehr oder weniger technischen Rettungshinweis, nach dem die Mitgliedschaft in der Gruppe und die Befolgung ihrer Richtlinien die Durchrettung garantiert.
Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, daß diese Vorstellung den Einzelnen nicht nur von der Verantwortung in der Katastrophe entbindet, sondern überhaupt von der Verantwortung für das eigene Schicksal.
Wichtiger aber scheint zu sein, daß der Einsatz in der Gruppe dem einzelnen Leben Sinn verleiht. Der Einsatz in der Gruppe und für die Gruppe und ihre Ziele gibt dem Einzelnen, was die Gesellschaft nicht mehr gibt, sondern dem Einzelnen übertragen hat: Sinn und Zweck seines Lebens zu konstituieren. Mit dem Leben in der Gruppe und für ihre Führer gewinnt der Einzelne wieder den archimedischen Punkt, von dem aus er nicht nur die Welt anschauen und interpretieren, sondern sie notfalls auch aus den Angeln heben kann.

Concerned Christians
Im November 1998 wurde eine neue christliche Sekte, die sich "Concerned Christians" nennt, bekannt. Sitz der Gruppe war ursprünglich Denver/Colorado. Gründer und Führer ist der heute 45jährigen Monte King Miller, ehemaliger Marketing-Manager bei "Procter & Gamble".(20) Anfang der achtziger Jahre trat Miller als evangelikaler New-Age-Experte auf. Die damalige evangelikale Einschätzung der New-Age-Bewegung sieht diese in endzeitlichem Zusammenhang: Die New-Age-Bewegung bereite dem Anti-Christ den Weg, ihr Auftreten sei ein Zeichen des Endes. Miller bleibt auf diesen Zusammenhang fixiert, auch als die New-Age-Bewegung Ende der achtziger Jahre in den USA immer mehr an Kraft verliert. 1985 gründet Miller seine eigene Organisation "Concerned Christians". Nun sind auch die Römisch-katholische Kirche und die charismatische Wort-des-Glaubens-Bewegung Gegenstand seiner Sorge und Kritik, seit 1988/89 auch Pfingstler und Baptisten, schließlich alle Kirchen und Gemeinden - außer der eigenen Organisation.
Miller fing an, Neuoffenbarungen zu channeln. Gott selbst spreche durch ihn. Der Gott Millers redete durch Miller über Miller und seine bedeutsame Rolle: Wer ihm jetzt folge, könne gerettet werden. Miller werde sogar beim Jüngsten Gericht bei der Vergebung der Sünden mitwirken.
Schließlich wurde auch klar, daß Miller schon in der Bibel vorkommt: Er sei einer der beiden Zeugen aus dem 11. Kapitel der Offbarung, die Macht haben, den Himmel zu verschließen und die Wasser in Blut zu wandeln. Als einer von ihnen solle Miller auf der Straße getötet werden "in der großen Stadt, wo auch ihr Herr gekreuzigt ist", solle drei Tage tot dort liegen, dann aber auferstehen.
Im Herbst 1998 verschwanden 15 Mitglieder mit Miller aus Denver nach Israel. Dort wollten sie bis zum 31. Dezember 1999 das Ende der Welt erwarten. Anscheinend hatte Miller sich vorgestellt, von der israelischen Polizei erschossen zu werden. Bei ihrer Verhaftung in einem Vorort von Jerusalem gaben Miller und seine Gruppe an: wenn sie von Polizeibeamten erschossen worden wären, hätte das ihren "direkten Aufstieg in den Himmel" (21) bedeutet. Die israelischen Behörden befürchteten, Miller könne seinen Tod in Jerusalem u.U. durch Gewaltakte provozieren.Darum wurde er am 3. Januar 1999 zusammen mit 14 seiner Anhänger des Landes verwiesen. Anscheinend plante die Gruppe auch Anschläge auf heilige Stätten, um die Rückkehr des Messias zu beschleunigen.

Tempel und Endzeit
Nach Anschauung verschiedener fundamentalistischer Gruppen ist eine zeitliche Voraussetzung der "Großen Trübsal" (22), die der Wiederkunft des Messias vorausgeht, die Schändung des Tempels in Jerusalem durch den "Greuel der Verwüstung" (23).

Die Schändung des Tempels aber setzt seine (Wieder-) Errichtung voraus. So kommt es, aus sehr unterschiedlichen Motivationen, zu einer Zusammenarbeit von extremen, charismatischen und fundamentalistischen Christen und ultra-orthodoxen Juden bei Anstrengungen zur Wiedererrichtung des Tempels. An der Stelle des im Jahre 70 zerstörten Tempels stehen heute Al Aksa-Moschee und "Felsendom”, die drittwichtigsten muslimischen Heiligtümer nach Mekka und Medina. Schon vor dreißig Jahren hatte ein militanter australischer christlicher Fundamentalist in der Al Aksa-Moschee einen Brand gelegt und damit schwere Unruhen ausgelöst. Amnon Ramon, ein israelischer Sektenexperte, meinte daher auch über die Gruppe Monte Kim Millers:
"Diese Fanatiker sind bereit, jüdischen Extremisten dabei zu helfen, die Moscheen auf dem Tempelberg zu zerstören" (24)

Die Behörden in Israel erwarten für das Jahr 2000 mehr als vier Millionen Pilger. Das Innenministerium hat eine 400köpfige Sondereinheit der Polizei gebildet, die radikale Sekten und religiöse Fanatiker identifizieren will. Für zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen auf dem Tempelberg wurden umgerechnet 20 Millionen Mark bereitgestellt.

Zeichen der Zeit
Für das Aufkommen von Endzeithoffnungen und -ängsten waren stets die Bewegungen wichtiger, die aus den Zeichen der Zeit (25), so wie sie sie sahen, den unmittelbar bevorstehenden Anbruch des Reiches Gottes ableiteten, ganz unabhängig von Jahreszahlen und chronologischen Zeitalterspekulationen (26).
Denn die meisten Berechnungen und Daten wurden nachträglich und zusätzlich, nicht zur Begründung, sondern zur Rechtfertigung des End- und Wendezeitgefühls angestellt.
Der je neu erlebte Zeitenbruch durch rapide soziale, kulturelle, politische oder technische Veränderungen, und die gefundene Übereinstimmung mit der zur Interpretation des eigenen Erlebens verwandte Botschaft, daß die Geschichte einen verborgenen Sinn habe, der sich gerade in ihrer scheinbaren Sinnlosigkeit anfange zu enthüllen, - sie sind es, die christliche Endzeitbewegungen bislang ausmachten.
Deshalb waren, schon bei den adventistischen Bewegungen, auch bei Jehovas Zeugen und bei Neuapostolischen ebenso wie bei anderen Endzeitpropheten bisher die - meist krummen - Zahlen, die auf die jeweilige, sehr konkrete Gegenwart deuteten, nur Landmarken, an denen sich Endzeitbewußtsein, Endzeitsehnsüchte und Endzeitängste konkretisierten, die aus anderen, tieferen Quellen flossen. Deshalb konnten die Zahlen und Daten auch bislang immer relativ schnell fallengelassen oder relativiert werden.

So, wie es ist, so wird es nicht bleiben
In einem stimmen die Lehren der Kirche mit der Lehre der Endzeitler überein: So, wie es ist, so wird es nicht bleiben. Die klassischen Lehren der Kirche über die Endzeit und über die Zukunft, die Gott schafft, sind aber zugleich radikaler und bescheidener als die detaillierten Endzeitfahrpläne und die kleinkarierten, aber breitausgewalzten Paradies-Phantasien der Endzeit-Sektierer.
Die Kirche erwartet einen neuen Himmel und eine neu Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt. Es ist schwer, darüber außer in gewagten Bildern etwas zu sagen. Selbst der Dichter muß aus Glauben klein beigeben:
"Kein Zung kann je erreichen / die ewig Schönheit groß; man kann's mit nichts vergleichen, die Wort sind viel zu bloß. / Drum müssen wir solchs sparen / bis an den Jüngsten Tag; / dann wollen wir erfahren, / was Gott ist und vermag." (27)
Das für unsere Zukunft Entscheidende aber hat in Jesus Christus, "der für uns hat genug getan" einen Namen und ein Gesicht. In ihm haben die Glaubensaussagen über die Zukunft mit Gott ihren Ursprung: Tod wird nicht mehr sein. Tränen werden abgewischt. Gott lebt bei den Menschen.(28)
Das alles gilt für die Gewesenen und Gestorbenen wie für die Zukünftigen, noch Ungeborenen, aber auch für die Gegenwart und für uns jetzt Lebende.
Darum schreiben wir auf unseren christlichen Grabsteinen jedes einzelne menschliche Leben ein zwischen Stern und Kreuz, und ordnen es damit ein in die Koordinaten des Lebens und der Herrschaft Christi. Darum sind alle unsere Jahre "Jahre des Herrn", die vergangenen Jahre und die uns bevorstehenden Jahre eines neuen Jahrtausends christlicher Zeitrechnung:
Die Zukunft ist offen; sie ist nicht fahrplanmäßig berechenbar. Nichts wird bleiben wie es ist. Der Glaubende aber kann singen:
"So sei es, Herr: die Reiche fallen, / dein Thron allein wird nicht zerstört; / dein Reich besteht und wächst, bis allen / dein großer , neuer Tag gehört." (29)

Anmerkungen
1 Alexander Tollmann: Das Weltenjahr geht zur Neige. Wien 1998. Tollmann, langjähriger Ordinarius am Geologischen Institut der Universität Wien, war in Österreich früher als Anti-Atom-Aktivist bekannt.
2 Stephan Berndt: Prophezeiungen zur Zukunft Europas. Weilersbach 1998.
3 Hans Benirschke: Weltuntergangspropheten haben Hochkonjunktur, dpa 9.12.98; das Aufregendste, das an diesem Tag passierte, war lediglich, daß der Verfasser dieses Artikels das 53. Lebensjahr vollendete.
4 Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, München 1995, S. 155
5 EKG Lied 225, aus Vv. 1 und 5. Leider steht das Lied nicht im neuen Evangelischen Gesangbuch (EG).
6 a.a.O. in Vv. 3 und 4
7 ebenfalls von R.A. Schröder aus den Jahren 1936-1939; im EG Nr. 378
8 Offb. 20, 2-6: Satan wird für tausend Jahre gebunden; das "Tausendjährige Reich", eine vorläufige Herrschaft Christi mit den Seinen, bricht an; vgl. anders auch 2. Petrus. 3,8: "Tausend Jahre wie ein Tag": Eine tröstende Begründung des Andauerns der Weltzeit. Die scheinbare Verzögerung der Verheißung ist danach in Wirklichkeit ein Zeichen der Geduld des Herrn. Alttestamentlicher Bezug dafür ist Psalm 90,4: "Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist"; gemeint ist die Vergänglichkeit des Menschen angesichts der Ewigkeit Gottes.
9 Dionysius Exiguus (etwa * 497 - †545) erläutert die von ihm vorgenommene neue Zählung der Jahre ab incarnatione domini für seine ab 525 erstellten Ostertafeln sachlich völlig anders damit, daß der frühere Osterkalender vom Herrschaftsantritt Diokletians (29.8.284 n. Chr.) ab rechnete. Daher "wollten wir unseren Zyklus nicht mit der Erinnerung an diesen Gottlosen und Christenverfolger verbinden, sondern haben es vorgezogen, zu Beginn die Zeit nach Jahren seit der Geburt unseres Herrn Jesus Christus zu notieren, damit der Anfang unserer Hoffnung uns vertrauter werde und die Ursache der Wiederherstellung der Menschheit, nämlich das Leiden unseres Erlösers, klarer hervortrete".
10 Robert Konrad, Art. "Chiliasmus III", TRE Bd. 7 schreibt zur ersten Jahrtausendwende: "Die immer wiederkehrende Auffassung von einer allgemeinen Weltuntergangsstimmung ist ... durch Quellen nicht zu belegen"
11 Das behauptet neuerdings sehr dezidiert und mit zahlreichen Belegen Richard Landes. Prof. Dr. Richard Landes ist Mediävist und lehrt derzeit Mittelalterliche Geschichte an der Boston University. Auf Deutsch erschienen ist sein Aufsatz "Das apokalyptische Jahr 1000: Damals und heute" in: Skeptiker, Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken, Jg. 12, 1&2/99; vgl. vorher ebenso auch: Johannes Fried: Endzeiterwartung um die Jahrtausendwende. Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters 45, 1989, der a.a.O. S. 399 "ein ganz erhebliches Interesse der Generationen um die Jahrtausendwende an der Apokalyptik" konstatiert.

12 Kleine, äußerst unvollständige Literaturauswahl:
Martin Bauer: Stichwort Jahrtausendwende, Heyne, München 1998
Charles Berlitz.: Weltuntergang 1999, Knaur, München 1983
Stephan Berndt: Prophezeiungen zur Zukunft Europas. Reichel, Weilersbach 1998
Enno Bünz, Rainer Gries u. Frank Möller: Der Tag X in der Geschichte, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1997
Russel Chandler: Der Tag X. Werden wir das nächste Jahrtausend noch erleben? Endzeitpropheten und ihre Visionen. Hänssler, Stuttgart
Manfred Dimde: Die Weissagungen des Nostradamus - neu entschlüsselt, Goldmann, München 1991
Manfred Dimde: Die Prophezeiungen des Nostradamus zur Jahrtausendwende. Enthüllungen eines neuen Zeitalters. Goldmann, München 1993
Manfred Dimde: Nostradamus Total. Heyne, München 1996
Peter Dinzelbacher: Die letzten Dinge. Himmel, Hölle, Fegefeuer im Mittelalter. Herder, Freiburg 1999
Jochen Eber: Das Jahr 2000: Christen vor der Jahrtausendwende. Brunnen 1996
Joachim Finger (Hg.): Vom Ende der Zeiten. Paulus, Freiburg/Schweiz 1999
Hans Gasper u. Friederike Valentin (Hg.): Endzeitfieber. Herder, Freiburg 1997
Medard Kehl: Und was kommt nach dem Ende? Von Weltuntergang und Vollendung, Wiedergeburt und Auferstehung. Herder, Freiburg 1999
Albert Keller: Die großen Seher. Das Prognose-Jahrbuch für 1999, Realis, München 1999
Stefan Rink: Stichwort Nostradamus, Heyne, München 1994
Wulfing von Rohr: Nostradamus, Seher und Astrologe. Ariston, Genf und München 1994
Michael Shermer, Benno Maidhof-Christig und Lee Traynor: Endzeittaumel. Alibri, Aschaffenburg 1998
Norbert Sommer (Hg.): Mythos Jahrtausendwechsel. Wichern, Berlin 1998
Damian Thompson: Das Ende der Zeiten. Claasen, Hildesheim 1997
Alexander Tollmann: Das Weltenjahr geht zur Neige. Böhlau, Wien 1998.
Dieter Zimmerling: Lauter Weltuntergänge. Die Lust an der Endzeitstimmung. Piper, München 1998

13 Das meldete der Adventistische Pressedienst "APD-Informationen" mit Datum vom 14.7.1995 von der "56. Generalvollkonferenz-Vollversammlung" der STA in Utrecht/Niederlande
14 ebenda
15 Jehovas Zeugen - Menschen aus der Nachbarschaft. Wer sind sie? Hg.: Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig, e.V. Selters/Taunus, 1995, 32 S.; inzwischen liegt anscheinend mindestens eine i.W. gleiche, weitere Auflage dieser Selbstdarstellung vor. Dies Zitat findet sich auf S. 7
16 ebenda
17 nach Offb. 16,16; der Name "Harmagedon" erscheint im Neuen Testament ein einziges Mal und bezieht sich auf einen Berg bei der Stadt Meggido. Auf der Ebene von Meggido (zwischen Galiläa und Samaria) hatten in alter Zeit zwei vernichtende Schlachten stattgefunden vgl. Richter 4,12-24; 5,19 sowie 2. Könige 23,29 und 2. Chronik 35-24
18 Der Wachtturm, 1. Mai 1999: "Der Leser wende Unterscheidungsvermögen an", S.17
19 a.a.O. S. 18
20 Ich folge der Darstellung von G. Otto Schmid: Concerned Christians. Monte Kim Miller und die Ereignisse um seine "Besorgten Christen" in : Informationsblatt Hg. Ev. Informationsstelle: Kirchen-Sekten-Religionen, Februar 1999, 36. Jahrgang Nr.1 S. 5 f.
21 nach Offbarung 11,12
22 Matthäus 24,21
23 vgl. Matthäus 24,15 unter Bezug auf Daniel 9, 27 und 11,31.
24 zitiert nach Sara Lemel: Israel fürchtet Invasion religiöser Fanatiker zur Jahrtausendwende, dpa, 24. November 1998
25 Matthäus 24, 32-33
26 Fried, a.a.O., S. 386 "Nicht das altchristliche Wissen, am Ende der Zeiten zu leben, bedrückt..., sondern die neue Qualität der Zeichen (damals vor allem: Ungarneinfall - T.G. ) , die das Ende in der Gegenwart verheißen"
27 So bescheiden Johann Walter 1552 in seinem Lied "Herzlich tut mich erfreuen die liebe Sommerzeit, wenn Gott wird schön erneuen alles zur Ewigkeit" EG 148, V. 2
28 Offenbarung 21, 1-7
29 Letzter Vers aus dem EG Lied 266 "Der Tag, mein Gott ist nun vergangen” Text von Gerhard Valentin 1964 nach dem englischen "The day thou gavest, Lord, is ended" von John F. Ellerton 1870. Das Lied ist heute die gerngesungene Hymne des Dialog Center International.


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