Wer findet zu diesen Foren?
Jeder, der in eine Suchmaschine die Begriffe "Selbstmord", "Freitod", "Suizid" eingibt, kann mit wenigen Mausklicks auf den Seiten dieser Chats und Foren landen.
Auslösende Momente
Jugendliche, die in einer momentanen Streßsituation mit Familie, Schule usw. stecken, können nach nur einem Gedankenschluß auf die Idee kommen, die oben genannten Begriffe auf ihren PCs in ihren eigenen Zimmern einzugeben.
Beispiel: Wenn ein Schüler mit einer 6 in Mathematik nach Hause kommt und die Mutter daraufhin Vorwürfe macht und "Moralpredigten" hält, denkt sich der Sohn: "Du wirst schon sehen, was du von deiner ewigen Nörgelei hast, wenn ich mal Selbstmord mache." Danach geht er in sein Zimmer, sieht seinen PC und denkt sich: "Gib doch mal Selbstmord in die Suchmaschine."
Einstieg in Chat und Forum
Eine andere Möglichkeit, zu den Suizid-Foren zu geraten, ist die Mund-zu-Mund-Propaganda. Allerdings ist es sehr selten, daß ein Besucher dieser Seiten seine Freunde im realen Leben darüber informiert, daß er in einem Todes-Chat ist. Die Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniert nur dann, wenn ein jugendlicher Besucher nach dem ersten Besuch im Forum die Inhalte "cool" findet und es seinem Schulfreund mitteilt.
Im Internet selbst besteht allerdings auch eine "Mund-zu-Mund-Propaganda". Manche Chatter sind auch in anderen themenbezogenen Chats und Foren registriert (bevor sie nur noch im Todes-Chat sind) und berichten fasziniert vom neuen Thema. So kann der Chat-Partner aus anderen Themenbereichen mitgezogen werden.
Wenn ein Jugendlicher ausreichend fasziniert ist, um selbst einen Beitrag im Forum zu verfassen oder sich unter einem selbstgewählten Nicknamen im Chat registrieren zu lassen, dann ist es meist der Einstieg in die Welt der Todesforen.
Abhängigkeitsentwicklung und Sucht zum Forum
Die Forenmaster wirken in der Einstiegsphase auf die Betroffenen oftmals wie Idole.
Es wird viel diskutiert, ob die Abhängigkeit vom Internet nicht mit Suchtverhalten verglichen werden sollte. Meiner Meinung nach bestehen hier aber verschiedene Arten von Abhängigkeit. Es gibt die Erlebnis-Surfer, die sich ziellos durch das Internet treiben lassen - Hauptsache, sie sind online. Und es gibt die Abhängigkeit von bestimmten Inhalten, bestimmten Foren und Chats.
Die Teilnehmer entwickeln eine Abhängigkeit zum Foruminhalt, d.h. sie müssen so häufig und so lange wie möglich "online sein", um mit anderen Teilnehmern zu chatten und im Forum immer auf dem neuesten Stand zu sein - um immer mitreden zu können und bei den neuesten Entwicklungen, Ideen und Tips dabei zu sein.
Der Einzelne kann dabei Einfluß auf das Gesamtgeschehen nehmen und damit auch die Richtung des Forums bestimmen. Jedoch werden Beiträge, die sich gegen Suizid wenden und tatsächliche Hilfsangebote sofort von den Forenmastern gelöscht, wodurch diese den Diskussionskorridor bestimmen.
Ein neuer Teilnehmer muß seinem Nick durch Beiträge im Forum und Teilnahme am Chat zuerst zu einer gewissen Bekanntheit verhelfen. Werden die vertretenen Ansichten von anderen Teilnehmern geteilt, kommt es zum Austausch von eMail-Adressen und ICQ-Nummern. Persönliche Kommunikation findet auch durch das "Flüstern" im Chat statt. Wird der Teilnehmer vom "harten Kern" der Foren und Chats akzeptiert, werden für persönliche Gespräche Handynummern ausgetauscht, später oft sogar Festnetznummern und Adressen. In dieser Phase ist der Teilnehmer dann bereits selbst als zum "harten Kern" gehörend anzusehen.
Die Gruppendynamik in Chat und Foren
Der Foreneinsteiger ist nach unseren Beobachtungen und Einschätzungen nicht von vornherein schon suizidal. Ab der Einstiegsphase glaubt er jedoch, suizidal zu sein, da bereits andere Chatter und Forenbesucher sich über Probleme äußern, die er als identisch mit seinen empfindet. Gleichzeitig beginnt er, sich mit den Problemen anderer zu identifizieren, indem er alltägliche Probleme anderer Chatter auf sich überträgt. Das hat zur Folge, daß Persönlichkeitsstörungen hervorgerufen werden können.
Bei Chattern, die sich mehrere Nicks zulegen, muß man davon ausgehen, daß sie in der virtuellen Welt genauso viele Persönlichkeiten vertreten.
Durch die "Forum-Sucht" wird die reale Welt abgedrängt. Die virtuelle Welt drängt sich immer mehr in das Leben des Abhängigen. Damit kommt es zu Verlusten von Beziehungen, sozialen Bindungen und realen Wahrnehmungen in der realen Welt. Die Folge ist, daß die virtuelle die reale Welt verdrängt. Denken und Sprachform passen sich der neuen Welt an.
Sog vom Lesen zum Suizid
Nach dem Sog in die Welt der Suizid-Foren greift auch noch eine spezielle Gruppendynamik. In einem Bild kann man sich das so vorstellen: Chat und Forum sind ähnlich einem mathematischen Kegel aufgebaut. In diesem Kegel bewegt sich jeder Chatter auf einer Umlaufbahn mehr oder weniger schnell nach oben. Die Spitze des Kegels ist entweder ein Suizidversuch oder der vollzogene Suizid.
Durch die Annahme des Chatters, daß er genauso suizidal sei wie alle anderen im Suizid-Chat und -Forum, besteht zwischen den Mitgliedern der Gruppe eine beachtenswerte Homogenität. Wenn zwischen einigen Teilnehmern geringe Differenzen auftreten, werden sie von den anderen an die Gemeinsamkeit "suizidal zu sein" erinnert, und schon richten sich wieder alle "friedlich" auf das gemeinsame Ziel Suizid aus.
Die Chatter werden von anderen Teilnehmern bewußt und unbewußt zur Kegelspitze hin getrieben, wenn sie erst einmal die Äußerung gemacht haben, "ich möchte mich umbringen, aber wie?"
Viele sehen es als Hilfe an, mit Tips und Medikamentenangeboten jenen Fragenden zu antworten. Hat jemand seinen Selbstmord angekündigt, wird bei ihm ständig nachgefragt, "warum lebst Du noch?".
Als Beispiel sei hier benannt:
"Ich dachte, Du hast es geschafft. Dachte, daß Du Dich mit Zyankali umbringen wolltest. Warum hat es bei Dir nicht geklappt?" Danach wurde ihm angeboten, sich an einer "Verabredung" zu beteiligen. Verabredungen sind Terminabsprachen zum gemeinsamen Suizid.
In einem anderen Posting fragt jemand an, ob jemand mit ihm gemeinsam in den Tod gehen könnte, er würde es nicht allein schaffen. Der erste Antwortende wünschte ihm viel Glück, aber er könne ihn noch nicht begleiten, da er sich erst nach seinem 18. Geburtstag umbringen möchte.
Fragt ein Chatter nach empfehlenswerten Medikamenten, so wird ihm zuerst Phenobarbital empfohlen. Pheno, wie es kurz genannt wird, muß man zu Hause haben - das ist "kultig" [im Sinne von "modisch" - d. Red].
Wer Angst vor dem Absprung vom Hochhaus hat, bekommt in den Foren Hilfestellung, die Angst vor dem Absprung zu überwinden, z.B.: "Nimm einige Beruhigungstabletten, trinke etwas Wein darauf und dann laß Dich einfach langsam nach vorn fallen."
Durch die Ankündigung des Selbstmordes gerät der Betroffene nun unter sehr starken Druck:
a) in den Druck, den Suizid zu vollziehen oder
b) ihn nicht zu vollziehen - dann ist die Sucht, in Chat oder Forum zurückzukehren, jedoch so groß, daß er in einen Rechtfertigungsdruck ob des nicht vollzogenen Suizids kommt.
Es gibt aber auch die sogenannten Faker, die einen Selbstmord "nur mal so zum Spaß" anmelden. Foren- und Chat-Teilnehmer, die andere zum Suizid treiben oder auch einen Selbstmordankünder jagen, werden auch meist als Faker abgetan.
Die Forenmaster können aber eigentlich gar nicht erkennen, ob es ein Fake ist oder bitterer Ernst.
In seinem Internet-Tagebuch (das bedeutet, jeder, der die Adresse kannte, konnte mitlesen) beschrieb ein Forummaster, wie er sich umbringen wolle. Er beschrieb, wann und wo er sein Gewehr kaufte. Genauso beschrieb er, daß er noch mal in die Stadt fahren müsse, weil er die Schrotflinte nicht zusammenbauen konnte.
Alle haben es gelesen, fast alle haben zugeschaut als er sich am 17. November 2000 erschoß. Niemand hat ihm Hilfe geschickt oder die Eltern alarmiert.
Durch die Foren- und Chatbeiträge wird die Hemmschwelle zum Vollzug des Suizids immer weiter herabgesetzt. Selbst Personen, die nicht suizidal veranlagt sind, sind nach einigen Monaten in einer psychischen Verfassung, in der sie nicht mehr in der Lage sind, sich selbst aus den Foren zu helfen oder anderen Hilfe (in Form von Polizei oder Ärzten) zu schicken.
In kritischen Situationen sitzen sie dann gespannt vor ihrem Bildschirm und warten. ... Tritt der Selbstmordankünder nicht mehr auf, folgen aufgeregte Diskussionen.
Gibt es einen anderen Ausstieg als das Suizid-Finale ?
In der Form, wie uns Ausstiegsarbeit bei Sekten und Kulten bekannt ist, gibt es sie für Aussteiger aus den Suizid-Foren noch nicht. Uns sind bisher nur zwei Aussteiger (Aussteiger nennen sie sich selbst) bekannt, die es aus eigener Kraft heraus geschafft haben. Ein weiterer ist durch das Eingreifen der Eltern zwar nicht ausgestiegen, befindet sich jetzt aber in einem psychiatrischen Krankenhaus auf der geschlossenen Station.
Ausstiegsberatung - Was ist heute möglich?
Seit Ende November arbeitet die EBI-Sachsen e.V. zum ersten Mal mit einer Teilnehmerin der Todesforen und Chats. Diese ehemalige Forum-Masterin hatte Medikamente (Phenobarbital) bei einem Medikamentenhändler, der sich im Forum "Albert Einstein" oder "Erdling" nennt, bestellt. Die Rechnung fiel der Mutter in die Hände und sie alarmierte die Polizei. Gleichzeitig wurden wir informiert und nahmen Verbindung zur Betroffenen auf. Zu Beginn der Betreuung war der Sprachduktus der Forum-Masterin kurz und abgehackt-hastig. Erst nach mehreren Beratungseinheiten änderte sich die Sprache und wurde verständlicher und langsamer. Ihr Zeitaufwand für Chat und Forum nahm deutlich ab.
Sie begann sich erst aus dem Forum etwas zurückzuziehen. Danach begann sie, auch weniger im Chat zu kommunizieren. Zur Zeit läuft ihre Kommunikation fast nur noch per eMail oder SMS.
Wir stellten fest, daß die Chatter ohne einen neuen Tagesrhythmus kaum von ihrer virtuellen Welt in die Realität zurückzuführen sind.
Gleichzeitig bemerkten wir, daß sie dringend ärztliche Hilfe (Hausarzt und Psychiater) benötigen. Durch unregelmäßige Ernährung und den Schlafmangel ist der gesundheitliche Gesamtzustand angegriffen.
Die von uns betreute Betroffene trat in den Foren unter 5 verschiedenen Nicknamen auf; laut mehreren psychologischen Gutachten liegen schwere Persönlichkeitsstörungen vor. Trotzdem will sie sich nicht in eine psychiatrische Behandlung begeben. Das resultiert aus der herrschenden Foren-Meinung, daß Psychiater und Polizei gemieden werden müssen, da diese einen nur vom Suizid abhalten wollen.
Nach dreimonatiger Arbeit mit dieser Betroffenen, besteht jetzt die Hoffnung, daß sie an einer 10-tägigen Therapie einer sonderpsychiatrischen Klinik für Suizidale teilnimmt.
Hier sei nochmals erwähnt, daß sie vor ihrer Forenzugehörigkeit kein suizidales Verhalten zeigte, ihre schulischen Leistungen sehr gut waren, sie gute soziale Bindungen hatte und keine Persönlichkeitsstörungen erkennbar waren. Im Mai 2000 hatte sie erst begonnen in den Todesforen "online" zu sein.
Im Oktober verließ sie die Schule per Schuljahresfreistellung. Wir arbeiten zur Zeit darauf hin, daß sie mit Beginn des neuen Schuljahres die Klasse 11 wiederholen kann.
Bis Mitte Januar 2001 saß auch sie gebannt vor dem Bildschirm, wenn jemand seinen Selbstmord ankündigte. Dann holte sie zum ersten Mal Hilfe.
Wir hatten bis dahin sehr daran gearbeitet, daß sie - wenn sie schon nicht in der Lage ist, Polizei oder Arzt zu rufen - uns informieren soll, damit wir die notwendigen Schritte einleiten können. Seitdem gab es 6 Fälle, bei denen sie uns - ob Tag oder Nacht - über "Ankündigungen" informierte. In diesen Fällen war die Polizei rechtzeitig vor Ort und konnte so Suizide verhindern.
"Hilfsangebote" in Chat und Foren
Die meisten Jugendlichen, die in den Sog der sogenannten Todes-Foren geraten, haben sich vorher noch nicht mit Möglichkeiten, sich umzubringen, beschäftigt. Die Anleitungen zum Suizid bekommen sie erst jetzt "gratis online" nach Hause.
Die "Hilfsangebote" entsprechen der Nachfrage: So fragte ein Chatter "Wie kann ich mich umbringen? Ich schaffe es nicht, mich vom Felsen zu stürzen oder vor den Zug zu stellen. Auch klappt meistens Pulsadern aufschneiden nicht. Gibt es nicht einen leichteren Weg in den Tod?" Die Antwort kam prompt: "Nimm Pheno - aber Zyankali oder Rattengift tun es auch!"
Drogenhandel
Der Medikamentenhandel blüht in den Foren. 80 Tabletten Phenobarbital (ein Medikament, das Epileptikern verschrieben wird) kosten in der Apotheke nicht einmal 30 DM. Aber es ist rezeptpflichtig. Deshalb steigt der Preis in den "Internet-Apotheken". Dort erhält man die gleiche Menge für 820 DM und man erhält sie - per Post.
In den Foren selbst wird in Bezug auf den Medikamentenhandel "gewarnt". So ist in einen Forum-Header zu lesen, daß unseriöse Medikamentenangebote kursieren und dadurch schon viele Suizidler "über den Tisch gezogen" wurden.
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