Seite 4-8 weiter Seite 9 (43 KB) | BERLINER DIALOG 13, 2-1998 - Michaelis |
BEITRÄGE
und neuen religiösen Bewegungen von Stephen Kent |
Bei der sozialwissenschaftlichen Untersuchung neuer und insbesondere umstrittener Religionen stehen wir zwar am Rande der sozialwis-senschaftlichen Forschungsgebiete, aber im Mittelpunkt öffentlichen (und studentischen) Interesses. |
San Myung Mun, Herr des Universums, redet vor jugendlichen Anhängern Foto: Werbematerial, Archiv Gandow |
Ich bin zum Beispiel auf Empfängen mit Kollegen gewesen, wo diese mir von ihrer wichtigen und wissenschaftlich strengen Arbeit erzählt haben. Ihre Forschungen, die oft in hohem Ausmaß statistisch sind, betreffen Angelegenheiten, die Einfluß auf unser aller Leben haben. Irgendwann fragen mich dann die Kollegen, womit ich mich denn beschäftige, und ich könnte dann leicht so etwas sagen wie: "Oh, ich versuche gerade, einen Sinn in einem Interview von gestern abend über rituelle satanische Praktiken zu finden, bei dem eine Frau mir erzählte, daß sie vor dreißig Jahren einem Kleinkind das Herz herausgeschnitten und Teile davon gegessen hat."
Denn tatsächlich wirft die wissenschaftliche Untersuchung von Religion wichtige Fragen |
Ich vertrete die Meinung, daß die Wissenssoziologie über die sogenannten neuen Religionen von Politik und Lobbies kompromittiert wird und daß auch die Konkurrenz unter den Beteiligten das sozialwissenschaftliche Projekt auf dem religiösen Felde geschädigt hat.
Ich ziehe diese Schlußfolgerung aus mehr als fünfzehn Jahren Teilnahme an akademischen Konferenzen, Veröffentlichungen und Forschung. Ich habe außerdem einige interessante, wenn nicht sogar beunruhigende Erfahrungen mit Kollegen in Bezug auf meine Forschung gemacht, die mich gezwungen haben, über weitreichende theoretische Fragen nachzudenken.
Mun-Konferenz für die Einheit der Wissenschaften (ICUS). Foto: Werbematerial der Mun-Bewegung, Archiv Gandow |
Wissenssoziologie und die sozialwissenschaftliche Untersuchung von Religion
Ich verstehe Religionssoziologie als "das systematische Sammeln und die theoretische Präsentation von Daten über das religiöse gesellschaftliche Leben". Ich sehe Religion als eins von vielen ideologischen Systemen an. Die Besonderheit des Systems "Religion" ist es, daß dessen Anhänger es kollektiv ablehnen, fundamentale Annahmen über das Übernatürliche in Frage zu stellen. Datenbeschaffung 1. Auswahl eines Themas
Wir wissen alle, daß viele praktische Fragen die Auswahl eines Themas bestimmen - Zeit, Geld, Sprachenkenntnis, Sexualität und Geschlecht, vorhergehende Forschungen, die Art der möglicherweise zu untersuchenden Gruppe usw. 2. Gruppen, die sich selbst als Studienobjekt anbieten
Verschiedentlich haben sich in den letzten zwanzig Jahren sogenannte neue Religionen selbst der akademischen Gemeinde als Forschungsobjekt angeboten. Auf den ersten Blick scheinen solche Einladungen der Traum jedes Forschers zu sein, und viele Forscher ergreifen die Gelegenheit mit Freude.
Konnten die Wissenschaftler es erstens verantworten, die Reiseeinladungen anzunehmen, wohl wissend, daß "Munies" möglicherweise dadurch die Mittel dafür aufgebracht haben, daß sie jeden Tag viele Stunden lang auf der Straße Blumen verkauft haben? |
Während der siebziger und achtziger Jahre erhielt das britische Innenministerium so viele Anrufe wegen sogenannter "Kulte", daß es ein Informationsbüro (namens INFORM) unter Dr. Barkers Leitung finanzierte. Kritiker erhoben sofort Einwände mit dem Hinweis, daß sie an mindestens 18 von den Munies gesponsorten Konferenzen umsonst teilgenommen habe. Als einige betroffene Eltern die Qualität des Materials beanstandeten, das Dr. Barker und ihre Organisation "INFORM" über Mun-Bewegung und Scientology abgaben, wurde Dr. Barker auch Gegenstand kritischer Zeitungsartikel und mindestens einer Radiosendung. Kritiker beriefen sich immer auf ihre Teilnahme an diesen kostenfreien Konferenzen als Beweis gegen ihre Objektivität und Urteilsfähigkeit, während sie darauf bestand, daß sie dennoch korrekte Forschung betrieben und dem Steuerzahler sogar Kosten erspart habe dadurch, daß sie die Einladungen der Mun-Bewegung angenommen habe. | Dr. Eileen Barker als Zeugin der Kläger beim Moskauer Prozeß 1997 |
Wie sich die Sache auch immer auf den Inhalt ihrer Arbeit ausgewirkt haben mag, diese Vorwürfe werden sie bis ins Grab verfolgen. Das scheint mir ein sehr hoher Preis für einige kostenlose Reisen zu sein.
3. Einladungen zu "offener Forschung"
Eine noch ernstere, offensichtliche Bedrohung der Integrität der Religionssoziologie ereignete sich 1993, als Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern (insbesondere den Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien und Australien) Einladungen der "Kinder Gottes" - damals schon bekannt als "Die Familie" - zu Besichtigungen dessen annahmen, was von den "Kindern Gottes" selbst "media homes" genannt wurde und was die Forscher dann einige Wochen lang untersuchen durften.
Methodologien
Haben die Forscher erst einmal ein Thema ausgewählt, dann müssen sie die Methoden festlegen, wie sie ihre Daten beschaffen wollen. Hier gilt, daß die Wahl der Methoden politischen Pressionen unterliegen kann.
1. Nicht-Berücksichtigung von Berichten früherer Mitglieder
Eine der Pressionen, die meiner Meinung nach am meisten Schaden angerichtet hat, betrifft die Vorentscheidung, die manche Wissenschaftler trafen, Berichte von früheren Mitgliedern aus ihrer Datensammlung auszuschließen.
2. Gruppengeheimnisse und geheime Dokumente
Wenn Forscher ihre Untersuchungen teilweise auf Dokumente stützen wollen, dann kann es ihnen passieren, daß sie auf Sozialwissenschaftler stoßen, die ihnen den Zugang zu wichtigem Quellenmaterial verweigern.
Schutz von Dokumenten
3. Veröffentlichungen und Vorträge bei Konferenzen
Wenn es Forschern gelingt, gute Daten über Religionen aufzutreiben, ist es ihre nächste Aufgabe, die Ergebnisse auf Konferenzen vorzutragen und die Resultate zu veröffentlichen. Aber auch hier behindern in unserem Forschungsgebiet akademische Kollegen die normale sozialwissenschaftliche Vorgehensweise.
Aus Furcht vor einem teuren Gerichtsverfahren lehnte der Verleger die Veröffentlichung des Artikels wegen der Einwände seiner zwei akademischen Herausgeber ab. Danach gab der Wissenschaftler, der den Brief geschrieben hatte, sein eigenes Buch über dieselbe Gruppe heraus. Es enthielt auch einen Aufsatz des ersten Wissenschaftlers, der wahrscheinlich "Die Familie" von meiner Studie, die gerade erscheinen sollte, in Kenntnis gesetzt hatte.
Schlußfolgerungen
All diese Geschichten deuten darauf hin, daß die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Religion ein sehr menschliches Unternehmen ist. Als Sozialwissenschaftler müssen wir nach sozialen und strukturellen Erklärungen dafür suchen, weshalb sich Behinderungen der wissenschaftlichen Vorgehensweise zutragen und warum einige begabte Forscher bei der Auswahl ihrer Themen und der Durchführung ihrer Forschung von falschen Voraussetzungen ausgehen. Erstens ist Forschung sehr teuer. Außerdem dürfte es schwierig sein, Geldmittel für unsere Forschungen aufzutreiben, weil die Untersuchung der Religion im Vergleich mit vielen anderen sozialwissenschaftlichen Arbeitsgebieten am Rande steht. Folglich ergreifen viele von uns Gelegenheiten zu "freier Forschung", ohne über die Frage der langfristigen nicht-finanziellen Kosten nachzudenken. Zweitens sind manche Forscher, die eine wichtige Rolle in der gegenwärtigen Forschungsszene spielen, nicht Professoren an Colleges oder Universitäten.
Sie sind unabhängige Forscher, die ihre eigenen Forschungsinstitute leiten und manchmal sogar ihre eigenen Verlage. Sie hängen von der Aufmerksamkeit der Medien ab, damit das Interesse an den Gruppen, die sie untersuchen, aufrechterhalten bleibt, und sie hängen von den Gruppen selbst in finanzieller Hinsicht ab. Drittens verwundert mich am meisten, daß Professoren an Bemühungen teilnehmen, ausschlaggebende religiöse Dokumente geheimzuhalten.
Aber ich habe ein paar Ideen, wie man das erklären könnte. Eine Möglichkeit ist, daß die Gruppenleitung ausreichend enge persönliche Beziehungen zu wichtigen Professoren entwickelt hat, so daß diese Professoren sich persönlich zur Hilfe für ihre sogenannten "Freunde" verpflichtet fühlen. Es ist gewiß so, daß viele neue religiöse Führer Forschern ein Gefühl der Bedeutung gegeben haben, das diese Forscher von ihren Kollegen auf dem jeweiligen Forschungsgebiet wahrscheinlich nicht erhielten. Um diese Quelle gesellschaftlicher Geltung (und gelegentlich des Einkommens) zu erhalten, sind Religionsforscher anscheinend bereit, grundlegende wissenschaftliche Prinzipien zu opfern. Wissenschaft räumt das Feld vor Geld und gesellschaftlicher Geltung. |
Viertens behindern einige Sozialwissenschaftler die normale wissenschaftliche Vorgehensweise, wenn sie glauben, daß diese Behinderung ihre eigenen Interpretationen schützt.
Forscher schlagen am ehesten diesen Weg ein, wenn sie enge persönliche Beziehungen mit ihren Forschungsgegenständen entwickelt haben oder wenn ihre berufliche Stellung nicht sicher ist und sie sich vor den Folgen einer In-FrageStellung ihrer Position fürchten. |
Dr. Stephen A. Kent, 46, ist ordentlicher Professor an der soziologischen Fakultät der University of Alberta, Kanada. Derzeit arbeitet er hauptsächlich über nicht-traditionelle und alternative Religionen. Zuschriften an: Department of Sociology, University of Alberta, Edmonton, Alberta, Canada T6C2H4 | |
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