Seite 4-8 weiter Seite 9 (43 KB)

BERLINER DIALOG 13, 2-1998 - Michaelis

BEITRÄGE

Zur wissenschaftlichen Untersuchung von Religionen
und neuen religiösen Bewegungen
von Stephen Kent

Bei der sozialwissenschaftlichen Untersuchung neuer und insbesondere umstrittener Religionen stehen wir zwar am Rande der sozialwis-senschaftlichen Forschungsgebiete, aber im Mittelpunkt öffentlichen (und studentischen) Interesses.
Viele andere Forschungsgebiete stehen stärker im Mittelpunkt der fachlichen Aufmerksamkeit. Studien über Beschäftigung, soziale Schichtung, Demographie, Politik, Gesundheit, Altern und Familie scheinen von größerem Belang für die Gesellschaft und die Theorie zu sein. Keines dieser Gebiete ist jedoch annähernd so interessant wie das, das Sie und ich untersuchen.
(Vortrag vor Studenten der Freien Universität Berlin, 2.Juli 1997)

San Myung Mun
San Myung Mun, Herr des Universums, redet vor jugendlichen Anhängern
Foto: Werbematerial, Archiv Gandow

Ich bin zum Beispiel auf Empfängen mit Kollegen gewesen, wo diese mir von ihrer wichtigen und wissenschaftlich strengen Arbeit erzählt haben. Ihre Forschungen, die oft in hohem Ausmaß statistisch sind, betreffen Angelegenheiten, die Einfluß auf unser aller Leben haben. Irgendwann fragen mich dann die Kollegen, womit ich mich denn beschäftige, und ich könnte dann leicht so etwas sagen wie: "Oh, ich versuche gerade, einen Sinn in einem Interview von gestern abend über rituelle satanische Praktiken zu finden, bei dem eine Frau mir erzählte, daß sie vor dreißig Jahren einem Kleinkind das Herz herausgeschnitten und Teile davon gegessen hat."
An diesem Punkt geht die Unterhaltung plötzlich nicht weiter. Geschichten von Menschenopfern sind selbst im Bereich der sogenannten neuen Religionen gewiß ungewöhnlich, aber sie kommen doch vor, deshalb mußte ich lernen, mit Freunden und Familie nicht über alles zu reden.
Meine Studenten dagegen langweilen solche Themen jedoch gewöhnlich nicht, und ich werde auch in den Medien wahrscheinlich häufiger zitiert als meine "wissenschaftlicheren" Kollegen.
Während nun manches von dem, was wir studieren, zugegebenermaßen wirklich etwas am Rande liegt, sind andere Fragen aber doch von großer und allgemeiner Bedeutung für die Sozialwissenschaften und die Gesellschaft, in der wir leben.

Denn tatsächlich wirft die wissenschaftliche Untersuchung von Religion wichtige Fragen
gerade auch nach der Natur der Sozialwissenschaft selbst auf, nämlich besonders Fragen
1. der Wissenssoziologie - woher wissen wir, was wir wissen?; und
2. der Berufssoziologie: wer bestimmt das Wissen über ein bestimmtes Gebiet?

Ich vertrete die Meinung, daß die Wissenssoziologie über die sogenannten neuen Religionen von Politik und Lobbies kompromittiert wird und daß auch die Konkurrenz unter den Beteiligten das sozialwissenschaftliche Projekt auf dem religiösen Felde geschädigt hat.

Ich ziehe diese Schlußfolgerung aus mehr als fünfzehn Jahren Teilnahme an akademischen Konferenzen, Veröffentlichungen und Forschung. Ich habe außerdem einige interessante, wenn nicht sogar beunruhigende Erfahrungen mit Kollegen in Bezug auf meine Forschung gemacht, die mich gezwungen haben, über weitreichende theoretische Fragen nachzudenken.

Mun-Konferenz für die Einheit der Wissenschaften (ICUS). Foto: Werbematerial der Mun-Bewegung, Archiv Gandow

Mun-Konferenz

Wissenssoziologie und die sozialwissenschaftliche Untersuchung von Religion

Ich verstehe Religionssoziologie als "das systematische Sammeln und die theoretische Präsentation von Daten über das religiöse gesellschaftliche Leben". Ich sehe Religion als eins von vielen ideologischen Systemen an. Die Besonderheit des Systems "Religion" ist es, daß dessen Anhänger es kollektiv ablehnen, fundamentale Annahmen über das Übernatürliche in Frage zu stellen.
Soziologisch gesprochen ist die Untersuchung von Religion ähnlich der Untersuchung von Ideologien auf den Gebieten Politik, Wirtschaft, physische und psychische Gesundheit usw. Was Religion jedoch von allen anderen ideologischen Systemen unterscheidet, ist die Verwendung von Versprechen von übernatürlichen Belohnungen und Drohungen mit übernatürlichen Strafen, die zusammen menschliches Verhalten auf dramatische Weise beeinflussen können.
Einfach gesagt müssen Religionswissenschaftler wissenschaftliche Standardmethoden der Beschaffung, Speicherung und Veröffentlichung von Daten befolgen. Jeder dieser Schritte wird jedoch durch typische Risiken gefährdet.

Datenbeschaffung

1. Auswahl eines Themas

Wir wissen alle, daß viele praktische Fragen die Auswahl eines Themas bestimmen - Zeit, Geld, Sprachenkenntnis, Sexualität und Geschlecht, vorhergehende Forschungen, die Art der möglicherweise zu untersuchenden Gruppe usw.
Wenn wir an diesem Punkt doch nur in die Zukunft sehen könnten! Anfang der sechziger Jahre befaßten sich zum Beispiel zwei graduierte Studenten in Kalifornien mit einer obskuren und weitgehend erfolglosen koreanischen Gruppe, die Mitglieder zu werben suchte. Sie hätten sich damals nicht vorstellen können, daß diese kleine Gruppe weltweit bekannt werden würde als "Vereinigungskirche" oder Mun-Bewegung.
Ähnlich ging es einem graduierten Studenten, der sich Anfang der siebziger Jahre an der Beobachtung einer kleinen UFO-Gruppe beteiligte und nie erwartet hätte, daß diese Gruppe zwanzig Jahre später weltweit Aufmerksamkeit erregen würde, als vierzig ihrer Mitglieder Selbstmord begingen - es war "Heaven's Gate".
Die Auswahl des Themas ist schwierig, und ihre Folgen sind unabsehbar. Die Auswahl des Themas kann eine Karriere begründen oder sie scheitern lassen.

2. Gruppen, die sich selbst als Studienobjekt anbieten

Verschiedentlich haben sich in den letzten zwanzig Jahren sogenannte neue Religionen selbst der akademischen Gemeinde als Forschungsobjekt angeboten. Auf den ersten Blick scheinen solche Einladungen der Traum jedes Forschers zu sein, und viele Forscher ergreifen die Gelegenheit mit Freude.
Man kann zwei Perioden solcher Angebote unterscheiden. Die erste fand in den Jahren vor und nach 1980 statt und bestand in der Einladung der Mun-Bewegung an Akademiker, ohne eigene Kosten an Konferenzen teilzunehmen. Die zweite Periode war Anfang der neunziger Jahre, als mindestens zwei Organisationen Wissenschaftler zu ihren Veranstaltungen einluden.
Die Konferenzen der Mun-Bewegung hatten verschiedene Themen. Wahrscheinlich waren es Tausende von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, die daran teilnahmen. Die Mun-Bewegung kam normalerweise für Flug, Unterbringung und Verpflegung auf. Dafür mußten die Wissenschaftler lediglich eine Woche lang an den Sitzungen teilnehmen.
Anfang der achtziger Jahre begann eine heftige Debatte über die Frage, ob es für Wissenschaftler zulässig sei, an solchen kostenfreien Konferenzen teilzunehmen, und die Debatte betraf einige der herausragenden Leute auf unserem Gebiet.
Mehrere Fragen wurden diskutiert, keine gelöst:

Konnten die Wissenschaftler es erstens verantworten, die Reiseeinladungen anzunehmen, wohl wissend, daß "Munies" möglicherweise dadurch die Mittel dafür aufgebracht haben, daß sie jeden Tag viele Stunden lang auf der Straße Blumen verkauft haben?
Ich glaube nicht, daß man dies verantworten kann, deshalb lehnte ich (wie andere, die ich kenne) ein solches Angebot ab.
Würde zweitens die Teilnahme an diesen Konferenzen die Objektivität des Forschers beeinträchtigen? Kritiker wiesen darauf hin, daß die Mun-Bewegung ihre Bewegung bei solchen Konferenzen im besten Lichte erscheinen lassen würde, so daß alle Forschungsergebnisse, die daraus resultieren würden, ernsthaft kompromittiert wären.
Im Rückblick sind dann aber tatsächlich eher wenig Forschungsberichte von den an diesen Konferenzen teilnehmenden Personen über diese Konferenzen erschienen. Der einzige Artikel, an den ich mich erinnere, ist einer, in dem zwei kanadische Konferenzteilneher einen Bericht gaben mit der Aussage, daß Wissenschaftler nicht als Nutznießer an diesen Konferenzen teilnehmen sollten.
Drittens argumentierten einige Wissenschaftler, daß sie gerade gegen die Einflüsse, die sie untersuchten, immun seien. Obwohl doch alle Sozialwissenschaftler gerade darüber Untersuchungen anstellen, wie Gruppen individuelles Verhalten beeinflussen, behaupteten diese Wissenschaftler, daß ihre Fähigkeit zur objektiven Untersuchung der jeweiligen Organisation durch ihre Teilnahme an einer von eben der Gruppe durchgeführten Veranstaltung nicht beeinträchtig werden würde.
Im Rückblick komme ich zu dem Urteil, daß diese Wissenschaftler damit von falschen Voraussetzungen ausgingen, als sie die Organisation für ihre Teilnahme bezahlen ließen.
Kritiker hätten weitaus weniger Einwände erheben können, wenn die Wissenschaftler selbst für ihre Reisen aufgekommen wären.
Tatsächlich ist mindestens in einem Fall die wiederholte Teilnahme an diesen Konferenzen auf eine der führenden Forscherinnen der Welt auf dem Gebiet der Mun-Bewegung zurückgefallen und verfolgt sie jetzt ich meine Dr. Eileen Barker von der London School of Economics.

Während der siebziger und achtziger Jahre erhielt das britische Innenministerium so viele Anrufe wegen sogenannter "Kulte", daß es ein Informationsbüro (namens INFORM) unter Dr. Barkers Leitung finanzierte. Kritiker erhoben sofort Einwände mit dem Hinweis, daß sie an mindestens 18 von den Munies gesponsorten Konferenzen umsonst teilgenommen habe. Als einige betroffene Eltern die Qualität des Materials beanstandeten, das Dr. Barker und ihre Organisation "INFORM" über Mun-Bewegung und Scientology abgaben, wurde Dr. Barker auch Gegenstand kritischer Zeitungsartikel und mindestens einer Radiosendung. Kritiker beriefen sich immer auf ihre Teilnahme an diesen kostenfreien Konferenzen als Beweis gegen ihre Objektivität und Urteilsfähigkeit, während sie darauf bestand, daß sie dennoch korrekte Forschung betrieben und dem Steuerzahler sogar Kosten erspart habe dadurch, daß sie die Einladungen der Mun-Bewegung angenommen habe.


Dr. Eileen Barker
Dr. Eileen Barker als Zeugin der Kläger beim Moskauer Prozeß 1997

Wie sich die Sache auch immer auf den Inhalt ihrer Arbeit ausgewirkt haben mag, diese Vorwürfe werden sie bis ins Grab verfolgen. Das scheint mir ein sehr hoher Preis für einige kostenlose Reisen zu sein.

3. Einladungen zu "offener Forschung"

Eine noch ernstere, offensichtliche Bedrohung der Integrität der Religionssoziologie ereignete sich 1993, als Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern (insbesondere den Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien und Australien) Einladungen der "Kinder Gottes" - damals schon bekannt als "Die Familie" - zu Besichtigungen dessen annahmen, was von den "Kindern Gottes" selbst "media homes" genannt wurde und was die Forscher dann einige Wochen lang untersuchen durften.
Diese "Forschungsbesuche" resultierten in mindestens einem Buch zuzüglich einem Video, das viele Wissenschaftler zeigt, die "Die Familie" preisen, und das "Die Familie" heute für ihre Öffentlichkeitswerbung verwendet.
Außerdem traten verschiedene dieser Wissenschaftler in einem sehr wichtigen Gerichtsfall in London als Zeugen für "Die Familie" auf.
Man sollte meinen, daß Wissenschaftler bemerken würden, daß diese "media homes" Einrichtungen für PR-Zwecke waren, aber offensichtlich taten sie das nicht. Spätere Interviews mit ausgestiegenen Mitgliedern zeigen, daß diese "media homes" vom internationalen Büro der "Familie" mit speziellen Geldern ausgestattet wurden; sie hatten die Bibliotheken in den "media homes" von allem umstrittenen Material gesäubert; sie führten dort besondere Erziehungsprogramme für die Kinder durch; sie räumten die Wohnungen auf; sie wählten sorgfältig die Mitglieder aus, die in den "media homes" leben sollten; und schließlich drillten sie wochenlang ihre Leute in den "media homes" durch regelrechte FrageAntwort-Übungen auf verschiedene Situationen und Fragen, denen sie, wie sie dachten, bei den Besuchen gegenüberstehen könnten.
Meiner Meinung nach ist keine der Informationen, die Forscher aus diesen "media homes" mitbrachten, relevant für das wirkliche Leben innerhalb der Gruppe.
Die Studie, die daraus entstanden ist, ist jedoch Teil der Öffentlichkeitsarbeit der "Familie" geworden, und normale Wissenschaftler fangen an, zustimmend daraus zu zitieren.
Eine ähnliche Untersuchung fand 1993 bei der "Church Universal and Triumphant" (CUT) in Montana statt. Weil diese Organisation in der Öffentlichkeit nach der Schießerei in Waco (auch diese Gruppe war wegen ihrer Waffensammlung wohlbekannt) in schlechten Ruf geraten war, luden sie einen Forscher ein, der ein Team organisieren sollte, das die Gruppe zwei Wochen lang studieren sollte.
Einige sehr bekannte Forscher und Wissenschaftler nahmen das Forschungsangebot an, und verschiedene ihrer Aufsätze erschienen in einem Sammelband. Die Studie selbst war jedoch so schlecht geplant und durchgeführt, daß ein anderer Professor und ein Student eine Studie über die Studie anfertigen. Sie behaupten, die CUT-Studie sei ein klassisches Beispiel dafür, wie man NICHT an Forschungsarbeiten herangehen dürfe. Die Finanzierungsquellen lagen niemals klar zutage; es existierte kein Gesamtforschungsplan, Dokumente wurden von den Autoren nur oberflächlich geprüft; und niemand sprach mit einer ausreichend großen Zahl von ausgestiegenen Mitgliedern, was die Gruppe, ihre Überzeugungen und Aktivitäten hätten in anderem Licht erscheinen lassen können. Inzwischen bedauern mehrere wichtige Forscher aus Nordamerika, daß sie sich je auf diese Studie eingelassen haben.

Methodologien

Haben die Forscher erst einmal ein Thema ausgewählt, dann müssen sie die Methoden festlegen, wie sie ihre Daten beschaffen wollen. Hier gilt, daß die Wahl der Methoden politischen Pressionen unterliegen kann.

1. Nicht-Berücksichtigung von Berichten früherer Mitglieder

Eine der Pressionen, die meiner Meinung nach am meisten Schaden angerichtet hat, betrifft die Vorentscheidung, die manche Wissenschaftler trafen, Berichte von früheren Mitgliedern aus ihrer Datensammlung auszuschließen.
Ich habe diesen methodologischen Mangel bereits anläßlich der eben genannten Studie über die Church Universal and Triumphant (CUT) erwähnt.
Die Haltung, Ex-Mitglieder in Studien nicht zu berücksichtigen, begann gegen Ende der siebziger Jahre. Damals reagierten Soziologen so auf die Vorherrschaft von psychologisch begründeten "Gehirnwäsche-" und "Zwangs-" Modellen zur Erklärung entweder der Bekehrung oder des Engagements zu kontroversen Gruppen wie der Mun-Bewegung. Soziologen veröffentlichten eine Reihe von Arbeiten, in denen sie behaupteten, daß sowohl Deprogrammierer wie auch aufgebrachte Eltern "Horrorgeschichten" von Ex-Mitgliedern nur zur Rechtfertigung dafür benutzten, volljährige Kinder zu entführen und zum Widerrufen ihres Glaubens zu zwingen.
Diese "Horrorgeschichten" würden nur die Vorstellung bestärken, daß Gruppen Neulinge einer Gehirnwäsche unterzögen, und demgegenüber versicherten nun Soziologen, daß das GehirnwäscheModell als wissenschaftliche Erklärung von geringem Nutzen sei.
Von dieser Zeit an verwandten Soziologen in ihren Studien kontroverser Gruppen wenn überhaupt, nur wenige Berichte früherer Mitglieder. Sie verließen sich eher auf Informationen von aktiven Mitgliedern.
Man könnte sagen, die Glaubwürdigkeit von Ex- Mitgliedern ist einem Krieg zwischen den Berufsgruppen der Psychologen und Soziologen zum Opfer gefallen. Das Gehirnwäsche-Modell hatte ein Psychiater entwickelt; es hatte sich in den Medien und bei den betroffenen Eltern durchgesetzt. Das Modell weist zwar echte Mängel auf, aber dennoch hat es Hunderten von Aussteigern Hilfe zum Verständnis ihrer dramatischen Hingabe an die Gruppe und ihrer eigenen Persönlichkeitsveränderungen geliefert. Derzeit erlebt es übrigens so etwas wie eine milde Wiederbelebung; einige Wissenschaftler untersuchen die Theorie aufs neue und suchen, ihre vertretbaren Punkte herauszufinden.
Die Nichtbeachtung der Berichte früherer Mitglieder hatte jedoch schwerwiegende und negative Auswirkungen auf die Religionssoziologie. Religionssoziologen schienen sich nun nicht mit der Tatsache zu beschäftigen, daß viele der angeblichen "Greuel-" oder "Horrorgeschichten" zutrafen und Hinweise auf wesentliche Gruppen-Methoden und -Praktiken boten.
Überdies schlossen sich Wissenschaftler damit selbst vom Zugang zu wichtigen Dokumenten aus, die Aussteiger aus ihren früheren Gruppen mitgebracht hatten.
Am schwersten wiegt aber wohl, daß Wissenschaftler die Benutzung der Informationen von früheren Mitgliedern als Teil des (was ernstzunehmende Forscher so nennen) Triangulationsverfahrens ausschlossen. Einfach gesagt, bedeutet Triangulation die Beschaffung von vergleichbaren Informationen aus verschiedenen Quellen; die von Ex-Mitgliedern gelieferten Informationen wurden somit aus dem sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ausgeblendet.
Realistischerweise muß man bei den Berichten von Aussteigern Vorsicht walten lassen, weil möglicherweise persönliche Angelegenheiten ihr Urteil über das Leben innerhalb ihrer früheren Gruppen oder ihre Erinnerung daran trüben.
Standardverfahren der Überprüfung von Fakten hätten aber solche Vorurteile korrigieren können. Statt dessen schlossen Religionssoziologen sich selbst ab von wichtigen Informationsquellen und Dokumenten. Sie straften sogar die Forscher ab, die es wagten, dennoch Aussteigerberichte zu verwenden.
Ich kenne dieses Bestrafungs-Szenario sehr gut, denn es wurde 1993 auf mich selbst angewendet. Im Frühling dieses Jahres protestierte ein Kollege einem Verleger gegenüber gegen einen meiner Artikel, der gedruckt werden sollte. Einer seiner Haupteinwände war, daß er glaubte, der Artikel beruhe auf Aussteigerberichten!
Er hinwiederum wollte selbst gerade Aufsatzbände über "Die Familie" und die "Church Universal and Triumphant" veröffentlichen. Weder er noch sein Mitherausgeber zitierten irgendwelche Informationen von früheren Mitgliedern.

2. Gruppengeheimnisse und geheime Dokumente

Wenn Forscher ihre Untersuchungen teilweise auf Dokumente stützen wollen, dann kann es ihnen passieren, daß sie auf Sozialwissenschaftler stoßen, die ihnen den Zugang zu wichtigem Quellenmaterial verweigern.
Auf einer der Internet-Seiten von Scientology unterstützen einige führende Religionssoziologen zusammen mit Religionswissenschaftlern Scientologys Bemühungen, ihre für die höheren Ränge bestimmten Dokumente geheim zu halten.
Meiner Meinung nach verletzt diese Unterstützung grundlegende sozialwissenschaftliche Postulate über die Notwendigkeit, daß Forscher Zugang zu Forschungsmaterialien haben müssen.
Darüber hinaus wußten schon frühere Soziologen wie Georg Simmel, daß Geheimhaltung ein Mittel ist, mit dem Gruppen ihre Mitglieder unter Kontrolle halten.
Die für die höheren Ränge bestimmten Dokumente können aber wichtige Punkte der Gruppenideologie und der Gruppeneinstellung gegenüber anderen Organisationen enthüllen. Ich finde es verblüffend, daß einige meiner angesehensten sozialwissenschaftlichen Kollegen an etwas teilnehmen, das den wissenschaftlichen Prozeß möglicherweise gefährdet.

Schutz von Dokumenten
Haben Forscher einmal Material gesammelt, sind sie verpflichtet, es aufzubewahren. Andere Forscher könnten etwas überprüfen wollen, und Forscher in der Zukunft haben sonst vielleicht keine Möglichkeit, an diese Information heranzukommen.
Unglücklicherweise haben einige Gruppen systematische Programme durchgeführt, mit denen sie negative Informationen über sie selbst aus Büchereien entfernt und statt dessen ihr eigenes Material zur Verfügung gestellt haben.
Überdies ist vieles von dem gedruckten Material von schlechter (Papier-) Qualität und zersetzt sich in wenigen Jahren. Folglich müssen Forscher diese Dinge konservieren, aber es gibt nur wenige (Förder-) Programme dafür.

3. Veröffentlichungen und Vorträge bei Konferenzen

Wenn es Forschern gelingt, gute Daten über Religionen aufzutreiben, ist es ihre nächste Aufgabe, die Ergebnisse auf Konferenzen vorzutragen und die Resultate zu veröffentlichen. Aber auch hier behindern in unserem Forschungsgebiet akademische Kollegen die normale sozialwissenschaftliche Vorgehensweise.
Leider spreche ich aus Erfahrung, da das Erscheinen eines meiner Artikel verhindert und ein Vortrag für eine Konferenz ohne mein Wissen abgesetzt wurde. Dieser Vorfall ereignete sich vor drei Jahren (1995).
Ein Wissenschaftler gab bekannt, daß er eine Konferenz über "Gewalt in den neuen Religionen" organisiere, also reichte ich die Zusammenfassung eines Vortrags über Gehirnwäsche-Camps ein, die zwei umstrittene Gruppen betrieben hatten. Einer meiner graduierten Studenten reichte ebenfalls die Zusammenfassung eines Vortrags über religiös motivierten sexuellen Mißbrauch ein.
Ich erhielt eine seltsame, abweisende Antwort von dem Organisator der Konferenz, die jedoch mit einer Annahme des Vortrags endete, also dachte ich, alles sei in Ordnung. Als ich einen Monat vor der Konferenz immer noch kein Konferenzprogramm erhalten hatte, nahm ich Kontakt mit dem Organisator auf. Ich war schockiert, als ich erfuhr, daß er meinen und meines Studenten Vortrag aus dem Programm gestrichen, mir aber nichts davon mitgeteilt hatte. Später erfuhr ich, daß er einige Monate nach seiner eigenen Konferenz einen Vortrag über Gehirnwäsche halten würde, zweifellos von einem Standpunkt aus, der dem in meiner Zu Anzeige sammenfassung vorgeschlagenen völlig widersprach.
Im wesentlichen hat also hier ein Wissenschaftler den wichtigen Prozeß der wissenschaftlichen Meinungsbildung behindert, offensichtlich um seine eigene Interpretation einer strittigen Frage zu schützen.
Ernsthafter noch war ein Vorfall im Jahre 1993, als zwei Wissenschaftler mit "Die Familie" zusammenarbeiteten und eine meiner Veröffentlichungen, die gerade erscheinen sollte, verhinderten. Ich will diese höchst komplizierte Geschichte kürzen, aber wichtige Punkte darin waren, daß einer der beiden "Die Familie" über meinen bevorstehenden Artikel informierte, daß dann "Die Familie" einen anderen Sozialwissenschaftler, der den Artikel nicht einmal gelesen hatte, dazu brachte, einen Protestbrief an den Verleger zu schreiben. (Der Titel des Aufsatzes deutete darauf hin, daß die Gruppe ihn nicht mögen würde.)

Aus Furcht vor einem teuren Gerichtsverfahren lehnte der Verleger die Veröffentlichung des Artikels wegen der Einwände seiner zwei akademischen Herausgeber ab. Danach gab der Wissenschaftler, der den Brief geschrieben hatte, sein eigenes Buch über dieselbe Gruppe heraus. Es enthielt auch einen Aufsatz des ersten Wissenschaftlers, der wahrscheinlich "Die Familie" von meiner Studie, die gerade erscheinen sollte, in Kenntnis gesetzt hatte.
Auch hier behinderten also Wissenschaftler in einflußreichen Positionen die normale wissenschaftliche Vorgehensweise, um ihre eigenen Interpretationen zu schützen.

Schlußfolgerungen

All diese Geschichten deuten darauf hin, daß die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Religion ein sehr menschliches Unternehmen ist. Als Sozialwissenschaftler müssen wir nach sozialen und strukturellen Erklärungen dafür suchen, weshalb sich Behinderungen der wissenschaftlichen Vorgehensweise zutragen und warum einige begabte Forscher bei der Auswahl ihrer Themen und der Durchführung ihrer Forschung von falschen Voraussetzungen ausgehen.
Meines Erachtens kommen mehrere Gründe zur Erklärung dessen zusammen, was ich abnormes Verhalten unter denjenigen, die Religionssoziologie bzw. Religionswissenschaft betreiben, nennen möchte.

Erstens ist Forschung sehr teuer.

Außerdem dürfte es schwierig sein, Geldmittel für unsere Forschungen aufzutreiben, weil die Untersuchung der Religion im Vergleich mit vielen anderen sozialwissenschaftlichen Arbeitsgebieten am Rande steht. Folglich ergreifen viele von uns Gelegenheiten zu "freier Forschung", ohne über die Frage der langfristigen nicht-finanziellen Kosten nachzudenken.

Zweitens sind manche Forscher, die eine wichtige Rolle in der gegenwärtigen Forschungsszene spielen, nicht Professoren an Colleges oder Universitäten.

Sie sind unabhängige Forscher, die ihre eigenen Forschungsinstitute leiten und manchmal sogar ihre eigenen Verlage. Sie hängen von der Aufmerksamkeit der Medien ab, damit das Interesse an den Gruppen, die sie untersuchen, aufrechterhalten bleibt, und sie hängen von den Gruppen selbst in finanzieller Hinsicht ab.
Während Forscher, die Universitätsprofessoren sind, einige freie Reisen und gelegentliche Beratungsaufträge von den Gruppen bedenkenlos akzeptieren könnten, leisten diese unabhängigen Forscher einen beträchtlichen Teil bezahlter Arbeit für diese umstrittenen ideologischen Organisationen.
Diese Gruppen haben oft Geld, das sie für diese unabhängigen Forscher ausgeben können, da die Forschungsarbeit, die diese produzieren, für die Gruppen zu nützlicher Öffentlichkeitsarbeit wird.

Drittens verwundert mich am meisten, daß Professoren an Bemühungen teilnehmen, ausschlaggebende religiöse Dokumente geheimzuhalten.

Aber ich habe ein paar Ideen, wie man das erklären könnte. Eine Möglichkeit ist, daß die Gruppenleitung ausreichend enge persönliche Beziehungen zu wichtigen Professoren entwickelt hat, so daß diese Professoren sich persönlich zur Hilfe für ihre sogenannten "Freunde" verpflichtet fühlen. Es ist gewiß so, daß viele neue religiöse Führer Forschern ein Gefühl der Bedeutung gegeben haben, das diese Forscher von ihren Kollegen auf dem jeweiligen Forschungsgebiet wahrscheinlich nicht erhielten. Um diese Quelle gesellschaftlicher Geltung (und gelegentlich des Einkommens) zu erhalten, sind Religionsforscher anscheinend bereit, grundlegende wissenschaftliche Prinzipien zu opfern. Wissenschaft räumt das Feld vor Geld und gesellschaftlicher Geltung.

Viertens behindern einige Sozialwissenschaftler die normale wissenschaftliche Vorgehensweise, wenn sie glauben, daß diese Behinderung ihre eigenen Interpretationen schützt.

Forscher schlagen am ehesten diesen Weg ein, wenn sie enge persönliche Beziehungen mit ihren Forschungsgegenständen entwickelt haben oder wenn ihre berufliche Stellung nicht sicher ist und sie sich vor den Folgen einer In-FrageStellung ihrer Position fürchten.
Nimmt man alles zusammen, wird mir klar, daß die sozialwis-senschaftliche Untersuchung von Religion mit menschlichen Urteilen angefüllt ist, die mit der wissenschaftlichen Vorgehensweise nicht vereinbar sind.
In den meisten Fällen hinken veröffentlichte Forschungsarbeiten den tatsächlichen Ereignissen um Jahre nach. Viel mehr Daten werden gesammelt als veröffentlicht, vieles von dem, was veröffentlicht wird, ist entstellt. Gruppen selbst nehmen aktiv an den Forschungen teil und verwandeln dabei manchmal mit Erfolg eine Chance für die Wissenschaft in einen Erfolg ihrer Öffentlichkeitsarbeit.
#

Ende Seite 8
weiter Seite 9 (43 KB)
Anfang

Dr. Stephen A. Kent
Dr. Stephen A. Kent, 46,
ist ordentlicher Professor
an der soziologischen Fakultät
der University of Alberta, Kanada.
Derzeit arbeitet er hauptsächlich über
nicht-traditionelle und alternative Religionen.
Zuschriften an:
Department of Sociology,
University of Alberta,
Edmonton, Alberta,
Canada T6C2H4