= PAGE 0006 = goto S9 (17 KB)

LEITARTIKEL

Bis hierher und nicht weiter!
Aussteiger berichten - wie gehen mir damit um?

von Gabriele Lademann-Priemer

Frau M. kam zu mir, um über ihre bitteren Erfahrungen in der "Lichtburg" zu berichten. Die Lichtburg ist eine Hamburger Gruppierung, in der ein Gemisch aus Christentum und Esoterik gelehrt wird. "Offenbarungen" der Gründerin stehen im Mittelpunkt. Frau M. war 12 Jahre in der Lichtburg. Sie war ein Mitglied "der ersten Stunde". Weil sie ihre beste Freundin nicht an die Lichtburg verlieren wollte, ging sie selbst mit. Die Freundin starb dann dort vor einigen Jahren an Krebs. Angeblich wurde sie am Arztbesuch gehindert.

Frau M. hatte nach langen inneren Auseinandersetzungen den Weg aus der Lichtburg gesucht, mit ihr sind mehrere Menschen gleichzeitig von dort weggegangen. In vielen Gesprächen schilderte sie mir ihren Werdegang, ihre persönlichen Probleme, ihre Schwierigkeiten mit der Lichtburg und deren Gründerin und die internen Vorgänge.

Gute Nachrichten aus der Lichtburg

In der Zeit dieses Kontaktes tauchte eine Dame bei mir auf, die nach eigenen Angaben ganz spontan auf den Gedanken gekommen war, bei mir einfach einmal "vorbeizuschauen", um mir von der Lichtburg zu erzählen. Sie unterstrich, daß wir doch beide, die Lichtburg und ich, für den Frieden in der Welt beten und auf dieser Welt Liebe verbreiten wollen. Beiläufig erwähnte sie auch noch, daß Frau M. schon von Anfang an eine höchst schwierige Person gewesen sei, die die Gruppe sehr mit ihren Problemen belastet habe. Diese Dame kam noch einige Male vorbei, manchmal in Begleitung, um mir über andere Aussteiger zu berichten und mich vor ihren "Lügen" zu warnen. Besonders über einen Mann fällte sie das Urteil, er sei ... "ein Judas".

In der Lichtburg sei er fröhlich und offen gewesen. Plötzlich habe er jedoch begonnen, die Lichtburg zu diffamieren, er dränge andere zum Ausstieg. Auch habe man ihn neulich, nach seinem Ausstieg, verwahrlost in der Untergrundbahn angetroffen. (Zum Zeitpunkt dieses angeblichen Zusammentreffens war der Mann gar nicht in Hamburg. Er hatte mir gerade einen Brief aus seiner Heimat geschrieben und mir mitgeteilt, daß er eine Arbeitsstelle antritt.) Der Dame aus der Lichtburg teilte ich mit, daß ich mir selber ein Bild machen könne.

Wie Aussteiger diskreditiert werden

Ich werde häufig davor gewarnt, mich von Aussteigern "mißbrauchen zu lassen". Auch andere Gruppen schicken mir zu diesem Zweck Mitglieder.
"Der Abtrünnige braucht im allgemeinen eine Selbstrechtfertigung. Er muß seine eigene Vergangenheit neu konstruieren, um seine frühere Verbindung zu entschuldigen... Es ist nicht unüblich, daß der Abtrünnige eine 'Schauergeschichte' einstudiert, um zu erklären, wie er mittels Manipulation, Tricks, Zwang oder Täuschung dazu verführt wurde, sich einer Organisation anzuschließen oder ihr treu zu bleiben, der er jetzt abschwört und die er verdammt..."

"Er muß immer als jemand gesehen werden, dessen persönliche Vergangenheit ihn für Voreingenommenheit sowohl in Bezug auf seine früheren Überzeugungen als auch in Bezug auf seine früheren Kameraden prädestiniert." Soweit beruft sich die FREIHEIT, eine scientologische Zeitschrift, auf Prof. Bryan Wilson, Oxford.

"Wissenschaftler haben immer wieder auf den notorisch unzuverlässigen Charakter von Zeugenaussagen ehemaliger Mitglieder jeglicher Religion hingewiesen. Aufgrund der wissenschaftlichen Befunde von Experten..., die dieses Phänomen in einem neuen Licht erscheinen lassen, werden Religionen in Zukunft hoffentlich nach ihren eigenen Schriften und Handlungen beurteilt und nicht nach den Erzählungen verbitterter ExMitglieder." heißt es in: FREIHEIT, Was steckt hinter den Lügen über die Glaubwürdigkeit von "Ex-Mitgliedern", S. 15.

Warum Menschen "abtrünnig" geworden sind, interessiert die Verfasser dieser Sätze nicht. Ein Mensch ist nach scientologischem Denken für sich, aber auch für das, was ihm widerfährt, selber verantwortlich. So können Anklagen und Beschwerden von Aussteigern als Diffamierungen abgetan werden.

Auch außerhalb von Scientology gibt es ein merkwürdiges Klima, in dem Berichte von "Sektenopfern" und deren Angehörigen als unzuverlässig abqualifiziert werden. Sie gelten als gefärbt, als einseitig, sie haben das vermeintliche Ziel, ihre ehemalige Gruppe anzuschwärzen. Daß Gruppenmitglieder und Leiter und Leiterinnen von Gruppen es so ansehen, ist nicht verwunderlich. Man würde sich wundern, wenn sie den Ehemaligen Recht gäben.

Selbstkritische Zeugen

Es ist jedoch schwer zu verstehen, daß sich Außenstehende diesem Urteil anschließen. Es kann leicht geschehen, daß die Täter zu Opfern einer Verschwörungstheorie geschönt und die Opfer zu Tätern gemacht werden.

Die ehemaligen Mitglieder können aber ihre Erfahrungen und Beobachtungen mit Tonbandkassetten, Schrifttum, sei es gedruckt, seien es Mitschriften, und mit Zeugenaussagen belegen. Die Tonbandkassetten, die ich kenne, sind keine heimlichen Mitschnitte, sondern offizielle Dokumente. Sie wurden von der Leitung aufgenommen, damit sich die Gruppenmitglieder die Kassetten noch einmal "in aller Ruhe" anhören. Die Ehemaligen berichten selber von ihren Erlebnissen und von den Vorgängen in der Gruppe mit wahrhaft wissenschaftlicher Akribie. Sie gehen dabei sogar das Risiko ein, sich selbst in ein schlechtes Licht zu rücken, denn sie haben doch all das mitgemacht, was sie beschreiben. Manche geben unverhohlen zu, daß sie andere Gruppenmitglieder angeschwärzt haben, daß sie sich daran beteiligt haben, andere während einer Gruppensitzung "fertig zu machen". Sie stellen sich oftmals gar nicht als unschuldige Opfer dar. Sie betonen jedoch, daß sie irgendwann dem inneren und äußeren Druck nicht mehr haben standhalten können. Sie haben unter Alpträumen, Gewissensbissen und Kopfschmerzen gelitten. Eine Frau sagte: "Mein Rückgrat ist gebrochen worden".

Viele Aussteiger haben auch ihre Reaktionen auf Vorgänge in der Gruppe genau beobachtet und im Gedächtnis behalten. Eine Frau schilderte sehr genau, wie sie unter Zwiespältigkeiten gelitten hat. Bei Scientology seien keine echten Freundschaften möglich, sie habe zwar "nette Leute" kennengelernt, aber sie hätten sich immer gegenseitig bespitzelt und seien angehalten worden, einander anzuzeigen, wenn einer gegen die Gruppe "verstieß". Dasselbe gilt auch für manche andere Gruppierungen.

=PAGE 0007=

Auch Bücher und Schriften haben zwiespältige Gefühle ausgelöst. Einige Absätze in den Schriften Hubbards sind ausgesprochen frauenfeindlich. Das hat eine ehemalige Scientologin auch wahrgenommen, die Wahrnehmung wurde ihr ausgeredet. Habe jemand die Widersprüche in Schrift und Verhalten benannt, so wurde ihm oder ihr geraten, noch mehr zu lesen, dann werde sich der Zwiespalt schon aufklären. Daß die Menschen diesem Zwiespalt und ihrer inneren Abwehr zunächst nicht nachgegeben haben, ist mit dem Gruppendruck zu erklären. Sie fanden sich mit ihrer Kritik stets als einzelne, während die Gruppe ihnen gemeinsam klargemacht hat, mit ihnen sei "etwas nicht in Ordnung" oder "sie seien noch nicht weit genug fortgeschritten", "die Zeit werde es schon erweisen" oder auch "...uns ging es anfangs ebenso, das gibt sich". Erstaunlich ist es, daß sich am Ende doch noch die eigenen Gefühle und Überlegungen durchgesetzt haben.

Wenn der Teufelskreis durchbrochen wird

Manche Sektenaussteiger haben einen schweren Lebensweg hinter sich, gleichgültig, ob sie bereits in einer Gruppierung aufgewachsen oder ob sie in späteren Jahren eingetreten sind. Es sind Lebensläufe, die Brüche aufweisen. Manchmal steckt Gewalt im Elternhaus hinter der Suche nach Geborgenheit in der Gruppe, manchmal zu großer Leistungsdruck, manchmal die Suche nach religiöser Erfahrung. Es gibt vielfältige Gründe, in eine Gruppe einzutreten.
Aber auch diejenigen, die in einer rigiden Gruppe aufgewachsen sind, haben oft Gewalt oder Unterdrückung erlitten. Auch sie suchen Freiheit.

Frauen, die in der Neuapostolischen Kirche groß geworden sind, haben mir von Schlägen in der Kindheit berichtet. Der Vater habe die Mutter, die Mutter die Tochter geschlagen. Einmal sei die eine von ihnen sogar mit dem Plätteisen geprügelt worden, ein Finger wurde gebrochen. Zwei Frauen, die sich von den Zeugen Jehovas getrennt hatten, kamen zu mir, weil sie einen neuen Anfang suchten, sie wollten endlich eine Lehre machen. Als Kinder mußten sie stets zur Versammlung, als Mädchen durften sie keine Lehre machen. Mit 16 Jahren verließen sie das Elternhaus, es begann eine problematische Zeit mit verschiedenen Beziehungen, in einem Fall führte der Weg durch die Drogenszene. Sie haben den neuen Anfang gefunden! Hamburger Behörden waren zur Hilfeleistung bereit, das Leben konnte endlich in geregelten Bahnen laufen.

Menschen, die unter starkem Druck und Gewalt gelitten haben, sind im späteren Leben anfällig für erneuten Druck und neue Gewalt. Es ist ein Teufelskreis, der durchbrochen werden muß. Diese Menschen haben ihren Lebenslauf nicht verklärt oder beschönigt. Sie haben den Zwiespalt zwischen Anspruch und Wirklichkeit zur Sprache gebracht, nämlich den Zwiespalt, der darin besteht, daß Liebe gepredigt wird, zu Hause aber Aggressionen bis hin zur Gewaltanwendung herrschten. Denselben Zwiespalt zwischen Anspruch und Wirklichkeit, gepredigter Liebe und Ausübung von Macht und psychischer, gelegentlich sexueller Gewalt, haben die Menschen auch in der totalitären Gruppe erlebt. Sie haben Angst vor ihren eigenen Aggressionen und sie verbieten sich selbst Ärger und stellen an sich den Anspruch, immer lieb sein zu müssen. Ärger, Wut, Gegenwehr könnten ihnen gefährlich werden, so haben sie es stets erfahren. Sie fühlten sich ständig als unterlegen. Es kostet Mut, Überwindung und manchmal professionelle Hilfe, den Versuch der Gegenwehr zu wagen. Ehemalige Sektenmitglieder unterscheiden sich durchaus nicht von vielen andern Menschen, die niemals in Sekten gewesen sind. Der Eintritt in eine Gruppierung ist nur einer unter mehreren Wegen, mit Erfahrungen aus Kindheit und Jugend umzugehen.

Glaubwürdigkeitsprobleme

Es wäre sehr kühn, solche Berichte als unglaubwürdig zurückzuweisen. Schwierig ist die Frage, ob es sich um "Einzelfälle" handelt. Sicherlich trifft es nicht zu, daß Gewaltanwendung für alle Haushalte der Neuapostolischen Kirche gilt. Sicher ist es nicht in allen Familien der Zeugen Jehovas verboten, daß Mädchen eine Lehre machen. Hier ist die Gewichtung das Problem. Es gibt jedoch Aussagen derer, die von sich sagen: "Ich habe als Leiter einer Versammlung oder als Dienstamtsgehilfe andere unterdrückt, ich habe Ratschläge gegeben, die andern geschadet haben." Für manchen ist es ein Akt der Wiedergutmachung, seine Geschichte und gruppeninterne Praktiken zu veröffentlichen, um Menschen zu warnen. Es ist auch zu prüfen, ob Verhaltensweisen und Praktiken durch interne Literatur gedeckt sind. Manchmal läßt sich aus der Literatur nachweisen, daß das beklagte Verhalten mit den Lehren in Übereinstimmung steht. Frauen sollen sich unterordnen, Kinder gezüchtigt werden. In der Lichtburg zeigen die Mitschriften von "Offenbarungen", daß Verdächtigungen und Ausübung von Druck als von der "Geistigen Heimat" legitimiert gelten. Ein weiteres Problem bei der Auswertung von Darstellungen besteht darin, daß ein Aussteiger, wenn er nicht aus der Chefetage kommt, nur ausschnitthaftes Wissen hat. Viele Gruppen haben interne Zirkel, in die nicht jeder hineinkommt. Ein Aussteiger kann selten ein Gesamtbild entwerfen. Hier sind weitere Recherchen nötig.

Selbsthilfegruppe oder Verschwörung?

Viele Aussteiger wissen gar nicht, ob ihr Problem mit der Gruppierung ein Einzelfall ist oder ob es sich um eine allgemeine Erscheinung handelt. Ja, sie leiden darunter, daß man sie für unglaubwürdig oder übertrieben halten könnte, sie befürchten oftmals selbst, sie würden überzeichnen. "Sehe ich das richtig, oder bilde ich mir das alles in Wirklichkeit nur ein?", eine Frage, die mir häufig begegnet.
Wenn sich Aussteiger in Gruppen zusammenschließen, dann tun sie es in der Absicht, sich gegenseitig zu unterstützen und füreinander als Zeugen einzutreten. Die Gruppenbildung aber wird von außen wiederum aus erkennbaren Motiven als Verschwörung diffamiert.

Druck gegen Aussteiger

Wir begegnen zunehmend einer weiteren Ebene der Auseinandersetzung für Aussteiger und mit bestimmten Gruppen: der Justiz. Nicht nur Scientology, auch andere Gruppierungen wehren sich mit Hilfe von Anwälten und mit Anrufung der Gerichte gegen Aussteiger und ihre Darstellungen. Dabei geht es nicht unbedingt darum, auch tatsächlich einen Prozeß zu führen, sondern es geht darum, Menschen einzuschüchtern, mundtot zu machen, sie mit Androhung von Geldbußen, Unterlassungsaufforderungen und Aufforderungen, ihre Aussagen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückzunehmen, unter Druck zu setzen. Die Justiz wird zum "strategisch bedeutsamen Terrain" (Prof Abel). Auf diesem Terrain wird der Versuch gemacht, juristisch gegen Buchrezensionen vorzugehen, wir erleben, daß kritische Aussagen über Gruppen oder deren Praktiken auf dem Sektor des Familienrechts als "Verletzung von Persönlichkeitsrechten" hingestellt werden und ähnliches. Dieses neuartige Terrain weltanschaulicher Auseinandersetzung wird weithin nicht wahrgenommen und ist oftmals noch gar nicht bekannt. Für manche Aussteiger ist es unabwendbar, sich auf diese Ebene zu begeben, sei es daß sie um ihre Kinder kämpfen, sei es daß sie sich gegen Verleumdungsklagen wehren müssen oder daß sie als Zeugen gebraucht werden gegen illegale und menschenverachtende Praktiken.

=PAGE 0008=

Dialog und Solidarität mit den Opfern

Für unser christliches Verständnis von Sekten, vom Dialog mit Gruppen und vom Umgang mit dem Ausstieg und Ausstiegsberichten öffnet sich damit Neuland. Es wird uns allerdings nichts anderes übrigbleiben, als dieses Neuland zu betreten, wenn wir nicht uns selbst und diejenigen, die sich unserer Hilfe anvertrauen, verraten wollen. Das kostet Umdenken, Nerven und Geld. Für ehemalige Mitglieder kommt die Furcht hinzu, tatsächlich von Verfolgung bedroht zu sein, manche fürchten auch die "mentale" Bedrohung, die ausgehen soll von den negativen Gedanken und Geistesmächten, die den Gruppen angeblich zur Verfügung stehen. Sie haben früher als Gruppenmitglieder an Sitzungen teilgenommen, in denen man sich auf Kritiker und Aussteiger negativ konzentriert hat. Sie sind überzeugt von der Macht der Gedanken. Sie würden nicht gegen ihre frühere Gruppe als Zeugen auftreten, wenn sie keine Fakten vorzuweisen hätten. Ihre Aussagen bergen für sie große Risiken.

Ängste

Ehemalige Mitglieder haben oft eine verzerrte Kenntnis über die Größe ihrer Gruppe und den gesamtgesellschaftlichen Einfluß. Gerade im Bereich des Satanismus wird ihnen vorgegaukelt, die Gruppe sei weltumspannend und ihr Einfluß reiche überall hin. Diese Sicht sagt mehr über das satanistische Angstsystem aus als über Fakten. Die Auswertung von Gesprächen aus dem Bereich Satanismus unterliegt der besonderen Schwierigkeit, daß die Grenzen von Fakten, Täuschung und Angstvorstellungen verschwimmen. Den Leitern ist daran gelegen, die Grenzen verschwimmen zu lassen und eine totale Verängstigung zu erzielen. Fakten sollen nicht bekannt und Menschen unter Druck gehalten werden. Über ihr Erleben in diesem Raum können die Betroffenen jedoch zuverlässig berichten, selbst wenn es sich nicht immer um Tatsachen handelt. Das Erleben mit all seinen Schrecken hat jedoch Aussagekraft.

Verschwörung von Abtrünnigen und Anti-Kult-Bewegung?

Daß Leiter und Leiterinnen von Gruppen behaupten, es gäbe eine Verschwörung von Staat, Polizei und Kirche, die sich von Aussteigern instrumentalisieren lassen (oder die Aussteiger instrumentalisieren!), um Machtpolitik zu betreiben, erstaunt mich nicht. Warum übernehmen aber Außenstehende diesen Vorwurf?

Ich will einige Antworten zu geben versuchen:
Manche Geschichten klingen so unglaublich, daß man sie einfach nicht zu glauben vermag. Daß sich Menschen dazu überreden lassen, mit schwerer Kranheit nicht zum Arzt zu gehen oder sich gegen ihren Willen auf bestimmte Sexualpraktiken zu einlassen, kann man sich einfach nicht vorstellen, sofern man solche Lebensläufe und Widerfahrnisse nicht kennt. Es ist aber nicht immer leicht, sich darauf einzulassen, denn man muß mit dem eigenen Widerwillen, Entsetzen und der eigenen Abwehr fertig werden. (Manchmal stellt sich auch mir die Frage, warum Gott so etwas eigentlich zuläßt!) Ferner muß man wissen, daß es Gruppen gibt, die eine Außenseite und eine Innenseite haben, die sich wie Tag und Nacht unterscheiden.

Das eigene Bild von Religion oder "Neuen Religiösen Bewegungen" verstellt so lange den Zugang zu Aussteigerberichten, bis es in seiner Bedingtheit und Unzulänglichkeit erkannt ist. Solange das eigene Bild von Religion keine Zwiespältigkeit zuläßt, gewinnt man kein Verständnis für die Gespaltenheit von Menschen und versteht weder ihre Schilderungen noch die Gruppen mit Außen und Innenseite. Dieses Unverständnis birgt die Gefahr in sich, die "Schwärze" auf "Sektenkritiker" und Sektenbeauftragte zu projizieren und ihnen Verzerrung, Überzeichnung oder gar Eifer für die eigene Sache vorzuwerfen.

Ich spüre an mir selber, daß ich aggressionsgehemmt und konfliktscheu bin. Ich sehe, daß dasselbe auf viele Kirchenleute zutrifft. Wir möchten tolerant sein und möglichst keinem wehtun. Das ist mit Sicherheit nichts schlechtes. Wir brauchen auch unsere christlichen Auftrag nicht zu schützen, indem wir aggressiv gegen andere Denkweisen und Glaubenshaltungen vorgehen. Ich habe eher den Eindruck, wir sollten hier und da die eigene Sache überzeugender tun. Menschen aber kommen zu uns, um bei uns Schutz und Zuflucht suchen. Oft sind sie von Leid gezeichnet. Ihnen gegenüber gilt es, sich nicht konfliktscheu an einen Toleranzbegriff zu klammern, sondern deutlich Farbe zu bekennen und menschenverachtende Praktiken zu benennen, auch auf die Gefahr hin, als intolerant oder missionseifrig zu gelten oder selber in Gerichtsverfahren hineingezogen zu werden.

Ich bin jenen hell gekleideten Damen mit strahlenden Augen aus der Lichtburg dankbar. Sie haben mich spüren lassen, wie leicht man auf Selbstdarstellungen hereinfallen kann, wenn man nur die eine Seite sieht und hört. Ich habe mich bei ihrem ersten Besuch selbst gefragt, ob ich die ganze Sache vielleicht zu negativ beurteile oder falsch informiert bin.

Betroffene vertrauenswürdige Zeugen

Ich bin jedoch immer wieder zutiefst erstaunt, wie genau ehemalige Mitglieder ihre Gruppierungen zu schildern in der Lage sind. Sie wollen bei ihrer Darstellung keinen Fehler machen, sie wollen zwar warnen, aber sie wollen nicht anschwärzen. Sie haben die Lüge erlebt, daher fühlen sie sich der Ehrlichkeit verpflichtet. Das ist für sie eine ethische Frage, für viele ist es darüber hinaus auch eine religiöse Frage. Sie wollen sich nicht den Zorn Gottes oder der himmlischen Welt zuziehen.

Wenn der Ausstieg aus einer Sekte gelungen und das persönliche Problem eines Menschen gelöst ist, so entpuppt sich eine verantwortungsbewußte selbständige Persönlichkeit. Das erwähnte "gebrochene Rückgrat" meiner einen Gesprächspartnerin ist nun gestärkt. Sie hat gelernt, denen zu mißtrauen, die ihr einreden wollen, sie wüßten, was ihr guttut. Sie kann sich auf ihr eigenes Wertesystem und ihre Gefühle verlassen. Wir können solchen Heilungsprozeß nicht hervorrufen, aber wir können ihn behindern oder zu fördern suchen.



Pastorin Dr. Gabriele Lademann-Priemer, 52, Geschäftsführerin der evangelischen "Konferenz der kirchlichen Beauftragten für Sektenund Weltanschauungsfragen in der EKD" (EKW), promovierte nach eigenen Feldforschungen über ein Thema aus dem Bereich afrikanischer Religionen und Kulte. Zusatzausbildung in Person-zentrierte Gesprächsführung und Seelsorge; seit 1992 kirchliche Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Sprengel Hamburg der Nordelbischen Evangelischen Kirche.

next page S 9
top
Inhaltsverzeichnis