1. Zur Gültigkeit Fröbelscher Theorie heute

Friedrich Fröbel, einer der bedeutendsten deutschen Pädagogen des 19. Jahrhunderts, der Schöpfer des weltweit verbreiteten Begriffs "Kindergarten" und der dazugehörigen Institution und der Spieltheorie, war lange Jahre (1817 bis 1831) Schulleiter eines von ihm geschaffenen - für damalige Verhältnisse - neuen Schultyps. Sein Hauptwerk "Die Menschenerziehung", dieser Titel beschreibt schon das Konzept, verfaßte er 1826 in Keilhau, einem kleinen Dorf bei Rudolstadt in Thüringen, in das er 1817 seine ein Jahr zuvor in Griesheim bei Stadtilm gegründete "Allgemeine Deutsche Erziehungsanstalt" verlegte. Seine Erkenntnisse beruhten auf den sich gerade entwickelnden Ideen zur Erziehungswissenschaft, vorwiegend aber auf Beobachtung der Kinder und Intuition; eine pädagogische und psychologische Wissenschaft existierte noch nicht. Viele seiner Erkenntnisse finden wir rund 100 Jahre später in der Entwicklungs- oder Persönlichkeitspsychologie wieder.

So mußte Fröbel bei dem damals sehr hohen Anspruch, Kinder erziehen zu wollen, die Entwicklung des Kindes in seinen Anlagen und seinem Umfeld erforschen. Dabei teilte er diese in Stufen ein und ergründete ihre Besonderheiten und den Einfluß innerer und äußerer Bedingungen dafür. Unter günstigen äußeren Bedingungen ist ein optimales und ausgeglichenes Werden des Kindes möglich.

"... so entwickeln sich auch Welt und Leben dem Kinde und in dem Kinde nur als Einzelheiten und in Aufeinanderfolge; so sollen auch die Kräfte, Anlagen und Richtungen, die Glieder- und Sinnentätigkeit des Menschen in der notwendigen Reihenfolge entwickelt werden, in der sie selbst an und in dem Kinde hervortreten." 1)

In dieser Arbeit möchte ich ein Konzept entwickeln, wie mit Fröbelscher Theorie und Methode sprachbehinderte und lerngestörte oder besser gesagt schwer lernende Kinder im Grund - und Regelschulbereich rehabilitiert, gefördert werden können. Es geht nicht darum, Fröbel orthodox zu übertragen, sondern seine Leistungen mit heutige Erkenntnissen zu verknüpfen. Fröbel ist vorwiegend mit dem Begriff "Kindergarten" verbunden, den er auf einem Spaziergang von Keilhau nach Bad Blankenburg prägte. Wenigen ist aber bekannt, daß er, bevor er den Kindergarten schuf, eine eigene Schule betrieb. Aus dem schulpädagogischen Wirken, das den größten Teil seines unruhigen Lebens ausmachte, entwickelte er die Vorstellung der ganzheitlichen Erziehung von der Vorschulerziehung bis zur Berufsausbildung bzw. Hochschulreife. Die Bildung bezog er in die Erziehung mit ein. Der Lehrer war an Fröbels Schule vor allem Erzieher.

In Keilhau entstanden seine wichtigsten Schriften zur Pädagogik, Gedanken zur sphärephilosophischen Erziehung und zum erziehenden Unterricht. Sein Grundanliegen war nicht das Hervorheben einer bestimmten individuellen Besonderheit oder subjektiver Neigungen, sondern eine umfassende Ausbildung aller Seiten des jungen Menschen, nicht nur einer intellektuellen, auch einer emotionellen, einer moralischen (sittlich - religiösen) und einer praktischen, handlungsfähigen. Fröbel ging von drei Grundpotentialen aus, die im Kind wirken, der "Anschauung" und des "Erkennens" (sprachlich - kognitive Fähigkeiten/Intelligenz), der "Fertigkeiten" (Körperbeherrschung, manuelle Geschicklichkeit) und des Sittlich - Religiösen.2)

"Deshalb sollen Erziehung, Unterricht und Lehre ursprünglich und in ihren ersten Grundzügen notwendig leidend, nachgehend (nur behütend, schützend), nicht vorschreibend, bestimmend, eingreifend sein." 3)

Der Begriff "notwendig leidend" wirkt etwas ungewohnt, ist aber in dem Sinne gemeint, daß der Erzieher und Lehrer vor allem im Anfangsunterricht ein Verhalten entwickelt, mit dem Kind bei der Erziehung mitzufühlen. Ein Gefühl soll entwickelt werden für die Sorgen und Nöte des Kindes bei der Verarbeitung angebotener Inhalte.

Vielleicht besteht das Dilemma in unserem heutigen Schulsystem darin, daß viele Pädagogen nur noch Stundenhalter sind und das "Problem" Kind nicht mehr in den Mittelpunkt stellen, daß Gesetzlichkeiten kindgemäßes Handeln der Pädagogen einschränken oder die freiheitliche Demokratie oder sozialer Friede falsch interpretiert wird, von Eltern, Lehrern, der Gesellschaft überhaupt? Das betrifft nicht nur die Pädagogen allein, sondern auch die Eltern, die unter anderem durch Medienshows oder diffuse Diskussionsrunden alternativer Gruppen in Erziehungsfragen verunsichert werden und hilflos dem Verhalten ihrer Kinder gegenüberstehen oder durch überzogene Lebensansprüche die Sorgen ihrer Kinder vernachlässigen. Die sogenannte soziale Deprivation von Geburt an, verbunden mit sensorischer, verhindert die Entwicklung eines ausgeglichenen Seelenlebens des Kindes. Inadäquate Verhaltensmodelle der Eltern und auch einiger außerfamiliär agierenden Erzieher und Lehrer beeinflussen das stark ausgeprägte Nachahmungs- oder Modellernen im Kleinkindalter.

"Alles Innere wird von dem Innern an dem äußern und durch das äußere erkannt. Das Wesen, der Geist, das Göttliche der Dinge und des Menschen wird erkannt an seinen, an ihren äußerungen. Ob diesem nach nun gleich die äußerungen des Menschen und der Dinge dasjenige sind, an welches sich alle Erziehung, aller Unterricht, alle Lehre, alles Leben als Erzeugnis der Freiheit anknüpft, und von dem äußern ausgehend auf das Innere wirkt und schließt, so kann und darf dennoch die Erziehung nicht von dem äußern auf das Innere geradezu schließen, sondern das Wesen der Dinge fordert, daß immer in irgendeiner Beziehung umgekehrt von dem äußern auf das Innere, und von dem Innern auf das äußere geschlossen werde...

Das Nichtanwenden der eben ausgesprochenen Wahrheit, sondern das stete Sündigen dagegen, das Geradeschließen von gewissen äußern Erscheinungen im Kinder- und Knabenleben auf das Innere derselben, ist der wesentlichste Grund der streitenden, widerstrebenden Erscheinungen, der so häufigen Mißgriffe im Leben und in der Erziehung; hierin hat unendlich viel Mißkennung der Kinder, Knaben und Jünglinge, hierin hat soviel mißratene Kindererziehung, so viel Mißverständnis zwischen Eltern und Kind entweder von der einen oder der anderen Seite her, so viel unnötiges Klagen, sowie ungebührliches Erheben und törichtes Erwarten von den Kindern seinen gewissen Grund." 4)

Fröbel beschrieb in seiner "Menschenerziehung" weiter, daß eine verständnisvolle Erziehungsarbeit auch mehr "Ruhe in die Eltern-, und Kinder-, Zöglings- und Erzieher-, Schüler- und Lehrerverhältnisse bringen" und sieht damit das Kind eingebettet in die ihn umgebende Welt der Personen und Gegenstände. So wie die Umgebung reagiert, sich verändert, wird sich auch das Kind verändern, ein für sich praktikables zwechmäßiges Verhalten entwickeln.

"Die Natur zeigt uns nun zwar jenen unverletzten, ursprünglichen Zustand besonders bei den Menschen selten; aber um so mehr muß er besonders bei dem einzelnen Menschen so lange vorausgesetzt werden, bis das Gegenteil sich gewiß ausgesprochen hat, weil sonst der unverletzte, ursprüngliche Zustand da, wo er sich noch gesund finden sollte, auch noch leicht vernichtet werden könnte; geht aber die Gewißheit der Verletzung des Ursprünglichen aus der Gesamtheit des zu erziehenden Menschen hervor, wird diese Verletztheit aus dem Innern und dem äußern Ganzen gewiß; so tritt geradezu- bestimmende, fordernde Erziehungsweise in ihrer ganzen Strenge ein." 5)

In der humanistischen Psychologie finden wir bei Rogers eine gleiche Auffassung, daß der Mensch von Natur aus gut sei und dies auch bei entsprechenden Umgebungsbedingungen bleibt. Das heißt aber nicht, Böses existiere nicht. Die Frage steht bloß, wann ist etwas böse oder wird es vom Erwachsenen als solches interpretiert, nur weil das Kind sich nicht bedingungslos unterwürfig verhält oder noch eine Antwort verlangt. Kinder sind ewig suchende Geschöpfe und testen ihre Möglichkeiten und die Grenzen der Norm. Sie bedürfen deshalb einer permanenten Erläuterung und Erklärung über ihr Tun, die jedoch nicht in Gängelei ausarten soll. Nach BöTTCHER (1968) finden wir vor allem in neurotischen Elternhäusern zwanghaftes Nörgeln und Schimpfen über Kleinigkeiten. Solche Eltern, aber auch Lehrer und Erzieher, fühlen sich durch den Eigensinn oder das entwicklungsbedingte Unvermögen, Handlungen mit der Intensität der Erwachsenen vollführen zu können, in ihrer Autorität verletzt. Narzistisch veranlagte Eltern legen großen Wert auf Makellosigkeit ihrer Kinder. Entwicklungstörungen oder äußerliche Auffälligkeiten verletzen die Eitelkeit dieser Leute und lassen das Kind abseits der Familie stehen. Die Ursachen liegen wohl auch im Erziehungsverhalten der vorangegangenen Generation begründet.

"Weiter ist aber das verletzte Hervortreten des Innern auch nicht immer, ja oft schwierig mit Gewißheit nachzuweisen, wenigstens der Punkt, die Quelle, in welcher das hervorgetretene Verletzte seinen Grund und Anfang und die Richtung hat, die es genommen;... " 6)

Um die Störung behandeln zu können ist entweder eine umfangreiche Aufklärungsarbeit mit den Eltern von Nöten oder in den härteren Fällen ein Umgebungswechsel.

"... ihn in Verhältnisse und Umgebungen zu bringen, die ihn von allen Seiten beachten, wo ihm von den verschiedenen Seiten her sein Betragen durch dasselbe selbst wie ein Spiegel entgegentritt und er das selbe leicht und schnell in seinen Wirkungen und Folgen erkenne, wo so sein wahrer Zustand von ihm selbst und von andern leicht erkannt werden kann und wo die Ausbrüche, das Hervortreten der inneren Lebensgestörtheit am wenigsten schaden." 7)

Oft hört man Diskussionen gegen eine Internatsunterbringung der Kinder, da diese aus der emotionalen Bindung der biologischen Eltern "gerissen" werden. Unter den Bedingungen einer gestörten Familie lassen sich aber Verhaltensauffälligkeiten nur schwer behandeln. Diese Kinder brauchen eine intensive Neuorientierung und Neuorganisation ihres Lebensstiles, einen überschaubar ablaufenden Tagesablauf und eine einheitliche Erziehung.

Erfahrungen, die wir an unserem Internat gemacht haben, zeigen immer wieder, daß Kinder unter Kindern schneller lernen, als im ständigen Zusammensein mit den Erwachsenen, denen häufig zur Erziehung und Bildung ihrer Kinder entsprechende Kompetenzen fehlen. Der Zielgradient bei Lernvorgängen ist hier wesentlich. Das Kind kann die Handlungen des Gleichaltrigen erfolgreicher nachahmen, als die der Erwachsenen. Hier fehlen oft die Fertigkeiten und Erfahrungen für den Ausgang einer Handlung. Diesen Effekt nutzte Fröbel durch seine lehrenden Zöglinge, die bei der Vermittlung von Lerninhalten eine eigene, für Kinder besser verständliche Sprache hatten als die Lehrer und Erzieher. Durch das noch mangelhafte Wissen um eine Sache wird sich auch nur auf das für das Alter Verständliche beschränkt.

Wenn Fröbel von der leidend nachgehenden Erziehung spricht, lehnt er jedoch die vorschreibende nicht ab. Bewährte Verhaltensmuster, "das Musterhafte", so Fröbel, müssen vermittelt werden, die der Mensch für sein Leben in der Gemeinschaft und die Tätigkeit braucht. Das Kind braucht also die Gemeinschaft und die dingliche Umwelt, um sich frei entwickeln zu können, "alles Leben als Erzeugnis der Freiheit " wird.

Mit mehr Aufklärungsarbeit in der erziehenden Ebene können obengenannte Probleme kompensiert werden. Vor allem, und das mußte ich in meiner Beratungspraxis immer wieder feststellen, sollten durch spezielle Seminare für Eltern und Erzieher Erziehungsverhalten (Erziehungsstile, - modelle, - einsicht) vermittelt werden. Viele Eltern sind dankbar, wenn ihnen Verständnis für ihre unerkannt gebliebenen Unterlassungen entgegengebracht sowie Hilfe angeboten werden. Hier spielt die schulpsychologische Systemberatung eine große Rolle. Systemberatung in dem Sinne, daß dem Kind nicht die Schuld für sein unangemessenes Verhalten zugewiesen werden kann, sondern dem Umfeld - das Kind kann nichts dafür.

In dieser Arbeit werde ich Fröbels Aussagen vorwiegend vom gestörten oder verstörten Kind aus betrachten, denn diese sind die Bewohner unserer Schule und des Internates. Um die Glaubhaftigkeit seiner "Vordenkerrolle" für Pädagogik und Psychologie deutlich zu machen, habe ich viele Zitate (in kursiv) aus seinen Werken benutzt. Ich werde mich hauptsächlich auf eine Analyse seines Hauptwerks "Die Menschenerziehung" stützen, da dieses wahrscheinlich das erste systematisierte und für die Praxis anwendungsbereite Beratungswerk für Eltern, Erzieher und Lehrer anzusehen ist, ein Frühwerk der pädagogisch - psychologischen Systemberatung. Schon der Untertitel: "die Erziehungs-, Unterrichts- und Lehrkunst" weist darauf hin. Mit seiner ganzheitlichen Denkweise in Bildung und Erziehung wird diese ökologisch.

Friedrich Fröbel hat ein so umfangreiches Material über die Kindheitsentwicklung und deren systematische Gestaltung hinterlassen, daß zu deren Bearbeitung aus psychologischer Sicht über diese Abhandlung hinaus noch in einzelne Bereiche weiter aufgegliedert werden müßte. Eine psychologische Aufarbeitung der Fröbelschen Spieltheorie würde eine weitere, die Geschichte der Psychologie ergänzende Arbeit füllen. Auf das Spiel beziehe ich mich vor allem aus der Sicht, daß diese Tätigkeitsform die entwicklungspsychologische Grundlage für alle weiteren Tätigkeiten bildet, wie Lernen und Arbeiten.

Fröbels Theorien sind heute in einer gewissen Betrachtungsweise noch gültig, können jedoch nicht mit den heutigen Maßstäben der wisschenschaftlichen Erkenntnis gemessen werden. Viele Theorien wurden erst über 100 Jahre später von modernen Psychologen entworfen, bilden aber in ihrer Systematik und ihrem Praxisbezug einen beachtenswerten Anfang in der Geschichte der pädagogische Psychologie.

...;indem das äußerlich gut scheinende Kind oft in sich nicht gut ist, d.h. nicht durch Selbstbestimmung oder aus Liebe, Achtung und Anerkennung das Gute will; sowie das äußerlich rauhe, trotzige, eigenwillige, also nicht gut erscheinende Kind und Knabe oft in sich das regste, eifrigste, kräftigste Streben nach Darstellung des Guten mit Selbstbestimmung hat; der äußerlich zerstreute Knabe in sich einen stehenden, festen Gedanken hat, der ihn alles äußere nicht beachten läßt." 8)

Diese Beobachtung, die Fröbel vor 170 Jahren in seinem Hauptwerk "Die Menschenerziehung" niederschrieb, ist auch heute noch aktuell. Oft werden Kinder oder Jugendliche in ihrem Verhalten falsch eingeschätzt, nur weil ihr Charakter oder ihr Wesen dem Erwachsenen nicht in sein Muster vom lieben Kind paßt.

Anmerkungen

1 Fr. Fröbel: Die Menschenerziehung, Keilhau 1826, in: Friedrich Fröbel, "Kommt laßt uns unsern Kindern leben!", Bd. II, Hrg. K.- H. Günther u. H.König, Berlin 1982, S. 33

2 vgl. H. Heiland: in Festschrift zum 175 jährigen Jubiläum der Keilhauer Fröbelschule

vgl. auch Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen ökonomie, Berlin 1974, S. 22

3 Fr. Fröbel: Die Menschenerziehung, Keilhau 1826, in: Friedrich Fröbel, "Kommt laßt uns unsern Kindern leben!", Bd. II, Hrg. K.- H. Günther u. H.König, Berlin 1982, S. 17

4 ebd. S. 16

5 ebd. S. 18

6 ebd. S. 18

7 ebd. S. 19

8 Friedrich Fröbel,"Die Menschenerziehung", 1826 Keilhau, in: Fr. Fröbel,"Kommt laßt uns unsern Kindern leben!", Bd.II,Berlin 1982, S. 17