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BERLINER DIALOG 26, 1-4 2002 - Epiphanias 2003

 

Zur Ausbreitung der Vissarion­Sekte im Gouvernement Krasnojarsk
Einführung von Gerd Stricker

Durch einen der Glaube in der 2. Welt(G2W)-Autoren, den lutherischen Propst Rudi Blümcke in Krasnojarsk (vgl. u.a. G2W 9/1999, S. 21-26), sind wir über die dortigen Vorgänge recht gut informiert. Die uns vorliegenden Materialien ermöglichen eine breite Darstellung der vielschichtigen Problematik an sich, aber auch der Konflikte zwischen Sekte und Behörden.

In den folgenden Beiträgen ist vom "Gouvernement Krasnojarsk" die Rede, obwohl es im Russischen "Krasnojarskij kraj" heißt - etwa 'Gau/Bezirk Krasnojarsk'. Dieser "Gau" hat eine maximale Nord­Süd­Ausdehnung von etwa 3.200 km und eine maximale Ost­West­Ausdehnung von knapp 1000 km; vom Nördlichen Eismeer reicht das Gouvernement bis fast an die Grenze der Mongolei; insgesamt ist es 2.400.000 km2 groß, das entspricht ungefähr der Größe der Schweiz, Österreichs, Deutschlands, der Benelux­Staaten, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Norwegens und Schwedens zusammengenommen. Allerdings leben auf dieser riesigen Fläche kaum mehr als 5 Mio. Menschen - eher weniger. Der Chef der Verwaltung des "kraj" Kransojarsk führt den Titel "Gouverneur". [Nachfolger des bei einem Hubschrauberunfalls verunglückten berühmten Ex-Generals Alexander Lebed als Gouverneur von Krasnojarsk ist Alexander Chloponin.]

Propst Blümcke ist in einem speziellen Sinne Ansprechpartner des für religiöse Vereinigungen zuständigen Chefbeamten des Gouverneurs, des Direktors der Behörde für Medien und religiöse Vereinigungen, Mark G. Denissow:
Wie bereits im Editorial der Mai-Nummer erwähnt, machen sich seit diesem Frühjahr vermehrt Personen, die man als psychisch höchst labile Träumer und seelisch kranke Aussteiger aus der deutschen Realität bezeichnen muß, auf den Weg nach Sibirien, um im angeblichen Sektenparadies "Ökopolis­Tiberkul" eine ihnen gemäße Lebensweise zu realisieren. Sektenexperten in Deutschland haben den beginnenden Exodus konstatiert. Aber auch die Behörden im Gouvernement Krasnojarsk, in dessen Süden (Kreis Kuragino) sich das Sektenzentrum "Ökopolis Tiberkul" befindet, haben den Zustrom westlicher Träumer zur Kenntnis genommen.

Stellen schon die Sektenmitglieder aus Rußland und den einstigen Sowjetrepubliken ein erhebliches Problem für die Region dar, dem die Behörden vorerst hilflos gegenüberstehen - so komplizieren Ausländer die Situation noch mehr. Ohne daß sie mit mitteleuropäischen Sektenexperten Verbindung aufgenommen haben, sind auch die sibirischen Experten der Meinung:
Diese Ankömmlinge vor allem aus Deutschland, die in Sibirien paßamtlich vermutlich nirgends gemeldet werden und die irgendwo in der Menge der Sektenanhänger untertauchen, bilden ein spezielles Problem. Sie sind meist gesundheitlich angeschlagen, vielfach von komplizierten Medikamenten abhängig und psychisch in starkem Maße geschwächt. Den extremen klimatischen Bedingungen Ostsibiriens sind sie nicht gewachsen, besonders unter den Bedingungen einer veganen Lebensweise, die den Genuß von Fleisch und allen Milchprodukten ausdrücklich verbietet. Sowohl russische als auch deutsche Experten stimmen darin überein, daß sich viele Sektenanhänger aus Mitteleuropa mit ihrer Übersiedlung nach Sibirien in höchste Lebensgefahr begeben, da sie die benötigten Medikamente dort nicht bekommen und ihnen darüber hinaus die Lehre der Sekte die Inanspruchnahme der Schulmedizin verbietet. Im Ernstfall fallen solche Leute und auch Aussteiger den Sozialämtern der Kommunen zur Last.

Die Regierung des Gouvernements Krasnojarsk möchte der Einwanderung aus dem Westen, namentlich aus Deutschland, entgegenwirken. Sie ist hinsichtlich der weiteren Entwicklung so in Sorge, daß sie das Ausland in ihre Maßnahmen einbinden möchte. Regierungsdirektor Mark Denissow ist bereit, mit jedem Experten aus dem Ausland, der irgendwie präventiv tätig werden könnte, zusammenzuarbeiten, und verspricht, jeden Experten aus Mitteleuropa persönlich in die von Sektenmitgliedern bewohnten Gebiete zu führen und ihnen zu zeigen, unter welchen Bedingungen diese dort hausen. Eindringlich warnt er den Westen davor, Vissarion bzw. seine Sekte finanziell zu unterstützen.

Pastor Blümcke wurde gebeten, die Regierung von Gouverneur Lebed zu unterstützen und religiöse Schwärmer, Vissarion­Anhänger und potentielle Einwanderer ins Gouvernement Krasnojarsk aufzuklären - erstens über die Sekte generell und zweitens über das, was die Träumer in der sibirischen Sonnenstadt", in "Ökopolis Tiberkul", wirklich erwartet.

Denissow hat bei seiner Behörde ein Reha­Zentrum für Aussteiger aus der Sekte initiiert - aber es fehlt das Geld dafür. Bei der Konzipierung eines solchen ergeben sich u.a. zwei Probleme: Fachspezifische Begleitung ist erforderlich, denn die Aussteiger müssen von ihren sozial­psychologischen Problemen weggeführt und wieder an ein Leben außerhalb der Sekte gewöhnt werden. Zweitens: Sektenmitglieder, die aussteigen wollen, können selbst nichts beisteuern: Sie haben buchstäblich nichts, weder Geld noch Wertgegenstände; sie mußten allen materiellen Besitz der Sektenführung übergeben, als sie sich der Sekte anschlossen. Die Lösung beider Problemkreise ist mit gewaltigen Kosten verbunden. Und Geld fehlt in Rußland überall. Auch in Krasnojarsk sind die Kassen leer.

Die dortige Regierung hofft nun, daß ihr vielleicht Sponsoren aus dem Westen finanziell unter die Arme greifen. Sie verweist darauf, daß sich unter den sozial­psychologischen Problemfällen im Gouvernement Krasnojarsk ja zunehmend auch Bürger westlicher Staaten befinden.

Neun Jahre nach Etablierung der Sekte im Gouvernement Krasnojarsk wurde - noch auf Anordnung von Gouverneur Lebed - eine Kommission gebildet, die aus Verwaltungsbeamten, Psychologen, Pädagogen und Juristen besteht und sich mit dem Sektenprobelm befassen soll. Auch Sergej ToropVissarion selbst soll zu den Beratungen hinzugezogen werden.

In der folgenden Artikelserie bieten wir Auszüge aus einem Handbuch über religiöse Vereinigungen, das in Irkutsk (1.200 km südöstlich von Krasnojarsk) erschienen ist und über die Vissarion­Sekte einige aufschlußreiche - amtliche - Informationen gibt. Darauf folgen Auszüge aus einem Beitrag in der Moskauer "LiteraturZeitung", der sich etwas ironisch mit einigen Aspekten des Lebens innerhalb der Sekte befaßt. Es schließt sich eine Einschätzung des Phänomens "Kirche des Letzten Testaments" durch Propst Blümcke an, der mit Vissarion­Leuten wenig beglückende Erfahrungen gemacht hat.

Die Zusammenfassung eines dreistündigen Gesprächs, zu dem Regierungsdirektor Mark Denissow Propst Rudi Blümcke gebeten hatte, führt vor Augen, wie besorgt die Regierung des Gouvernements die Situation mittlerweile einschätzt. Zum Schluß bieten wir eine Verordnung von Gouverneur Alexander Lebed zur Gründung einer Komission zur Entschärfung der Vissarion­Problematik sowie ein Konzeptionspapier von Mark Denissow, welche Maßnahmen ergriffen werden müßten, um die Situation in den Griff zu bekommen.


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