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BERLINER DIALOG 24-25, 1/2-2001
 

Religiös motivierter Terrorismus
Das Beispiel der AUM Shinri-Kyo
von Thomas Gandow

Ich werde mich der heiligen Armee anschließen   Um allen Missetätern poa zu geben.
Ich werde ein, zwei, vielen bösen Menschen poa geben.
Poa ist die Erlösung der Welt.  Poa ist verdienstvoll.
Das Praktizieren von poa wird mich in die höchste Welt führen.1 

Terrorismus als religiöse Handlung
Der von Terrorismusexperten so genannte "eschatologische Terrorismus" ist eine besondere Form des religiösen Terrorismus. Er liegt anscheinend außerhalb der bisherigen Modelle von "religiös motiviertem Terrorismus". 2 

Es handelt sich bei ihm aber um einen religiösen Terrorismus im engeren Sinne, der nicht nur religiös motiviert ist, sondern seine Aktionen selbst als religiöse Handlungen versteht. Für den Terrorismus sind Stellvertreter- und Ersatz-Handlungen (z.B. Geiselnahmen, Angriff auf Botschaftsgebäude) typisch. Im religiösen Terrorismus werden solche Angriffe zu symbolischen Handlungen im strengen Sinne. Symbole (von gr. symballein: zusammentreffen) sind mehr als ein Bild; in ihnen treffen das Bild und das Vergegenwärtigte verdichtet, fast in Wesenseinheit zusammen. Sie bedürfen keiner Deutung mehr.
In diesen Zusammenhang gehört AUM Shinri-Kyo, eine buddhistische Sekte3 , die ins Licht der Weltöffentlichkeit erst mit einem Attentat auf die Tokioter U-Bahn am Morgen des 20. März 1995 trat. Dabei wurden durch das Giftgas Sarin 11 Menschen getötet und fast 5000 verletzt. Eine Reihe der Täter, Mitglieder von AUM Shinri-Kyo, haben sich inzwischen zur Tat bekannt und ihren Guru, Shoko Asahara, beschuldigt, auf seinen Befehl gehandelt zu haben.
- - -
Da dieser Beitrag gekürzt werden mußte, verweisen wir auf die Dokumentation des 11. Forum Balticum, herausgegeben von der Korad-Adenauer-Stiftung und dort auch zu beziehen, sowie auf den Artikel "Aum Shinri-Kyo. Fortschritts-Optimismus wird zu Endzeit-Terrorismus" vom selben Verfasser im Berliner Dialog 2/1995 4  sowie auf die gängigen Zeitungsarchive 5  zur Angelegenheit.  - Red.

Totaler Terrorismus
Terrorismus-Fachleute ebenso wie Sektenexperten wurden von dem erstmaligen Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch eine private, religiöse Organisation zutiefst beunruhigt. Zahlreiche Sicherheitsdienste und staatliche Stellen haben sich mit der AUM-Affäre und besonders den Hintergründen der Waffen- und Giftbeschaffung von AUM Shinri-Kyo befaßt, u.a. das Committee on Government Affairs des US-Senats 1996 6 , der kanadische Geheimdienst 7  u.a.m.

Zum ersten Mal in der Geschichte hantierte eine religiöse Extremgruppe mit Waffen, die tendenziell den Weltuntergang herbeiführen können - und dies auch sollten. [...]
Bei ihrem Anschlag auf die U-Bahn hatten Mitglieder von AUM Shinri-Kyo in fünf Zügen die aus verschiedenen Richtungen zu der zentralen U-Bahn-Station Kasumigaseki fuhren, vorbereitete Plastikbeutel mit dem selbstproduzierten Gift mit der geschliffenen Spitze eines Regenschirms geöffnet.
Der Angriff war in mehrfacher Hinsicht symbolisch im oben beschriebenen Sinne: Die mit dem Nervengasangriff angezielte U-Bahnstation markiert das Regierungs- und Nervenzentrum der Hauptstadt Japans. Das AUM Shinri-Kyo-Magazin Vayrayana Sacca hatte wenige Wochen vor dem Anschlag berichtet, der U-Bahnhof sei tief genug, um die Politiker bei einem Atomkrieg zu beschützen. Schon im Dezember 1994 hatte einer der AUM-Führer in einer Radio-Sendung festgestellt, es sei unmöglich für den Einzelnen, den atomaren Weltuntergang zu überleben; die Regierung könne
"uns nicht beschützen, wie man daran sehen kann, daß nur die U-Bahnstation am Reichstag tief genug ist, um als Schutzraum zu dienen. Wenn wir diese Lage ruhig betrachten, finden wir, daß es das beste ist, dem weltlichen Leben abzusagen und ein Mönch oder eine Nonne in einer Organisation zu werden, die einen ernsthaften Weg zur Rettung anzubieten hat." 8 

Literaturhinweise  zum religiösen Terrorismus
Bruce Hoffman: Religion und Terrorismus, in ders.: Terrorismus - der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 1999
(Originaltitel: Inside Terrorism) - Der Leiter der Abteilung für Terrorismusforschung der RAND Corporation geht in diesem Kapitel seines Buches ausführlich auf AUM Shinri-Kyo ein, wobei Fragen der Konsequenzen aus dem AUM-Shinri-Kyo-Fall für die Terrorismusforschung im Vordergrund stehen.
David E. Kaplan; Andrew Marshall: Aum - eine Sekte greift nach der Welt. Ullsteinverlag Berlin 1998 (Originaltitel: The Cult at the End of the World´) - eine faktenreiche, journalistische Arbeit.
Robert Jay Lifton: Terror für die Unsterblichkeit. Erlösungssekten proben den Weltuntergang. Carl Hanser Verlag München Wien 2000 (Treffenderer Titel der Originalausgabe: Destroying the World to Save It. Aum Shinrikyo, Apocalyptic Violence, and the New Global Terrorism) - Der Autor, Professor für Psychiatrie und Psychologie in New York, ist als Kenner destruktiver religiöser Gruppen, aber auch mit Veröffentlichungen über "Thought Reform and the Psychology of Totalism: A Study of 'Brainwashing' in China", über "Ärzte im Dritten Reich" (1988), die "Psychologie des Völkermordes" (1992) hervorgetreten.
Ian Reader: Religious Violence in Contemporary Japan. The Case of Aum Shinrikyo. University of Hawai Press, Honolulu 2000 Religionswissenschaftliche, materialreiche und fundierte Studie, die Aum Shinrikyo als Beispiel für die gewaltverursachenden Dimensionen von Religion schildert.
Martin Repp: Aum Shinrikyo: Ein Kapitel krimineller Religionsgeschichte. Diagonal-Verlag Marburg 1997
Martin Repp schrieb dies Bändchen als stellvertretender Direktor des Center for the Study of Japanese Religions des Japanischen Nationalen Christenrates in Kyoto und beschreibt die gesellschaftliche Lage der "AUM-Generation" aus der viele der Mitglieder von AUM Shinri-Kyo kamen. Er appelliert an die Verantwortung von Medien und Religionswissenschaft.

Druck auf die Tokioter Stadtverwaltung
Als Shoko Asahara seine Bewegung 1989 in Tokio staatlich registrieren lassen wollte, als er durch massiven Druck die staatliche Anerkennung als religiöse Organisation erhielt, da gaben höchste Autoritäten des Buddhismus gute Beurteilungen und Empfehlungen für diese staatliche Anerkennung und Registrierung und für das Gerichtsverfahren ab. [...]
Unter anderem schrieb ihm der Dalai Lama 1989 sogar eine ausdrückliche Empfehlung, die Asahara bei den Behörden in Tokio vorlegen konnte.9 
Noch mehr Unterstützung und direkte Empfehlung, ja Einmischung in einen japanischen kommunalen Verwaltungsakt bedeutete das offizielle Schreiben von Generalsekretär Kalman Yeshi vom "Rat für religiöse und kulturelle Angelegenheiten seiner Heiligkeit des Dalai Lama" mit Datum vom 25. Mai 1989. Darin hieß es u.a.:
"...Angesichts seiner schätzenswerten Ziele und Aktivitäten ist es unbedingt zu empfehlen (it stands highly recommendable), daß AUM Shinri-Kyo ihr wohlverdienter steuerbefreiter Status und die gebührende Anerkennung durch die japanische Regierung gewährt wird.
Alle nötige Unterstützung und Zusammenarbeit der beteiligten Behörden in dieser Angelegenheit wird von uns hoch geschätzt werden."
10 

Es waren aber nicht nur die Empfehlungsschreiben, die zur schließlichen offiziellen Registrierung von AUM Shinri-Kyo in Japans Hauptstadt Tokio führten. Für eine Anerkennung als "religiöse Vereinigung" war und ist es in Tokio erforderlich, daß eine solche Vereinigung
* über eigene Räumlichkeiten zur Religionsausübung verfügt,
* seit mindestens drei Jahren besteht und daß sie
* ihren Anhängern den freiwilligen Beitritt und ebenso den Austritt gestattet.

Die Stadtverwaltung wollte die Organisation zunächst nicht als religiöse Vereinigung anerkennen, da es Beschwerden von betroffenen Eltern und Aussteigern gab, die angaben, daß AUM ausstiegswillige Mitglieder entführe und sie und ihre Familienmitglieder auch körperlich attackiere.
Über 100 Anhänger machten daraufhin ein Go-in bei der zuständigen Behörde. Die mit der Sache befaßten Beamten wurden nicht nur tags im Büro aufgesucht, sondern auch mit ständigen Anrufen nachts zu Hause am Privattelefon belästigt.
Schließlich erklagte sich AUM Shinri-Kyo im August 1989 die Registrierung. Im Oktober 1989 gründet sich daraufhin die "AUM Shinri-Kyo Opfer-Vereinigung", eine Art Elterninitiative.

Der Medienskandal
Am 26. Oktober 1989 beschuldigte der Anwalt Sakamoto, der Betroffene, Aussteiger und die erwähnte Betroffeneninitiative beriet, in einem Interview der Fernsehstation TBS AUM Shinri-Kyo der Freiheitsberaubung und Spendenerpressung bei Mitgliedern, Aussteigern und Angehörigen. Der Fernsehsender spielte das Interview zunächst einem der engsten Berater Asaharas sowie zwei weiteren Führungsmitgliedern vor. Im Anschluß daran verzichtete der Sender auf die Ausstrahlung des Interviews. Als Gegenleistung verpflichtet sich der AUM-Funktionär zum Stillschweigen über den Vorgang und vermittelte dem Sender ein Exklusiv-Interview mit Asahara.
Die AUM-Funktionäre suchten am 31.10. Sakamoto auf und verlangten von ihm, seine Äußerungen in dem Interview zurückzunehmen. Sakamoto weigerte sich. Asahara gab daraufhin den Befehl, Sakamoto zu beseitigen. Am 15. November wurden Sakamoto sowie seine Frau und sein einjähriger Sohn aus ihrer Wohnung entführt, verschleppt und ermordet. Am 16. November sendete TBS einen Beitrag über das "Geheimnisvolle Verschwinden einer Anwaltsfamilie",11  offenbarte aber nicht den Kuhhandel mit AUM Shinri-Kyo.
Wenige Monate nach der offiziellen Registrierung fühlte sich AUM also derartig sicher vor irgendwelchen Regierungsmaßnahmen, daß man sich getraute, mit Sakamoto einen der öffentlichen Hauptkritiker zu beseitigen.
Es waren wohl fehlende staatliche Reaktionen, die AUM Shinri-Kyo zu weiteren Angriffen auf seine Kritiker und vermeintliche Feinde ermutigte.12  Aber sicherlich hat auch die publizistische und damit öffentliche Isolierung der AUM-Kritiker dazu beigetragen. Während zögerliche Polizei-Untersuchungen liefen, ging Asahara vorsichtshalber außer Landes und besuchte mit einer kleinen Gruppe zu Gesprächen mit Politikern das gerade durch die Maueröffnung im Rampenlicht stehende Deutschland. Hier erhielt dann der Fernsehsender zur Belohnung für seine Kollaboration sein Exklusiv-Interview mit Asahara.

Organisiertes Verbrechen, Polizei und Armee
Für seine Aufrüstung suchte AUM Shinri-Kyo nicht nur nach Chemie- und Massenvernichtungswaffen, sondern nahm auch sehr irdische Kontakte zur Yakuza auf. Dies geschah durch zwei Yakuza-Mitglieder, die anscheinend aus privaten Gründen (u.a. angebliche wunderbare Krankenheilung in der Familie) der AUM Shinri-Kyo beigetreten waren. So kam es zum Erwerb von Handfeuerwaffen, Automatikwaffen und Handgranaten. Zusammenarbeit gab es auch zum Absatz der von AUM Shinri-Kyo produzierten Drogen durch das Vertriebssystem der Yakuza.
Durch zufällige Mitglieder, aber auch durch gezielte Rekrutierungsmaßnahmen gelang es der AUM Shinri-Kyo, bis Ende 1994 an die 100 Soldaten, davon 40 aktive, als Mitglieder zu werben.

Zu betonen ist auch die Anziehungskraft, die die finanziellen und technischen Möglichkeiten der Sekte auf orientierungslose junge Wissenschaftler, Techniker und Ärzte in Japan hatten.14 

Rußland - Offener Markt
Noch günstiger stellten sich die Möglichkeiten zur Expertenanwerbung von 1991 an in Rußland dar - zum einen wegen der bekannten Probleme hochqualifizierter Experten im nachsowjetischen Rußland.
Dazu kam: Durch höchste Protektoren wie Ruslan Chasbulatow, damals Sprecher des Obersten Sowjet, Oleg Lobow, damals Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation und damit engster Sicherheitsberater des Präsidenten Jelzin und Alexander Rutzkoj, Vizepräsident der Russischen Föderation, gelang es AUM, Kontakte in das russische Militär und in den KGB aufzunehmen. 15 
Ergebnisse waren Waffenschulungen in der Nähe von Moskau bei der Eliteeinheit Spetmatz, der Aufbau einer Sicherheitsfirma AUM Protect in Moskau mit Veteranen der 9. Division des KGB, der Kauf eines MI 117 Helikopters, eine 7 Tonnen schwere Maschine, die nur zerlegt über die Slowakei, Österreich, Deutschland und die Niederlande nach Japan verschifft werden konnte und dort unbehelligt durch den Zoll kam.

AUM Shinri-Kyo ließ auch Mitglieder ihrer Privatarmee in geheimen Trainingszentren des russischen Militärgeheimdienstes GRU ausbilden. Dies besagt ein Bericht der "Komsomolskaja Prawda", die behauptet, der Kreml sei voll darüber informiert gewesen.16  Für jeden Auszubildenden sollen 20.000 Dollar pro zehn Tage bezahlt worden sein. So hätten 20 AUM-Mitglieder einen Lehrgang in der Zeit vom 3. bis 13. Mai 1994 auf dem Übungsgelände der Tamaner Panzerdivision im Moskau-nahen Narofominsk absolviert. Insgesamt hätten mindestens 60 Japaner eine solche Ausbildung erhalten. Als Ausbilder sollen erfahrene Mitarbeiter der GRU- Terrorismusabteilung fungiert haben. Ihre Informationen will "Komsomolskaja Prawda" von "aus verständlichen Gründen nicht genannten Quellen" beim russischen Geheimdienst FSB erhalten haben. Der Fall sollte damals an ein Gericht übergeben werden. Nach Angaben der "Komsomolskaja Prawda" hätten die Ermittler der Staatsanwaltschaft allerdings die Weisung gehabt, "nicht zu tief zu bohren".

Laut "Komsomolskaja Prawda" liefen die "Ausbildungsaufträge über die in Moskau ansässige Russisch-Japanische Universität, die am 13. November 1991 auf Jelzins Weisung eingerichtet wurde. Die Universität sei vom damaligen Sonderbeauftragten des russischen Präsidenten Jeltzin für Tschetschenien, Oleg Lobow, betreut worden. Faktisch sei sie vom KGB- Oberst Alexander Murawjow geleitet worden.
In Rußland versuchte AUM sogar, Atomwaffen zu beschaffen bzw. das Know-how zur Produktion zu erwerben. Klassisch ist die Notiz im Pflichtenheft von Asaharas Beauftragten für die Waffenbeschaffung in Rußland: "Atomsprengkopf - kostet?" 17 

"Es bleibt keine andere Wahl, als zum Terrorismus überzugehen"
Ihren Weltgestaltungsanspruch brachte AUM Shinri-Kyo auch durch die Bildung einer Parallelstruktur zum Staat mit 22 eigenen Ministerien zum Ausdruck. Eine "höhere Moral" und eine neue Gesetzlichkeit sollte entwickelt werden. Dazu gehörte die Entwicklung eines eigenen internen Strafgesetzbuches mit 36 Artikeln, das schwere Strafen, bis hin zur Todesstrafe für alle möglichen, angeblich gegen die AUM Shinri-Kyo gerichteten Taten vorsah. Man fühlte sich auch selbst bedroht.

Ein Jahr lang sprach der Guru immer wieder von Sarin und Giftgasanschlägen. So im März 1994, als er in diesem Zusammenhang erklärte:
"Es bleibt keine andere Wahl mehr, als von jetzt an zum Terrorismus überzugehen." 18 

Vorbereitungen
Näherhin betrachtet, begleitet die Entwicklung von AUM Shinri-Kyo eine Spur von vollendeten und mißlungenen Gewalttaten.
 * 1988 starben Ochi Naoki und Majima Terayuki bei "religiösen Übungen".
 * Februar 1989 Shuji Taguchi, ein Mitglied, wird getötet, weil er bestimmte "religiöse Übungen" ablehnt.
 * Nov. 1989 Entführung und Ermordung von Rechtsanwalt Sakamoto und seiner Familie
 * März 1990 Asahara beauftragt Seiichi Endo mit der Herstellung biologischer Waffen
 * Im April 1990 versuchte AUM, das japanische Parlament mit Botulinus Spray anzugreifen.
 * In Tokio eröffnete AUM 1991 ein 9-Betten-Hospital. Innerhalb von 18 Monaten, bis September
1993 wurden hier 9 Todesfälle registriert, teils Mitglieder, teils Angehörige von Mitgliedern, die in diesem Hause zu Tode gepflegt wurden möglicherweise ausschließlich, um an Erbschaft und Lebensversicherung heranzukommen.
 * Im Oktober 1992 reiste eine AUM-Delegation nach Zaire um Muster des Ebola-Virus zu finden.
 * Dezember 1992 Planung der Produktion von Sturmgewehren
 * März 1993 Asahara gibt den Befehl zur Entwicklung und Produktion von Giftgasen
 * Im Juni 1993 versuchte AUM, die Hochzeit des japanischen Kronprinzen anzugreifen.
 * Milzbrand-Sporen sollen Ende Juni 1993 auch von einem Haus in Tokio aus versprüht worden
sein.13 
 * Von 1993 an beginnt auch die massive Produktion von Chemikalien und Giften, vom Juli 1994 an die Produktion von AK-74-Gewehren
 * August 1993 Planung, pro Tag 2 Tonnen Sarin zu produzieren
 * September 1993 Tesuya Kibe macht in den USA eine Huschrauberpilotenausbildung
 * November 1993 Tsuchiya gelingt erstmalig die Herstellung von Sarin
 * Sarin wird erstmals testweise gegen den Leiter einer anderen Sekte eingesetzt
 * Dezember 1993 Hayakawa schließt in Rußland einen Vertrag über den Kauf eines Helikopters ab
* Januar 1994 Koraro Ochida, ein Aussteiger, wird umgebracht
* April 1994 eine Delegation besucht Australien, um den Abbau von Uran für die
Kernwaffenproduktion zu prüfen.
* Juni 1994 Der Helikopter aus Rußland wird in Japan eingeführt
* Am 27. Juni 1994 hatte die Gruppe einen Giftgasanschlag gegen drei als Feinde empfundene Richter in Matsumoto ausgeführt, bei dem sieben unbeteiligte Menschen getötet und 270 verletzt worden waren. Mit dem Anschlag wollte AUM einerseits einen Urteilsspruch in einer Betrugsangelegenheit verhindern. Zum anderen stellte der Anschlag einen Testlauf für den größeren Einsatz von Sarin dar.
* Oktober 1994 Einbruch in der Forschungsabteilung von Mitsubishi Heavy Industries um an Laserwaffen-Pläne heranzukommen
* November 1994 Einbruch bei Nippon Electronics wegen Laserwaffen-Plänen
* Dezember 1994 Entführung und Gefangennahme von drei Aussteigern
* Am 12. Dezember 1994 wird Tadahiro Hamaguchi von AUM-Mitgliedern mit VX-Gas angegriffen und getötet.
* VX-Anschlag auf Noboru Mizuno, der der Familie einer Aussteigerin geholfen hatte
* Im Januar 1995 wird Hiroyuki Nagaoka, Vorsitzender einer Initiative von AUM-Shinri-Kyo-Betroffenen mit Gas angegriffen, er überlebte, fiel aber in Koma.
* Im Januar 1995 wird Satyan 7 in einen "Tempel" umgebaut. Sarinfunde in der Umgebung werden als Folgen feindlicher Giftgasanschläge dargestellt.
* Im Februar 1995 wird ein Herr Kariya entführt, als er versucht, seiner Schwester beim Ausstieg zu helfen. Er stirbt im März an einer Überdosis von Medikamenten
* Im Februar 1995 wird ein Kommunal-Beamter gekidnapped, durch eine Injektion getötet und in einem Mikrowellenofen verbrannt. Ebenso wird dort Otaro Ochida verbrannt.
* Im März wird im Haus eines Kritikers eine Zeitzünderbombe gelegt
* Kurz vor dem Anschlag auf die U-Bahn im März 1995 wird ein Brandsatz von AUM-Mitgliedern in ein AUM-Büro in Tokio geworfen um durch den Anschlag öffentliche Sympathien für AUM zu erwecken.


Als eine Bürgerinitiative sich über die aus der AUM-Shinri-Kyo-Chemiefabrik ausströmenden giftigen Dämpfe beschwerte, behauptete AUM Shinri-Kyo 1994, sie selbst sei schon mehrfach von den bösen, gegnerischen Mächten, insbesondere aus japanischen und US-Flugzeugen, mit Sarin-Gas angegriffen worden. "Satyam 7" hieß das Fabrikgebäude, in dem das sekteneigene "Ministerium für Wissenschaft und Technik" einen Teil seiner Laboratorien hatte, insbesondere die Sarin-Produktionsanlage. Geplant war die Produktion von mindestens 70 Tonnen Sarin. Auch mit dem Nervengas VX wurde experimentiert, ebenso wie mit Tabun und Soman.

Nach Beschwerden und Presseberichten über Sarinspuren in Bodenproben aus Kamikishiki ließ Asahara die Anlagen schließen . Vor den Durchgang zur Gasfabrik ließ er eine riesige Shiva-Statue und eine Buddha-Figur aufstellen. Polizei und Wissenschaftler stoppten bei ihren Untersuchungen und Besichtigungen an dieser Stelle, die ja doch erkennbar religiös und unverdächtig erschien, weil sie es nicht wagten, die Religionsfreiheit der AUM Shinri-Kyo anzutasten. [...]

Willst Du ewigen Frieden, bereite Untergang vor
AUM war eine eher kleinere Gruppe. Dennoch gelang es ihr, das Nervengas Sarin industriemäßig herzustellen, Milzbrand- und Botulismuserreger zu züchten und allein zwischen 1990 und Ostern 1995 vierzehn chemische und biologische Anschläge auszuführen, die zumeist nur durch Zufälle nicht riesige Opferzahlen forderten.
Es wurden regelrechte Fabriken errichtet, die alle möglichen Chemikalien, sowie Waffen produzieren konnten - und z.T. bereits produziert haben.
Im "Tempel am klaren Fluß" z.B. wurden (russ.) Sturmgewehre der Klasse AK74 produziert. Auch Laserwaffen wollte Asahara entwickeln lassen und ließ, neben eigenen Forschungsanstrengungen, auch z.T. professionelle Industriespione bei NEC, Nippon Oil, Mitsubishi u.a. einschleusen.

Creeds and Deeds
Lange Zeit herrschte, auch unter denjenigen, die sich wissenschaftlich und in der Beratungsarbeit mit Kulten und Sekten, mit religiösen Gruppen generell kritisch befassen, eine "Deeds - not Creeds"-Haltung bei der Beurteilung solcher Gruppen vor. Die Inhalte wurden also als eher beliebig, jedenfalls nicht entscheidend bewertet.
* Angenommen, was in den positiven "Zeugnissen" aus den Schreibstuben des Dalai Lama steht, war zum damaligen Zeitpunkt wahr und zutreffend - wie konnte sich die AUM-Gruppe in so kurzer Zeit vollständig ändern?
* Oder: Handelt es sich, wie heute einige Presseberichte nahelegen, von vornherein um eine kriminelle oder psychopathische Aktivität, und was bewirkte, daß sie so lange unbeobachtet bzw. ungestört ihren Fortgang nehmen konnte?
* Oder aber war die AUM Shinri-Kyo tatsächlich eine am echten Mahayana- und Vajrayana- Buddhismus orientierte Seelenrettungs- und Weltveränderungsbewegung, die zugleich auch von bösen Mitteln Gebrauch machte - ganz selbstlos zur Erreichung der edlen Ziele?

Nur eine gründliche Beschäftigung mit den Lehren einer Gruppe wie AUM Shinri-Kyo gibt einen Schlüssel ab für die Beurteilung möglicher Entwicklungen, die Deutung und Bedeutung von Gewalt in einer Gruppe, und ermöglicht die Abschätzung von Risiken und Bedrohungen der Allgemeinheit. [...]
Denn hier, in den Lehren wird das jeweilige Welt- und Menschenbild deutlich und hier wird ablesbar, was beabsichtigt wird und welche Möglichkeiten in einer Religion angelegt sind.

Poa - Morden als geistlicher Beistand
Bei AUM Shinri-Kyo wurde schon relativ früh die Um-Interpretation des Todes als poa (Erleuchtungshilfe) deutlich.
poa ist eigentlich eine religiöse Übung im tibetischen Buddhismus, bei der ein Begleiter beim Sterben dazu verhelfen soll, daß durch geistige Wachheit eine Übertragung des Bewußtseins in den Zustand nach dem Tode stattfindet, damit das in diesem Leben bereits erreichte Bewußtsein nicht im Sterben die Orientierung verliert und in einer niedrigeren Reinkarnation wiedergeboren wird.

Der Begriff für diese geistliche, seelsorgerliche Sterbebegleitung wurde als Erklärung des "Unfalltodes" von Naoki Ochi anscheinend erstmals eingesetzt. Ochi wollte aus der Gruppe austreten. Daraufhin diagnostizierte Asahara bei ihm karmische Belastungen, die durch eine spezielle "geistliche Übung", in Wirklichkeit wohl eher eine Strafaktion, beseitigt werden sollte: Ochi wurde mit gefesselten Beinen kopfüber aufgehängt. Als er das Bewußtsein verlor und schließlich aufhörte zu atmen, wurde dies als die Erreichung von Samadhi, Erleuchtung, interpretiert. Die Verantwortliche wurde damit beruhigt, sie habe gewissermaßen Erleuchtungshilfe, eben poa, geleistet. Die Leiche Ochis wurde eingeäschert, die Asche wurde im Ausguß weggespült. Sein Verschwinden wurde anderen aus der Gruppe damit erklärt, er sei "in die Welt" zurückgegangen.
Später wurde "poa" auch als Rechtfertigung von Morden eingesetzt, denn es sei hilfreich Menschen davor zu schützen, durch Weiterleben noch mehr schlechtes Karma anzusammeln. 19 
Schließlich wurde poa zu einer, nein der Methode zur Rettung der Welt: Bei einer Rede vor engsten Anhängern fragte Asahara, ob sie es gut fänden, Vertreter eines Glaubens zu sein, der versuche, allen Geistern poa zu geben und sie damit in höhere Bereiche zu senden. Einstimmig riefen sie "Ja".20  Dazu sollten sie das Karma aller Leute zermalmen um sie zu retten; für diejenigen, die schlechtes Karma erworben hätten, sei der einzige Weg zur Rettung poa.

Im Februar 1994 erzählte Asahara bei einer Rede in China von einer Vision, in der die Götter ihm geweissagt hätten, er werde von 1997 an als Kaiser von Japan herrschen. Er setze hinzu:
"Deshalb müssen wir so bald wie möglich alle töten, die der Höchsten Wahrheit ablehnend gegenüberstehen". 21 

 In der Broschüre "Vajrayana Resolution" hieß es konsequenterweise:
 
Ich werde allen Missetätern poa geben
 Ich werde allen Missetätern poa geben
 Ich werde allen Missetätern poa geben
 Ich werde alles tun, was für die Erlösung der Welt notwendig ist ...
 Ich werde das gesamte Vajrayana praktizieren ...
 Ich werde mit dieser Praktik nicht aufhören, auch wenn ich daran sterbe ...
 Ich werde Vajrayana praktizieren, ohne mir Gedanken zu machen.
 Jetzt, wie es in der Bibel steht, kommt endlich der Tag Harmageddons.
 Ich werde mich der heiligen Armee anschließen Um allen Missetätern poa zu geben.
 Ich werde ein, zwei, vielen bösen Menschen poa geben. 
 Poa ist die Erlösung der Welt.
 Poa ist verdienstvoll.
 Das Praktizieren von poa wird mich in die höchste Welt führen.4 

Inspirationen
Einen großen Raum nahmen bei AUM Verschwörungstheorien, insbesondere gegen Freimaurer und Juden ein. In Japan gibt es seit den achtziger Jahren eine ganze Gattung antijüdischer Schriften, die oft Motive aus den "Protokollen der Weisen von Zion" verwenden bzw. umarbeiten. Auf AUMs Internet-Webseite war lange der gesamte Text der "Protokolle" zu lesen Zwei Monate vor dem Giftgasanschlag veröffentliche AUM das 95-seitige "Handbuch der Angst", in dem ebenfalls aus den "Protokollen der Weisen von Zion" zitiert wurde.

Möglicherweise ließ sich AUM Shinri-Kyo bei dem zur Abwehr der Polizei-Untersuchungen vom 22. März am 20. März vorgenommenen Anschlag von einer Stelle aus der "9. Sitzung" der "Protokolle" inspirieren, wo es heißt:
"Sie können einwenden, daß die Nichtjuden voller Erbitterung mit den Waffen in der Hand über uns herfallen werden, sobald sie vor der Zeit entdecken, wie alles zusammen hängt. Für diesen Fall haben wir ein letztes, furchtbares Mittel in der Hand, vor dem selbst die tapfersten Herzen erzittern sollen. Bald werden alle Hauptstädte der Welt von Stollen der Untergrundbahnen durchzogen sein. Von diesen Stollen aus werden wir im Falle der Gefahr für uns die ganzen Städte mit den Staatsleitungen, Ämtern, Urkundensammlungen und den Nichtjuden mit ihrem Hab und Gut in die Luft sprengen." 23 
Eine Identifikation mit dem vermeintlichen Aggressor bzw. die Übernahme der diesen unterstellten Kampfmethoden hatte AUM bereits in der Sarin-Affäre um "Satyam 7" vorgenommen.

Das Ende - nur ein Zwischenspiel
Man kann den Weg von AUM Shinri-Kyo als einen Weg der Radikalisierung aus Enttäuschung interpretieren. AUM war nicht in der Lage, seine äußeren hochgespannten Ziele zu erreichen - selbst die Mitgliederwerbung stagnierte, ja sogar engste Mitarbeiter flohen oder versuchten zu fliehen. Immer mehr schottete man sich gegenüber der Wirklichkeit ab, während intern eine Radikalisierung erfolgte.
Man kann aber den Verlauf der AUM-Geschichte auch als den eines ungebremsten Wachstums in eine vorher angelegte Richtung, die Richtung religiöser, absoluter Gewalt sehen. Insbesondere die Schwelle des ersten öffentlichen Gewaltverbrechens, die Ermordung von Rechtsanwalt Sakamoto und seiner Familie wurde ja nicht nach einem Scheitern, sondern nach einem öffentlichen Erfolg, der gelungenen staatlichen Registrierung als Religionsgemeinschaft überschritten.
Für November 1995 wollte man genug Sarin beisammen haben, um den großen Schlag auszuführen , den Krieg zu beginnen bzw. Harmageddon einzuleiten, denn Asahara hatte prophezeit, daß 1995 ein Wendepunkt in Richtung auf eine Entscheidungsschlacht 1997 sein werde.
Die im März heraufziehenden Untersuchungen vor allem auf Grund der Beschwerden von Anwohnern der Chemie-Fabrik, von denen AUM Shinri-Kyo durch seine Polizei-Kontakte frühzeitig Mitteilung erhalten hatte, führten dazu, den geplanten Sarin-Angriff vorzuziehen. Wohl nur dadurch kam es zu Fehlern in der Ausführung, - u.a. gelang es in der Kürze der Zeit nicht, eine ausreichende Menge genügend reinen Sarins herzustellen, so daß das Ausmaß der Katastrophe erheblich begrenzt wurde.

In einem Interview Ende Mai 1995 sagte der japanische Innenminister sogar, wenn die massiven polizeilichen Maßnahmen und Durchsuchungen, die am 22. März begannen, bis Oktober verschoben worden wären, "wäre die Existenz der japanischen Nation auf der Kippe gewesen".

Wie es weiterging
Erstaunlich ist, daß es selbst nach dem Anschlag vom 20. März 1995 und dem Beginn der polizeilichen Durchsuchungsmaßnahmen mit den Terroraktionen noch weitergehen konnte:
30. März 1995 Anschlag auf Takaji Kunimatsu, Chef der nationalen Polizeibehörde und Leiter der Ermittlungen,
5. Mai 1995 Kommandogruppen deponieren mehrere Plastiktüten mit Cemikalien, die Hydrogenzyanid (Zyklon B) freisetzen sollen, an der U-Bahnstation Shinjuku.
16. Mai 1995 Briefbombe an das Büro des Gouverneurs von Tokio, Yukio Aoshima, nachdem der erklärt hat, er werde die Anerkennung von AUM als Religionsgemeinschaft revidieren. Der Sekretär wird beim Öffnen des Briefes verletzt.
4. Juli 1995 versuchter Gasangriff in zwei U-Bahn- und einer Eisenbahnstation mit Plastikbeuteln, wieder mit Zyklon B.
Das Distriktsgericht Tokio entschied am 30. Oktober 1995, der AUM Shinri-Kyo den 1989 verliehenen Status als anerkannte Religionsgemeinschaft zu entziehen. Die Freiheit zu "religiösen Aktivitäten” wurde durch diese Entscheidung nicht berührt. Große Teile des beträchtlichen Besitzes der Gruppe ( allein der Wert der Immobilien wurde auf ca. 30 Millionen geschätzt) soll formal an Einzelpersonen überschrieben worden sein.
1999 verabschiedete das japanische Parlament zwei Gesetze, die eine strengere polizeiliche Überwachung "aller Gruppen, die in den letzten zehn Jahren in Massenmord verwickelt waren” ermöglichen sowie eine Vermögensübertragung an einen Opferfonds verlangen sollen.

Die AUM-Bewegung besteht weiter, hat ihren Namen auf Anweisung des Gurus, der angeblich nicht mehr ihr Guru ist, in "Aleph" geändert.1 

Im Frühjahr 2000 stellte sich heraus, daß AUM-Firmen nicht nur zahlreiche Regierungsstellen mit Computern beliefert hatte, sondern für das Bau- Post- und Bildungsministerium auch die Software entwickelt und geliefert hatten, ebenso wie die Computersysteme für Verteidigungsministerium und Tokioter Polizei.

Fazit
Was bislang als Schauermärchen und Greuelpropaganda gegen neue religiöse Gruppen galt, war von AUM Shinri-Kyo realisiert worden. Was bisher zum Stil und Handwerkszeug totalitärer Regimes gehörte, die einen ganzen Staatsapparat zur Verwirklichung ihrer gewaltigen Pläne zur Verfügung hatten, wurde nun auch von einer - relativ kleinen- religiösen Gruppe realisiert:
Kidnapping und "Verschwinden lassen" von Kritikern,
Entführung und "Zuführung" mißliebiger Personen, die in einem eigenen Gefängnis in Kamikuishiki und einem eigenen Krankenhaus festgehalten und z.T. zu Tode gebracht wurden,
Verfolgung und Gefangennahme ausgetretener Mitglieder,
die Errichtung großer chemischer Labore (über 30 Millionen $ kostete allein das Sarin-Programm) und Fabriken zur Herstellung von Wundermitteln und Wunderwaffen, aber auch von Schnellfeuergewehren,
"Liquidierungskampagnen",
Vernichtungsfeldzüge.

Thesen zum religiösen Terrorismus
1. Neue terroristische religiöse Gruppen sind als solche schwer zu erkennen, denn
* sie entsprechen weder dem klassischen bzw. typischen Bild einer terroristischen Gruppe,
* noch müssen sie dem klassischen bzw. typischen Bild einer Religionsgemeinschaft widersprechen.
2. Das Gewaltpotential neuer terroristischer religiöser Gruppen läßt sich vorab kaum realistisch einschätzen. Die nur auf den Guru als einzigen Gravitationspunkt zentrierte Machtstruktur erlaubt der Gruppe auch relativ schnelle, schlecht voraussehbare Veränderungen.
3. Die von der Außenwelt als terroristisch, bzw. auch als "sinnlos" eingeschätzten Aktionen des religiösen Terrorismus erheben nicht den Anspruch, einen Sinn zu haben, sondern sollen vielmehr selbst Sinn stiften z.B. durch Erfüllung der Prophetien und Worte des Meisters.
4. Es gibt keine natürlichen oder sachlichen Einschränkungen, weder was die Ziele, noch was die Mittel betrifft, da Ziele, Mittel und Aktionen zusammenfallen.
5. Auch alle taktischen Rücksichtnahmen z.B. auf die Außenwirkung fallen fort, da es keine Zuschauer, kein Publikum, keinen außenstehenden Rest der Welt mehr gibt.
6. Eine Rechtfertigung der terroristischen Aktionen ist nicht erforderlich; sie liegt in den Aktionen selbst, denn diese rechtfertigen die Lehren und Offenbarungen, stellen die "Wahrheit” selbst dar und sind insofern per se heilige, bzw. Transzendierende Handlungen. Auch Gewalt und Zerstörung im Vollzug dieser Aktionen muß nicht gerechtfertigt werden, sondern ist u.U. die Sache selbst.
7. Von diesem totalen Ansatz her ist der Drang zu den effektivsten, also zu Massenvernichtungsmitteln, zur industriellen und technisierten Tötung naheliegend.

Was lief schief
Will man Lehren für künftige Situationen ziehen, so ist man gut beraten, zunächst beim Namen zu nennen, was in Japan erkennbar falsch gelaufen ist oder versäumt wurde:
* Fehlende geistige Auseinandersetzung. Es fehlte die Ideologie- und Religionskritik wegen mangelnder Kenntnisse der Lehre der Gruppe, aber auch auf Grund eines einseitig verstandenen Begriffs von Religionsfreiheit
* Massive Angriffe gegen Kritiker wurden von der Öffentlichkeit ignoriert. Diese Angriffe gingen bis hin zur Ermordung von Kritikern, die von der Öffentlichkeit nicht geschützt wurden
* Zurückhaltung von Polizei und staatlichen Behörden. Es gab Befürchtungen, bei Untersuchungen gegen die Religionsfreiheit der Gruppe zu verstoßen
* Kollaboration der Medien mit AUM Shinri-Kyo (TBS-Skandal)
* Kollaboration von Wissenschaftlern einer regelrechten internat. Kult-Lobby. Die International Herald Tribune vom 10.5.1995 meldet den Japan-Besuch einer Delegation des "Unterausschusses für Religionsfreiheit der Amerikanischen Anwaltsvereinigung". Sie warnte davor, die japanische Polizei gefährde die Religionsfreiheit der AUM Shinri-Kyo. Bei den z.T. in den Gebäuden der AUM Shinri-Kyo durchgeführten Pressekonferenzen vertrat die Delegation die Ansicht, die Bewegung sei unschuldig, AUM Shinri-Kyo habe das Sarin nicht produzieren können, sondern sei ein Opfer exzessiven Polizeidrucks. Den erstaunten und z.T. empörten japanischen Journalisten teilte die Delegation mit, daß sie anhand von Photos und Dokumenten, die die Gruppe zur Verfügung gestellt habe, wüßte, daß diese nichts mit den vorgeworfenen Straftaten zu tun habe. Barry Fisher appellierte an die Polizei, der Versuchung zu widerstehen, "eine Religion zu vernichten und Freiheit zu bestreiten". Die Furcht vor Terrorismus in Japan werde nur als Vorwand benutzt, um die Polizeigewalt zu stärken. Gordon Melton, Barry Fischer, James Lewis und Thomas Banigan gaben an, die buddhistische Extremsekte habe sie eingeladen, Flugreise, Hotel und "Basisspesen" seien von AUM Shinri-Kyo bezahlt worden. 25 

Konsequenzen
Religionsfreiheit muß in Europa wie bisher die Glaubens- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit des Individuums (vgl. z.B. Art. 4 deutsches GG) gegenüber staatlicher oder nun auch gegenüber organisatorischer Fremdbestimmung des Einzelnen bleiben. Entsprechend hat auch das Europäische Parlament verschiedentlich deutlich votiert. 26 
* Religionsfreiheit ist ein individuelles, ein Menschenrecht und darf weder zum Deckmantel für Terrorismus, Organisierte Kriminalität oder nachrichtendienstliches Tun werden
* noch zum Freibrief für private Organisationen und Unternehmen werden, die sich gegenüber dem einzelnen und der Gesellschaft erlauben, was dem heutigen Staat mit gutem Grund verwehrt ist.
Der Entfremdung von der Gesellschaft, der Isolierung und Abkapselung von Gruppen und der schließlichen terroristischen Verhärtung und Wendung von Gruppen gegen den Einzelnen und die Gesellschaft im Ganzen muß entgegengearbeitet werden durch eine möglichst offene, beobachtende, kritische Begleitung,
* durch Kirchen und andere Religionsgemeinschaften, die dem Gegenüber einen fairen, aber konfrontativen Dialog schulden;
* durch Presse und Medien,
* verwaltungsmäßig oder politisch zuständige Stellen (z.B. Jugendbehörden, Gesundheitsbehörden),
* Wissenschaft
* Informations- und Nachrichtendienste,
* aber ggF. auch durch Polizei und Strafverfolgungsbehörden
wobei, dies muß eigens betont werden, auf allen Ebenen auch und besonders die Erfahrungsberichte von Flüchtlingen und Aussteigern sorgfältig zu würdigen sind.

Pfr. Thomas Gandow, 55, Berlin, ist Kirchlicher Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen in Berlin-Brandenburg, Herausgeber des Berliner Dialog und Vizepräsident des Dialog Center International in Aarhus, Dänemark.

Anmerkungen
Sachstand: Mai 2001.
Für diese Ausarbeitung benutzte Materialien, soweit nicht in den einzelnen Fußnoten angegeben:
* div. AUM Shinri-Kyo-Literatur
* Informationen des japanischen Rechtsanwaltsteams
* Interview mit dem AUM-Shinri-Kyo-Deutschland-Repräsentanten Herrn Wakatake, Bonn, am 17.4.1995

1   Aus der Broschüre "Vajrayana Resolution", wiedergegeben von Hidetoshi Takahashi in: Aum kara no kikan ("Die Rückkehr von Aum," Tokio 1996, S. 162f; deutsch zitiert nach Lifton, S. 99.
2   vgl. hierzu Berndt Georg Thamm: Religiöser Terrorismus, Symbiotischer und Ethnonationaler Terrorismus. Gefahrenpotentiale neuer Formen des Terrorismus in: Berliner Dialog 1/2-2001, S. 19 ff.
3   gegründet von Shoko Asahara (bürgerlich: Chizuo Matsumoto), * 2.3.1955, im Februar 1984 in Tokio als "Aum Shinzen no Kai" (etwa: Aum Magier vom Berge-Vereinigung) eine Art New-Age-Gruppe; im Juli 1987 umbenannt und umgegründet als explizite Religionsgemeinschaft "Aum Shinri-Kyo" (Aum Höchste Wahrheit-Religionsgemeinschaft)
4    im Internet zu finden unter: http://www.religio.de/dialog/295/295s42.htm
5    Vgl.u.a. http://www.asahi.com/paper/aum
6   http://www.fas.org/irp/congress/1995_rpt/aum/index.html
7    http://www.csis-scrs.gc.ca/eng/miscdocs/postscre.html u.a.
8    zitiert nach Reader S. 27
9    "An denjenigen, den es angeht:
AUM strebt nach meiner Kenntnis an, das öffentliche Bewußtsein durch religiöse und soziale Aktivitäten zu fördern.
Neben dem Angebot intensiver Meditationsanleitung praktizieren die AUM-Mitglieder auch die Traditionen des Mahayana-Buddhismus.
AUM hat auch großzügige Spenden bereitgestellt für unsere buddhistische Exil-Gemeinschaft, insbesondere für Mönch-Studenten, die kürzlich aus Tibet hier eingetroffen sind. Die Spenden waren sehr nützlich und werden von uns sehr geschätzt. 26. Mai 1989"
Übersetzung: Th. Gandow, zitiert nach Berliner Dialog 2/1995, S. 42.
10   "Rat für religiöse und kulturelle Angelegenheiten seiner Heiligkeit des Dalai Lama
An denjenigen, den es angeht
AUM Shinri-Kyo ist eine östliche religiöse Organisation in Japan, die unter der geistlichen Führerschaft von Meister Shoko Asahara steht und arbeitet und aus über 6000 Mitgliedern und zwölf Zweigorganisationen innerhalb und außerhalb Japans besteht.
Meister Asahara ist ein kompetenter religiöser Lehrer und Yoga-Lehrer und ein erfahrener Meditationsausübender.
AUM strebt nach unserem besten Wissen an, die öffentliche Wohlfahrt zu fördern durch verschiedene religiöse und soziale Aktivitäten; z.B. durch Unterricht über die buddhistischen Lehren und über Yoga, durch die Organisierung von Seminaren und durch das Angebot von Anleitung in fortgeschrittener Meditation sowie ethischen Übungen. Vor allem beabsichtigt AUM, die wertvollen lebenden Traditionen des Mahayana Buddhismus zu erwerben um die wahre Lehre des Dharma in Japan wiederherzustellen und weiterzugeben.
Als grundlegende buddhistische Praxis hat AUM großzügige Spenden für unsere buddhistischen Gemeinschaften im Exil gemacht. Wir sind sehr dankbar für die freundliche Unterstützung für unsere Kultur und unsere bedürftigen Gemeinschaften.
 Angesichts seiner schätzenswerten Ziele und Aktivitäten ist es unbedingt zu empfehlen (it stands highly recommendable), daß AUM Shinri-kyo ihr wohlverdienter steuerbefreiter Status und die gebührende Anerkennung durch die japanische Regierung gewährt wird.
Alle nötige Unterstützung und Zusammenarbeit der beteiligten Behörden in dieser Angelegenheit wird von uns hoch geschätzt werden." (Übersetzung: Thomas Gandow, zitiert nach Berliner Dialog 2/1995, S. 42 f.)
11   Dieser Vorgang der Kollaboration einer Fernsehstation mit AUM Shinri-Kyo wurde erst öffentlich, als Hayakawa am 12. März 1996 als geständiger Angeklagter vor Gericht stand.. Vgl. dazu den Bericht von Uwe Schmitt: bei Interview Mord. Ein japanischer Fernsehsender leistete Motivsuche für "Aum" in: FAZ vom 6.4.1996.
12   Vgl.: US. Senate Subcommittee on Investigations (Minority Staff), Staff Statement, Global Proliferation of Weapons of Mass Destruction: A Case study on Aum Shinri Kyo, Washington, D.C. October 31, 1995, S. 11 im Internet zu finden unter http://www.fas.org/irp/congress/1995_rpt/aum/index.html
13   Vgl.: Shimazono Susumi: In the Wake of Aum: The Formation and Transformation of a Universe of Belief, Japanese Journal of Religious Studies 223/3 (1995, S. 381-415 und Manabu Watanabe: Religion and Violence in Japan Today: A Chronological and Doctrinal Analysis of Aum Shinrikyo in: Terrorism and Political Violence 4 (Winter 1998) S. 80-100.
14   Besonders dazu Lifton 1999 in seinen Kapiteln "Die ekstatische Wissenschaft", a.a.O. S. 129 ff ; zu den Ärzten "Töten, um zu heilen", a.a.O S. 151.
15   Zum Thema "AUM-Kult in Rußland und seine Freunde" siehe besonders auch die frühen Berichte von Alexander Dvorkin: Der Aum Shinri-Kyo-Kult des Shoko Asahara, Berliner Dialog 2/1995, S. 37 sowie Andrej Kurajew: Der Aum Shinri-Kyo Skandal und die Diskussion um die neue Gesetzgebung zur Religion in Rußland, Berliner Dialog 2/1995 S. 6 ff.
16   Der Vorgang wird hier entsprechend dem Bericht von Alexej Dubatow in der Tageszeitung "Die Welt" vom 21.10.1995 wiedergegeben.
17   Lifton, S. 49;   18   Lifton S. 187.
19   Reader, S. 19;   20   Reader S. 194.
21   Aus der Erklärung der Staatsanwaltschaft zur Chronologie von AUM, zitiert nach Lifton, S. 77.
22   Aus der Broschüre "Vajrayana Resolution", wiedergegeben von Hidetoshi Takahashi in: Aum kara no kikan ("Die Rückkehr von Aum," Tokio 1996, S. 162f; deutsch zitiert nach Lifton, S. 99.
23   hier zitiert nach Jeffrey L. Sammons (Hrsg.): Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus - eine Fälschung; Text und Kommentar. 128 S.; Wallstein Verlag, Göttingen 1998, S. 58.
24   AUM hat heute wieder 15 örtliche Zentren, in denen 5000 Mitglieder organisiert sind und ein Trainingscenter mit 500 Insassen. Von Polizeiexperten werden auch höhere Zahlen genannt. Demnach gibt es landesweit sogar 30 Büros; 500 Führungsmitglieder würden jetzt als Vollzeit-Priester arbeiten. Von den ursprünglich 427 verhafteten Sekten-Führern sind 138 nach Absitzen ihrer meist kurzfristigen Gefängnisstrafen zu ihrer Organisation zurückgekehrt.
Obwohl die Gruppe offiziell ihre Rechte als religiöse Organisation verlor, und damit vor allem Steuererleichterungen, konnte sie sich finanziell vermutlich durch Geldzuflüsse aus ihrer neuen Finanzquelle sanieren, der "Trisal"-Computershop-Kette, deren Läden zum Teil auch als Anlaufstellen dienen.
Atsuyuki Sassa, früherer Chef des Sicherheitsamtes der Regierung, kritisiert daher, daß die Organisation nicht nach dem Gesetz gegen subversive Aktionen aufgelöst wurde. Eine Kommission des Justizministeriums hatte am 31. Januar 1997 einen entsprechenden Antrag der Abteilung für öffentliche Sicherheit abgelehnt, weil der Kult keine Gefahr mehr darstelle. Sassa hält dagegen, daß der Kult mehr als 24 illegale Aktionen sowie eine Serie brutaler Morde und terroristischer Angriffe zu verantworten hat.
(Q: Sankei Shimbun, 8.9.1997; Japan Times, 15.9.97 und Russel Skelton "The second Coming of a deadly sect in Sydney Morning Herald", 20.9.1997; vgl.: http//:www.smh.com.auch:80/daily/content/970920/world/world4.html )
25   Siehe Berliner Dialog 3/1995 S. 26 und Teresa Watanabe: Alleged Persecution of Cult Investigated Japan: U.S. activists visit Tokyo. They 're concerned about treatment of sect suspected in subway attack. The Los Angeles Times May 6, 1995.
26   Vergleiche: "Entschließung zu den Sekten in Europa" Bundesrat Drucksache 196/96 vom 14.3.1996 Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zu den Sekten in Europa Zugeleitet mit Schreiben des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments - 008129 - vom 12. März 1996. Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung am 29. Februar 1996 angenommen.
  - Der Text ist im Internet u.a. dokumentiert: http://www.religio.de/dialog/397/397s37.html


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