Selbstrechtfertigung oder solus Christus
Solus Christus - Christus allein. Wenn das nicht so wäre, könnten wir unseres Heils nicht gewiß sein.
Die meisten Zeitgenossen sehen das wie wir alle wissen - nicht so, weil das gestörte Verhältnis zu Gott in ihrem Bewußtsein keine Rolle mehr spielt. Die meisten setzen auf Selbstvollendung aus eigener Kraft.
Es paßt ja zu unserem Wesen, auf Norm, Leistungssoll, Verdienst, Nachweis erfüllter Pflicht zu setzen, und das alles ist - genau wie Gesetze, die unser Zusammenleben regeln, auch erforderlich. Aber das alles hat keine Heilswirkung. Es kann auch schwerlich die Basis unseres Daseins sein. Wenn mein Selbstwertgefühl sich aufbaut auf der Überzeugung: Leiste ich was, so bin ich was - was ist dann, wenn ich nichts mehr leiste? Was ist, wenn ich krank, wenn ich arbeitslos werde, wenn ich mein Gesicht verliere, wenn ich schuldig werde, wenn ich nichts mehr bin vor den Menschen? Was rechtfertigt dann mein Dasein?
Wer nur auf sich und seine Leistung baut, den begleitet insgeheim immer die Angst um sich selbst, die ihn unfrei macht.
Der Blick auf den gekreuzigten Christus macht frei von solcher Angst. Das Kreuz Christi sagt mir: Selbst wenn ich mich von Gott und allen guten Geistern verlassen fühle und nur noch schreien möchte: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? - dann ist Gott mir im gekreuzigten und auferstandenen Christus nahe. Er spricht mir eine innere Stabilität und Zuversicht zu, die mich verwandelt und trägt.
Ablaß und Esoterik
Mich erstaunt immer wieder die Naivität, mit der die esoterischen Angebote auftreten: "Entdecke das Göttliche in dir und in anderen." "Erkenne, daß du ein Gott bist." Die Behauptung vom "heilen Menschen" ist - so scheint es - mitten in einer Welt voller Unheil nicht zu erschüttern.
Der neureligiöse Markt, die Psycho- und Esoterikszene setzt auf die Schaffung des neuen Menschen aus eigener Kraft. Daher sind dort die Angebote leistungsorientiert. Da dieser Bereich jedoch auch konsumorientiert ist, kann sich - wer die Mittel hat - auch von der persönlich zu erbringenden Anstrengung durch Geldleistung befreien. Es ist nicht mehr nötig, sich selbst oder seine Lebensgewohnheiten zu ändern, wenn der Kunde zum Beispiel Steine kaufen kann, die negative Schwingungen in positive verwandeln. "Sobald das Geld im Kasten klingt...": Tetzels Ablaß-Truhe steht heute auf Esoterik-Messen.
Liebe Gemeinde: Sinn, Gewißheit, Basis unseres Daseins, Glauben können wir nicht kaufen und auch nicht aus uns selbst heraus setzen - das bleibt angesichts solcher Erscheinungen die unaufgebbare reformatorische Botschaft. Die Kirche und ihre Verkündigung ist unverzichtbar, um ständig diese Dimension offen zu halten: Diese Welt und der Mensch leben von einer Vorgabe Gottes. Unser Dasein ist nicht aus sich selbst heraus begründbar. Wir können weder die Welt noch uns selbst heilen aus dem, was in uns ist. Die Menschenwürde, von der heute so viel die Rede ist, ist von Gott zugesprochene Würde, die darum auch besteht, wenn sie nicht oder kaum noch erkennbar ist bei Kranken, Behinderten, Alten.
Befreiung als Bescherung
Die uns von Gott geschenkte Gerechtigkeit und die damit verbundene Freiheit können nur empfangen werden. Für Luther war diese Erkenntnis wie der Eingang ins Paradies, er erlebte eine Befreiung durch den Glauben, eine Befreiung zur Tat!
Wie kann diese Tat bei uns aussehen mitten in der verwirrenden Vielfalt der religiös-weltanschaulichen Angebote unserer Zeit, aber auch angesichts der ganz gegenläufigen Strömungen des sogenannten Zeitgeistes? Da gibt es neben der neuen Religiosität eine fortschreitende Säkularisierung, neben der ausufernden Esoterik einen einseitigen Rationalismus, neben dem Individualismus die Kollektivierung und Uniformität, neben der nachlassenden Kirchlichkeit zunehmende Gemeindeneubildungen, Beliebigkeit neben Fundamentalismus.
Was glaubst denn du?
Mitten in dieser verwirrenden Vielfalt wird nach dem Profil der Kirche gefragt, die in all ihren Lebensäußerungen bezeugt, daß der Glaube an Jesus Christus gerecht macht.
Hier ist jeder von uns angesprochen: Hat unser Glaube dies Profil? Wir erleben es als kirchliche "Beauftragte für Sektenund Weltanschauungsfragen" doch immer wieder, wenn wir versuchen, christliche Positionen, auch die Lehre der Kirche zu verdeutlichen:
Zur Sache geht's eigentlich erst dann immer, wenn wir gefragt werden: Was glaubst Du selbst?
Diese Frage kann jedem Christen gestellt werden, jeder und jede sollte froh sein, wenn das geschieht. Dann zeigt sich, ob wir vom Ja Gottes leben und getragen werden. Denn als von Gott gerecht Gesprochene können wir den Menschen ohne Überheblichkeit und ohne Selbstgerechtigkeit seine Liebe bezeugen und so ideologische Verkrustungen innerhalb und außerhalb der Kirche aufbrechen.
Bescherte können schenken
Als von Gott Beschenkte stehen wir nicht mit dem Rücken zur Wand, die Hände abwehrend nach vorne gestreckt - so habe ich meinen Dienst auch nie empfunden! Wir sind von Gott begabt, etwas zu bieten. Wir vertreten weder das Gesetz noch die Leistung als Lebenssinn.
Nicht nur Stephan hat erfahren, daß menschliche Kommunikation in der Kälte des Leistungsdrucks erfriert. Durch Liebe ohne Vorbedingung, durch gegenseitige Zuwendung, durch Vertrauen hat er Befreiung erfahren. Was so im menschlichen Bereich möglich ist, kann uns bestärken, das zu leben, was wir durch Gottes Gnade sind: Von Gott angenommene Menschen, die andere annehmen können; von Gott aufgerichtete, die besonders denen helfen sollten, die dem Nihilismus nahe sind, weil ihr Eifer, sich selbst und diese Welt in Ordnung zu bringen, scheitert.
Täusche ich mich etwa, wenn ich feststelle: Immer mehr Menschen erkennen oder erahnen, wie hohl viele WohlfühlAngebote sind und wie hoffnungslos die Selbsterlösungsmodelle.
Laden wir sie doch ein: Weg aus dem individuellen und kollektiven vergeblichen Aufbruch zur Selbst-und Welterlösung in die Gemeinschaft derer, die ihr Vertrauen auf die vollzogene Erlösung setzen.
Mit der Erkenntnis des Paulus, daß der Selbstruhm zusammenbricht, verstummt ja nicht jegliches Rühmen, nicht der Dank dafür, daß Gott es gut gemacht hat mit uns, daß er unsere Verkehrtheit zurecht bringt. - Im Gegenteil. Immer wieder rühmen wir, daß er uns die Kraft des Vertrauens schenkt, die frei macht von Angst, frei von Druck, frei zur Tat.
Bezeugen wir es gemeinsam: Das alles ist erfahrbar für die, die sich sagen lassen: Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn. - Amen.
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