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| BERLINER DIALOG 17, 2-1999 Johannis - Martini DOKUMENTE |
Schon in der Vergangenheit hat sich der BERLINER DIALOG immer wieder an der hoch ideologisierten Debatte um die "Qualifikation der Beraterszene" mit versachlichenden Beiträgen und kritischen Rückfragen beteiligt: Mit redaktionellen Beiträgen, aber auch grundsätzlichen Stellungnahmen von Gastautoren. Für den eigenen, kirchlichen Bereich hat der BERLINER DIALOG dabei stets ein theologisch verantwortetes apologetisches Handeln der Kirchen gefordert. Nach der Veröffentlichung des Schlußberichtes der Enquetekommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" des 13. deutschen Bundestages hat die Diskussion um die Beratungsarbeit und ihre Ausrichtung sowie um die Qualifikation der Beraterinnen und Berater eine neue Qualität bekommen. So befürwortet die Kommission in ihrem Endbericht als "Aufgabenfeld" für die allseits geforderte Stiftung "die Mediation ( - Vermittlung. - Red.) zwischen Konfliktpartnern", so als ginge es in der Regel um mehr oder weniger symmetrische Konfliktbeziehungen die nur der Vermittlung bedürften. Nach dem Sondervotum der Arbeitsgruppe der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen "stellt die aktuelle oder ehemalige Mitgliedschaft in einer neuen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft zwar einen wichtigen Faktor dar, sie kann jedoch in der Regel nicht als Ursache der jeweils bestehenden Probleme angesehen werden. Dies wird in der Beratung zu berücksichtigen sein." Weiter heißt es in diesem Sondervotum: "Wir empfehlen deshalb, die psychologische Beratung im Umfeld neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen in die allgemeine psycho-soziale Beratung einzubeziehen. Um die weitere öffentliche Diskussion die-ses Problemfeldes anzuregen, dokumentieren wir im Folgenden einen Vortrag von Pfr. Dr. Richard Ziegert, Speyer, den er bei einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung am 26. Juni 1999 im Herz-Jesu-Kloster in Neustadt/Weinstraße gehalten hat. - Red. |
Beratung oder Therapie ? |
I. I.Zu den methodischen Vorentscheidungen Das Thema ist die in den Konzepten aufscheinende Alternative Beratung oder Therapie bzw. die Kombination von beidem. Dazu werden positionell dokumentierte(1) Konzepte exemplarisch beleuchtet. Ihre Kritik erlaubt einige Kriterien ins Licht zu stellen, die sich in sehr ähnlicher Argumentationsstruktur zur Rechtfertigung des Aufwandes und zur sachlichen Beschreibung der "Professionalität" in der "Sektenberatung" konzentriert auf die psychologischen Aspekte und Hintergründe des Religiösen, auch in der "sektiererischen Form", berufen. Diese Berufung dient aber nicht der psychologischen Erfassung des Religiösen. Sie dient als Sprungbrett in die von zahlreichen Psychologen in kirchlichen Beratungsstellen betriebene, in der Hauptsache psychotherapeutische Methodenlandschaft. Dies zeigt sich rein äußerlich daran, daß auch charakteristische Glaubensinhalte im Grunde vollkommen ausgeklammert werden. Sie sind kein wichtiges Beratungs-Thema, sind weder eine psychologische "Variable", noch und erst recht nicht eine "Konstante" des zugrundegelegten Personbegriffs.
Die theoretische Rechtfertigung für solche "volle Psychologisierung" findet wissenschaftliche Gestalt: "Religionspsychologie" wird anders als in den 20er Jahren aufgrund der universitären Wissenschaftsorganisation heute überwiegend als "psychologische Religionspsychologie" (2) begriffen, als Instrument der Psychologie, nicht der Religionswissenschaft. Die Popularisierung dieser Einordnung muß fast erwartungsgemäß den Blick von aller Religion noch weiter ablenken: Religiöse Wahrnehmungen, religiöses Erleben und individuelles wie gemeinschaftliches religiöses Verhalten werden als informationelle Grundlage und/oder willkommenen Anlaß genommen, um dann mit schnellen Schritten zu einer Beschreibung psychosozialer Vorgänge zu kommen, die mit den aus anderen Bereichen der Psychologie bekannten Methoden und Konzepten erfasst werden können. Gewiß wird behauptet, dabei das Religiöse noch angemessen zu berücksichtigen, aber: Religion darf nur "Symptom" sein, niemals Ursache. Damit ist unterstellt: Jede (nur) religiöse oder religiös-menschliche Einflußnahme würde die Not nicht lindern, Angst nicht reduzieren, Handlungsfähigkeit nicht herstellen können usw.. Solches können nur "Therapeuten", die seit der Antike immer auch "Fundamentalisten" waren. Wer genau hinsieht kann ohne weiteres die heute weit verbreitete agile Dialektik eines angeblich rein religionsneutralen Psychologismus als "strukturelle Parteilichkeit" identifizieren. Sie ist eine intolerante "Toleranz". Bei allem auffälligen inhaltlichen Abwiegeln der Kontroversen über religiöse Gehalte transportiert sie unter der Decke sehr bestimmte Persönlichkeitsideale, deren eigener Charakter als "Religion", als Ideologie und Interessenwahrung gegenüber Kritikern z.T. polemisch abzuschirmen versucht werden. Das Hauptargument, mit dem um politische Unterstützung und d.h. öffentliches Geld geworben wird (5), ist das der gesellschaftlichen "Neutralität", einer eben erstaunlich "totalen Neutralität", die auch keinerlei "religiöse Neutralität" anerkennt, die selbstlos und im menschlichen Sinn interessenfrei als "neutrales" religiöses Begleiten, religiöse Hilfestellung und Beistandstandschaft leistet. Stattdessen wird "Religion" prinzipiell Bevormundung, Indoktrination und Ausbeutung unterstellt und jede "protektive Funktion" (6) von Religion (Klosinski) ignoriert. Dieses Argumentationsmuster gewinnt unübersehbar gesellschaftliche Breite und auch die Kirchen (wie alle religiösen Interessengruppen) müssen heute "dieser Dialektik der Neutralität größte Aufmerksamkeit schenken" (7). Es sind die eigenen Glaubenssätze auch des Psychologen, die ihm den Zugang zur Religion völlig versperren (können). So stehen unter dem Dach "staatlich notwendiger" sektenpolitischer und d.h. hier immer auch: religionspolitischer angeblicher "Unparteilichkeit" und "Realitätsnähe" auch vor den Türen der kirchlichen Beratungsarbeit marktwillige und machtaufsaugende Ideen eines psychologischen Perfektionismus, dessen Zielpunkte allein auf die Statik von Ichstärke, Durchsetzungsvermögen und optimierter "Überlebensfähigkeit" ausgerichtet sind und dessen Methode in der "Sektenberatung" offensichtlich auch nur so heißen kann: "Erfolg ist eine im voraus getroffene Entscheidung". Das Problem muß gelöst, der Konflikt muß mindestens "reduziert" werden, es muß trotz der methodischen "Ergebnisoffenheit" doch "Ergebnisse" geben (8). Muß es aber nicht.
In solcherart psycho-ideologisch aufgeladener Form von Lebenshilfe geht es dann in der Tat nicht um Wahrheit(en), sondern nur noch um bloße Güterabwägungen, die im Konfliktfall durch den unterstellt unparteiischen Blick auf "vorhandene Ressourcen" des Klienten ein "realisierbares Beratungsziel" (9) erkennen. Alle Konstanten von "Sitte", Vertrauenskultur, religiösem Lebensprinzip oder Gewissensbindung werden in den vorhandenen Spitzentexten zum Konzept heutiger "Sektenberatung" ersetzt durch die aggressive Propaganda einer Lebenstechnik, die Menschen beibringt, grundsätzlich die Probleme bei sich selbst zu suchen, und die sich auch gar nicht scheut, mit "systemischen" Therapie-Eingriffen, d.h. mit suggestiv verfügendem Ersatz eines falschen Lebensmusters durch ein neues, anderes und besseres "System" Menschen zur Überwindung ihrer "Sektenprobleme" zu bringen. Daß die aufgebaute neue Lebensgewißheit nur ein therapeutisches "Konstrukt" ist, stört nicht: Mit dem Hinweis auf "Wissenschaftlichkeit" und einer Panzerschrank-Sicherheit suggerierenden Behauptung einfacher (nicht einmal, wie bei der in Sachen "System-Therapie" sehr genauen Selvini-Palazzoli, grundsätzlich doppelten!) Supervision wird Behauptungscharakter und Willkür der konzeptionellen Entscheidungen zu überspielen versucht. |
II. Zum Konzept von Beate Roderigo: Sekten-Beratung als "Therapiearbeit"
Frau Roderigo hat ihre Thesen von 1996 in dem umfänglicheren Gutachten für die Enquete-Kommission 1998 weiter illustriert, das für die inhaltliche Bestimmung der abschließenden Empfehlung maßgebend geworden ist. So empfiehlt der Abschlußbericht "die Einrichtung einer Stiftung/Mediationsstelle als interdisziplinär arbeitendes Institut zur Durchführung von Forschungsarbeiten, Publikationen, Erstellung von Gutachten für Gerichte und staatliche Stellen sowie für Schulungs- und Informationsmaßnahmen" (18). Damit ist ein erstaunlich umfassender autoritativer Rahmen gesetzt, der unter der ideologischen Maßgabe "Mediation" tatsächlich dann auch alles zu kontrollieren hätte: die Forschung, die Rechtsprechung zu den "Sektenfragen", die von staatlichen Zuwendungen abhängige und durch Geldzuwendungen politisch beinflußbare Beraterszene und via Fortbildungsmonopol letztlich auch die Zulassung und öffentliche Reputation sogar auch der kirchlichen und freien Aktivisten in der "Sektenberatung". Der Ausgangspunkt von Frau Roderigos Gutachten für die Enquete-Kommission ist die völlig unbegründete Behauptung, daß die "Sektenberatung ... sich aus dem Hintergrund des modernen, weltanschaulich-religiösen Diskurses gelöst hat und jetzt ein ... Eigenleben führt" (19). Konsequent wird jede Form von "Ausstiegsberatung" abgelehnt und empfohlen, "Sektenberatung im Sinne einer Verbraucherberatung durchzuführen" (20). Es gilt, in einer Art Vogelperspektive "die Vergleichbarkeit der 'Angebote' herzustellen und nicht eine a priori Verurteilung der Gruppen. Dies setzt voraus, daß auch positive Aspekte der Anbieter - seien sie nun religiös motiviert oder dem Spektrum des Psychomarktes zuzurechnen - wahrgenommen und benannt werden müssen. Psychologische Beratung in diesem Sinne würde eher die Funktion einer Mediations- als einer Ausstiegsberatung erfüllen" (21). Freilich: "Die gründliche Diagnose jedes Einzelfalles ist oberste Pflicht der Sektenberaterinnen und -berater" (22). Die in der kirchlichen wie freien Beratungsarbeit selbstverständlichen Verhältnisse werden einfach umgedreht: nicht Kult, "Sekte" oder Religion wird gründlich geprüft, sondern diejenigen, die Rat suchen, müssen sich bei der Indikation "Kult" bzw. "Sekte" auf ihren Therapie-Bedarf hin "diagnostizieren" lassen. Gilt bisher: wenn jemand will, kann er von sich erzählen, wieviel er will und es wird ebenso respektiert wie Schweigen und der Anspruch auf Intimität, so gilt jetzt, daß die Beratung genau nicht mehr nur Information sein darf, sondern die Kontakt-Kommunikation von vornherein instrumentellen Charakter haben muß. Wenn man etwas gnadenlos zurückfragt, müsste man ausführlicher prüfen, ob hiermit nicht doch ein psychologischer Voyeurismus schon in massiver Weise zum tolerierten systematischen Religionsersatz wird. Denn die mit absolutem Anspruch auftretende Ideologie der "perfekten Diagnose" ist tatsächlich selbst die einzige Letztbegründung, die nicht zugegebene Form von "Religion", die auch Frau Roderigo im Kampf sieht gegen die von ihr ausgemachten bösen Dinge in der Sektenberatung. Auch Frau Roderigo verfolgt ihre Ketzer: Wer es anders sieht als sie, der ist bestenfalls krank. Was immer auch an religiöser "Professionalität" eingebracht werden kann, ist lediglich "Detailwissen über die Glaubenswelt und Lebenspraxis der jeweiligen Weltanschauung sowie deren Struktur und Sprache"(23). Wer darüber hinaus nicht mehr "fest auf dem Boden der Tatsachen bleibend" eine religiöse "Vorstellung vom 'idealen Menschen'" hat, bewegt sich schon im "Sektenterrain" oder hat abgehobene "Omnipotenzphantasien"; da dies aber irreale Möglichkeiten sind, "müssten Sektenberaterinnen und -berater Universalgenies oder, nach neuerem Sprachgebrauch, multiple Persönlichkeiten sein" (24), müssten also zu solchermaßen schizophrenem Denken und Handeln fähig sein, das jede Ernsthaftigkeit gesellschaftlicher Kommunikation ausschließen müsste. Frau Roderigo will repräsentativ für den Interessenkomplex der Berufspsychologen die kirchlich-religiöse "Sektenberatung" unter psychologisch-therapeutische Kuratel stellen. Für sie gibt es, wie sie in den höchst illustrativen "Beispielen" "aus ihrem Gedächtnis" katechisiert, nur ein entweder/oder. Seelsorglich-religiöse Gesichtspunkte spielen überhaupt keine Rolle. "Die Diagnose der aktuellen Situation und des Gesamtzustandes der Sektenberatung" erlaubt ihr, "das Aufgabenspektrum, die Zielsetzung und die Grenzen der Sektenberatung ... verbindlich festzulegen" (25). Daß eine "Sekte", auch die von Frau Roderigo zur mustergültigen Diskurs-Sekte hochstilisierte und in höchst fahrlässiger Weise harmlos dargestellte Hare-Krishna-Gruppierung, wirklich zu "Gegenseitigkeit", Zulassung echter Freiwilligkeit und "Nicht-Abgrenzung" bereit ist, setzt eine Integration in unsere christlich-abendländische Aufklärungskultur voraus oder mindestens die echte Bereitschaft dazu, die die meisten Gruppierungen auch nicht ansatzweise zu leisten vermögen, auch "Hare-Krishna" noch immer nicht. Ungerührt von aller Betroffenheit durch die zugänglichen Sachstände und ohne Empfindung für die existentielle Bedeutung religiöser Praxis wird die Tiefe und Besonderheit der "Sektenproblematik" von ihr geistig planiert: "Die Alltagsbeobachtung jedenfalls lehrt, daß sich da, wo Menschen miteinander streiten, die Motive und Methoden durchaus ähneln" (26). Wer mit solch flacher Argumentation gegen alles Kirchliche und alles Religiöse gerichtet wie in einem Spinnen-Netz mit der Ermächtigung zur "vollständigen Kontrolle" und mit dem Geld des Staates das zentral bürokratisieren will, was im Leben niemals auf einen einzigen Begriff zu bringen ist, wird vielleicht nie begreifen können, welche Lebensrelevanz ein persönlicher Glaube, die Entscheidung für eine Religion und die Beziehung zu dem gewinnen in der Lage ist, was mit dem Wort Gott auch immer gemeint sein kann. |
III. Die Entwicklung des Sektenberatungskonzeptes im katholischen Raum
Der "pastorale Ansatz" weiß zwar auch, wie wichtig das Bemühen um das psychische Wohlbefinden, um das alltägliche Funktionieren-Können und die Abgleichung von Interessenlagen für das Zusammenleben der Menschen ist, aber er sieht das alles von seinem Wissen um den Menschen her als etwas Vorläufiges an, das immer doch mehr oder weniger in Verstrickungen und manchmal auch unauflöslicher Tragik gefangen bleibt, deren "Bewältigung" oft nur noch im Aushalten-Können und im Gewinn von religiöser Gelassenheit besteht. Bei allem, was z.B. auch in den vatikanischen Texten von 1991 für einen Protestanten fremd bleibt - z.B. daß Seelsorge nicht zuletzt keine gleichberechtigte Sache von "Laien" sein kann, zeichnen sie doch ein Grundverständnis des Christlichen, das "gerade in einer Zeit des drohenden kirchlichen Selbstverlustes" (Alois M. Haas, 7.6.1999) an viele unter Christenmenschen selbstverständliche religiöse Prinzipien erinnert. In dieser Grundströmung hat sich auch der "Arbeitskreis für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Bistum Aachen" vom März 1996 geäußert: "Nicht die Religion ist das Problem, sondern der Mißbrauch der Religion" (32). Angemahnt wird der Ausbau des "Informations- und Beratungsnetzes" (33). Inhaltlich ist das "Beratungsangebot" auf "ausstiegswillige (-fähige) Personen, die ihre Mitgliedschaft zunehmend als Belastung empfinden" einerseits und auf "Angehörige von Sektenmitgliedern" (34) andererseits ausgerichtet. Noch ist der Schatten der Enquete-Kommission des Bundestages fern: Es "besteht Einigkeit darüber, daß es keine Sektenkritik ohne Gesellschafts- bzw. Religionskritik geben darf. Das Problem der Sekten und Psychogruppen sowie das Erstarken des Esoterikbooms hat gesellschaftliche Gründe. Diese müssen benannt und angegangen werden ... Ebenso ist eine Begleitungsarbeit für ausstiegswillige Mitglieder und Angehörige von Sektenmitgliedern geboten" (35); auch die "Förderung von Elterninitiativen und Selbsthilfegruppen" (36) ist ein (noch) völlig unproblematischer Merkposten. Dies stellt sich dann in dem 1998 für die Enquete-Kommission erstellten Gutachten schon sehr anders dar (37). "Information" als die allein schon statistisch alles dominierende Grundlage der "Sektenberatung" fällt in bezeichnender Weise schon im Titel des Gutachtens weg. Aus unübersehbar politischen Gründen wird die faktische, in der Regel fast 90 % der Anfragen umfassende, nur sichere "Informationen" gebende Basis ausgeblendet, die z.B. auch eine staatliche "Sektenberatungsstelle" (Anette Rühle, Berlin) so beschreibt: "Es gehe bei ihrer Tätigkeit vor allem um die 'Information', wenig um 'Beratung'. Das Thema sei 'trocken'. Dies müsse man immer wieder feststellen" (38) Ebenso still ausgeblendet wird die Tatsache, daß bei fast allen Beratungsstellen nach allgemeiner Kenntnis zwischen 90 und 95 % der Anfragen von Angehörigen, nicht von "Sektenopfern" selbst kommen. Im Auftragsgutachten wird aber als repräsentative Größe für die Bestimmung der Grundsätze auf der Basis von 50 ausgewählten Fällen ein Verhältnis von 36 "direkt Betroffenen" zu 14 "indirekt Betroffenen", also "Angehörigen von Sektenopfern", gesetzt, völlig schief zu den tatsächlichen Anfrageverhältnissen. Dennoch wird behauptet: "Die Stichprobe umfasst 50 Beratungsfälle aus einem Zeitraum von fünf Jahren (1992-1997), die ... für das Klientel des BSW typisch sind" (39). Unübersehbar soll die Auswahl der Fälle den "Grund zu der Annahme, daß ohne 'therapeutische Beratung' der Kontakt mit bzw. die Ablösung von der weltanschaulichen Gruppierung nicht angemessen hätte bearbeitet werden können" (40), legitimieren helfen. Es wird zwar zugegeben: "Zu Beginn der Beratung wünschen sich direkt und indirekt Betroffene sachliche und fundierte Information über den involvierten Kult" (41). Doch soll dies nur der erste Schritt sein dürfen. Entscheidender ist das, was dann folgen muß, zu analysieren, "was die Kultkarriere mit den eigenen Ängsten, Bedürfnissen, Aggressionen und Defiziten verbindet" (42): "Sobald der Klient sich nach Abschluß der ersten Beratungsphase, in der der Kult im Mittelpunkt steht, den eigenen Problemen und deren Lösung zuwendet, spielt für den Fortgang des Beratungsprozesses der Kult keine Rolle mehr" (43). Der perspektivische Sog des Enquete-Kommissions-Auftrags hat offensichtlich etwas ausgelöst, was bisher höchstens eine Nebenrolle gespielt hat: die Anwendung systemischer Therapieformen zur erfolgreichen Neutralisierung der "Sektenbeschwerden". Die Integration "systemische(r) Familientherapie im Sektenkontext" (44), erfährt im Kontext der durch das Projekt der Enquete-Kommission eröffneten politischen Möglichkeiten eine "Konjunktur" im doppelten Sinn des Wortes. Das "Sektenproblem" wird durch die therapeutische Verschreibung einfach zum Verschwinden gebracht - individuell ebenso wie in seiner Relevanz für das Kirchensystem und die Gesellschaft. Was "Sekte" ist, ist de facto einzig ein psychisches Problem: "Die Attraktivität des Kultangebots ist direkt durch die Bedürfnisstruktur der suchenden Person gekennzeichnet" (45) - nicht durch gesellschaftliche oder religiös-strukturelle Defizite im sozialen Kontext. Fast abenteuerlich mutet der Versuch des Aachener Gutachtens von 1998 dann an, neue "Beschreibungsinstrumente" zu entwickeln, die diese "Bedürfnisstruktur" mit einer "Checkliste des Therapieerfolges" (46) kombinieren. Es führte zu weit, die Ergebnisse dieses ebenso gewaltsamen wie skurilen, seitenweise mit neuen, selbst an "Sektentechnik" erinnernde "Wortklärungen" arbeitenden Versuchs (47) hier umfänglich vorzuführen. Neben dem notwendigen Hinweis auf die gerade gegenüber der eigenen theologischen Tradition völlig mißglückte Umdeutung von "Sublimieren" sei nur ein Beispiel in seiner viel zu kurzen geistigen Reichweite beleuchtet: "Projektion" z.B. wird ausschließlich negativ beschrieben: "Kultführer- und Gruppeninteressen mischen sich hier mit nicht zugelassenen Wahrnehmungen in bezug auf die eigene Person" (48). Dies trifft zwar auch zu. Die Regel ist jedoch, daß Projektion gerade im religiösen, auch "sektiererischen" Kontext eine positive Funktion hat, also nicht nur soziale "Abwehrfunktionen" erfüllt, sondern seelische Kraftverbindungen aktiviert. Es sind religiöse "Projektionen", die mit der Erfahrung des eigenen Willens, oft unterstützt durch das diese Erfahrung begleitende Körpergefühl, das Ich und damit die entscheidende Selbstbewertung der eigenen Person von den durchaus sehr negativen Erfahrungen der sozialen Umwelt befreien wollen und dies tatsächlich oft genug auch leisten. Es ist eine nicht sehr häufige, aber wenn, dann auch schöne Erfahrung, wenn eine solche positive Projektion ("der Gedanke an ... hilft mir") sogar zu einer Art existentiellen Kettenreaktion führt und viele unausgesprochene Erwartungen (und nicht selten auch stille Fürbittengebete der menschlichen Umgebung) als meist gar nicht direkt wahrnehmbare Absichten doch aufgenommen werden, das eigene Leben durch projektiv gewonnene, wie an einem unsichtbaren Geländer aufsteigende Taten ergänzen und den Betroffenen innerlich festigen. Vollends unter Wirklichkeitsverlust geraten scheint im Aachener Gutachten von 1998 allerdings die in vieler Hinsicht rätselhaft bleibende Invektive gegen das Verständnis der Beratungsarbeit als "Seelsorge". Ist die Therapeutisierung der Weltanschauungs-Beratungsarbeit so sehr schon kollektiver Glaubensgegenstand geworden, daß man "als Kirche" wirklich sagen kann "daß weltanschauliche Beratung und Seelsorge keine identischen Aufgaben sind" (49) ? Sie sind es aber dennoch, wenn man Seelsorge in jenem ursprünglichen, mit dem Kirchenvater Klemens von Alexandrien zitierbaren altchristlichen Gedanken begreift, nach dem auch eine Kommunikation, die nicht sofort die (therapeutisch-) dogmatischen Gehalte "verkündigt" bzw. "handhabt", sondern zunächst nichts anderes als verstehen und "da sein" will, schon der wahrhafte menschliche Akt und das ganze Gleichnis der Liebe Gottes und eine Form der Religion selbst ist (50). Statt völlig gelassene seelsorgerliche Begleitung als den geistig-konzeptionellen Rahmen auch der "Sektenberatungsarbeit" zu akzeptieren, wird hier das fixe Programm einer erfolgsbedrängten "therapeutischen Beratung" propagiert - unter vollem Wissen der angesichts der realen Datenbasis fast schwindsüchtigen Validität und der nie behebbaren Defizite, auch für Konzept, Fortbildung und "Qualitätskontrolle" jemals alle wichtigen Variablen unter wissenschaftliche Kontrolle bringen zu können. Was bleibt, ist der Eindruck eines gewaltsamen Versuchs, auch die "Sektenberatung" in einer politisch günstig erscheinenden Konstellation auf ein analog der psychosozialen Beratungsarbeit staatlich voll bezuschussungsfähiges Modell umtrimmen zu können.
In die selbe Richtung weist der die Konzeptionsarbeit der letzten Jahre im katholischen Raum zusammenfassende Text von Harald Baer über die "Mittel- und längerfristige Beratung im weltanschaulichen Bereich" Dezember 1998. Baer rechtfertigt noch einmal die Entscheidung für ein neues Verständnis der "Sektenarbeit", innerhalb dessen "der idealtypische 'Sektenberater' über die konstitutionelle Mehrfachqualifikation verfügen sollte: Das aktuelle Wissen um Inhalte, Ziele und Methoden weltanschaulicher Gruppen sollte verbunden sein mit der Beherrschung beraterischer, d.h. verkürzt gesagt, therapeutischer Techniken. Ein Gespür für religiöse Fragestellungen muß dazukommen" (51).
Nur die Kirche kann nach Baer, eben weil sie allein weltanschauliche Fachberatung und psychologische Therapie als "Paketlösung" zusammen anbietet, auch problemlos sozialpflegerischer Träger solcher "Beratungsarbeit" sein. Die Kirche "informiert" initiatorisch über die "Sekte", der Staat ist Kostenträger für den umfänglicheren Teil "Beratung" in der dann besonders wichtigen Beratungsarbeit, die aber auf jeden Fall ein definierter Prozeß bleibt: "Indikation" und "Evaluation" eingeschlossen. Abgesehen von der menschlich schwierigen bis unmöglichen Zumutung, diese Form der "doppelten Sektenberatung", die das bleibend Religiöse autoritativ in Therapie überführt, auf mehrere Informations-/Beratungs-Akte und Akteure zu verteilen: diese Art von Bagatellisierung des Religiösen im neuen katholischen Konzept der Sektenberatung ist nichts anderes als die zweckrationale Unterbilanzierung der religiösen Gehalte, um die "Sektenberatung" als staatlich geförderte "kirchlich-psychologisch-therapeutische Beratung" verstehen zu können: "Um dem Klienten in die Erfahrungswelt 'seines' Kultes zu folgen, ist die Kenntnis weltanschaulicher Angebote, Ausdrucksformen, Metaphern und Symbole erforderlich" (55). Wer aber so wie Baer "die notwendige affektive Hilfe" an die "therapeutischen Beratungstechniken" bindet, Religion aber auf Kognitives reduziert,muß sie am Ende verlieren.
Die evangelische Seite war bei dieser Aktion ratloser, in hilfloser "ökumenischer" Solidarität befangener Zuschauer und Mitläufer der "Gemeinsame(n) vorläufige(n) Stellungnahme des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche bei der Bundesrepublik Deutschland und des Kommissariats der Deutschen Bischöfe" zum Entwurf des Lebenshilfegesetzes. Gedrängt und den Text geformt hat nur die katholische Seite - mit Argumenten, die, wie Gaspers Brief an Zinser vom 23.1.98 belegt, in merkwürdiger Weise den genauen Text des Gesetzentwurfs des Bundesrates (Drucksache 351/97 vom 19.12.97) gar nicht treffen: Die kritische "Entgeltlichkeit", die sich durch die Einbeziehung leistungsabhängiger staatlicher Zuschüsse ergeben könnte, ist im Gesetzentwurf, der die Leistungsregelungen zwischen Anbieter und Klient betrifft, so überhaupt nicht problematisiert. |
IV. IV. Schlußfolgerungen Entscheidend in all dem ist, daß die Freiheit der Betroffenen ebenso wie die der kirchlichen und freien "Professionals" erhalten bleibt, damit es um die Religion gehen und Menschen ohne Therapie-Zwang geholfen werden kann, die Tragfähigkeit einer mehr oder weniger ausdrücklichen religiösen Lebensperspektive für sich zu erhalten oder neu zu gewinnen. Es würde das Wesensmoment der Religion und der religiösen Bindung verkennen, wenn ausgerechnet in der "Sektenberatung" nicht die religiöse Relativierung menschlicher Ansprüche praktiziert und vermittelt werden dürfte. |
Anmerkungen |
Dr. Richard Ziegert, 52, studierte Theologie, Philosophie und Pädagogik in Heidelberg und Mainz. 1972 Diplom für Diakoniewissenschaft, 1975 Promotion zum Dr. theol. mit einer Arbeit über die Rezeption der Arbeiterpriestertheologie im Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils. Bis 1986 Pfarrer an der Pauluskirche in Ludwigshafen/Rhein und geschäftsf. Vorsitzender des Liturgischen Ausschusses seiner Landeskirche. 1987-1994 Direktor der Ev. Akademie der Pfalz. Seit 1995 landeskirchlicher Beauftragter für Weltanschauungsfragen. |
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