Ich bin nach längerer Pause wieder einmal zum Dienst auf dem Wilmersdorfer Friedhof. Unser Heimatfriedhof sozusagen; gleich in der Nähe unserer Kirche. Nur die Straße bis ans Ende, dann ist man da. Er ist nicht der schönste Friedhof, den ich kenne. Eine "Feierhalle" hat er und keine Kapelle. Eine Mischung aus Düsternis und Pomp strahlt das Zentralgebäude aus. Bürgerlich. Es fehlt mir die Auferstehungsklarheit und -wahrheit der Minikirchen auf den schönen alten Friedhöfen, es fehlen mir Glocke und christliches Symbol, Bibelwort und das strahlende Licht von Osten. Dennoch, "mein" Friedhof, weil er der ist, der in unserem Gemeindebezirk liegt und weil er zu unserm großgewordenen Dorf, Wilmersdorf, einem Stadtteil im Westen von Berlin, gehört. "Mein" Friedhof auch, weil ich hier als junger Pfarrer meine allererste Beerdigungspredigt hielt; "mein" Friedhof auch, weil ich jetzt beim regelmäßigen Gang durch die Reihen an so viel vertrauten Namen vorbeikomme - und auf so viel bekannte Gesichter treffe, Herrn Brezina, den Gärtner, Herrn Scharf, den Organisten, Frau Scherer, die Bestatterin, ja - und eben auch von allem Anfang an Herrn Tan.
Er gehört, wie seine zwei, drei Kollegen, zum Inventar des Friedhofs. Ohne sie, ohne ihn liefe da nichts. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er trägt die Urne.
"Darf der das, als 'Türke'?"
Er geht voraus. Er öffnet die Tür. Er erklärt geduldig den Angehörigen. Er arbeitet mit dem Spaten. Er betet ein Vaterunser. Ja, auch manch einer von Ihnen kennt persönlich Yevno Tan, den Urnenträger des Friedhofs Wilmersdorf, klein, starke Brille, schwarzes krausgelocktes Haar, ein Mann mit eigenartigem Deutsch. "Der Türke", der unsere Urnen in die Erde senkt; manchmal ganz alleine, haben wir gehört. "Woher kann der das Vaterunser?" - er betet es immer so laut mit. Und: Darf der das, als "Türke"?
Yevno Tan, ein syrisch-othodoxer Christ. Mitglied einer uralten christlichen Kirche, Angehöriger einer verfolgten Minderheit im äußersten Osten der Türkei. Seine kirchliche Muttersprache ist "Aramäisch". Eingeweihte wissen: das war auch die Sprache, die Jesus gesprochen hat.
Ehrfurcht und Respekt überkommen mich, als ich das zum ersten Mal von Herrn Tan höre. Warum erst da? Warum nicht schon beim Mitgehen und Anschauen, wie er selbstverständlich und ehrfurchtsvoll sein Handwerk ausübt. Und stolz, und freundlich zu den Menschen. Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht....
Ja, diese Doppelbeschreibung Martin Luthers für den Menschen als Gotteskind, frei und dienstbar, paßt gut auf Yevno Tan. Manchmal hat er aus seiner Heimat erzählt. Wie sie dort immer weniger werden durch Auswanderung und Verfolgung. Daß es aber noch ein Kloster gebe. Von den beiden großen Gemeinden syrisch-orthodoxer Prägung hier in West-Berlin, erzählt er, leider gespalten, aber vielleicht auch gut so: Würden die vielen Beter beim dreistündigen Gottesdienst am Sonntag alle in eine Kirche passen? (So sind die einen zu Gast bei den katholischen Freunden auf der Potsdamer Straße, die anderen richten sich Woche für Woche die große Friedhofskirche auf dem "Alten Luisenfriedhof " am U-Bhf. Südstern her).
"Gibt es Neues von Herrn Tan?"
Ich habe ihn dort nie besucht, bei "seiner" Liturgie, da, wo er als Christ zu Hause ist. Es wäre gar nicht weit, aber unser gemeinsamer Ort ist der Wilmersdorfer Friedhof, der vertraute Blick, das Zunicken, die Arbeit, die wortlos oder mit immer denselben Worten ineinandergreift. Manchmal war niemand gekommen, außer dem Pfarrer und dem Bestatter - und Herrn Tan. Dann waren wir die Gemeinde, die nächsten Hinterbliebenen. "Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind...", (das ist mittlerweile der Lieblingskanon der Senioren in unserer Gemeinde, weil fast greifbar wird die Kraft des Jesuswortes: "... da bin ich mitten unter ihnen").
Und wie oft, so hat er dann auf der Bank in der Sonne erzählt, wie oft er der wirklich einzige ist, der mit dem sichtbaren und unsichtbaren Leben eines Menschen zum Grabe geht...
Wie gut, daß er das Vaterunser kann und auch spricht und dazu sein überdeutliches "In Gottes Namen". Und was mag er über uns nachgeborene evangelische Pfarrer auf dem Friedhof und am Grabe als Sproß der Alten Kirche oft gedacht haben?!
Einmal hat er mich, nach einer vollzogenen Beerdigung, augenzwinkernd zur Seite geholt und gesagt: "Haben Sie noch etwas Zeit? Dann stellen Sie sich hier in die Büsche und hören Ihrem Kollegen, einem Pfarreroriginal zu, der gleich kommt. Der hält immer noch eine zweite Trauerfeier am Grabe, das will gar kein Ende nehmen. ..."
Und manchmal hat Herr Tan auch wie ein Patriarch von seiner großen Familie erzählt. ...
Und was gibt es "Neues" von ihm?
Ich hatte die Frage beiläufig gestellt, und doch war sie dran und auch ein bißchen Druck in der Magengegend dabei: Herr Tan war schon über ein Jahr nicht mehr im Dienst, Gehirntumor, Operation, ungewisse bange Zukunft, eher Kopfschütteln hinter vorgehaltener Hand. Ich hatte ihn noch im Vorbeifahren auf der Straße gesehen, war nicht ausgestiegen. ...
"Ach, den haben wir doch im April beerdigt. Wußten Sie das nicht?"
Tiefes Atemholen. So leben wir.
Herr Tan ist tot. Ein Stück Wilmersdorfer Geschichte unwiderruflich gegangen. Ich habe es nicht gemerkt und en passant erfahren. Ich habe oft an ihn gedacht.
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