Der Orden der Sonnentempler

I. Informationen

Quellen:

Archiv Gandow sowie ADFI Paris; Infosecta Zürich; Project Culte Montreal Sonnentempel-Orden / Ordre Temple Solaire (OTS)"

Name/Selbstbezeichnung:

Die Organisation trat bisher unter verschiedenen Namen auf. Bekannt sind u.a.:

Der Sonnen-Templer-"Orden" ist keine (christliche) Sekte, sondern stellt eine pseudotemplerische, (rosenkreuzerische) Geheimloge dar, deren Hauptziel es wohl war, einflußreiche und vermögende Mitglieder in ein Geheimsystem einzubinden und sie so oder so, zu Opfern ihrer "Ordensoberen" zu machen. Führer: Der Führer und eigentliche Gründer des OTS, Luc Jouret, wurde am 18. Oktober 1947 im damaligen Belgisch-Kongo (Afrika) geboren und soll in Brüssel/Belgien Medizin studiert haben. Zugleich soll er sich für alle möglichen esoterischen Wissenschaften, für Yoga und Gurus, philippinische Geistheiler, Astrologie und geheime Künste interessiert haben. Sein Studium habe er 1974 abge schlossen. Zunächst als praktischer Arzt tätig, wirkte Luc Jouret Anfang der achtziger Jahre als homöopathischer Heiler zunächst in der Schweiz und Frankreich (aber dann und wann auch in Belgien, Kanada, Luxemburg und der Schweiz). Schon damals wird von einer erstaunlichen Ausstrahlung auf seine Patienten und vor allem seine Patientinnen berichtet. Später beginnt er, seine Patienten für seine Organisation zu werben, indem er seinen Nimbus als Heiler ausnutzt. Immer wieder sagt er Patienten, er habe sie von Krebs geheilt, ohne ihn wären sie daran gestorben usw. Jouret betätigte sich dann auch als Veranstalter von esoterischen Vorträgen mit Themen wie "Das Kind und seine Zukunft angesichts der Umweltverschmutzung", "Liebe und Biologie", "Medizin und Gewissen" oder auch "Das Unternehmen und das Chaos"; immer wieder kehrten Vorträge über die Schaffung des "Neuen Menschen". Vor und nach seinen Vorträgen habe er auch Bücher und Kassetten mit seinen Ratschlägen "wie man körperliche und emotionale Macht" erlangen könne, verkauft. (AFP 6.10.94) 1982 übernimmt er die Macht in dem damals noch unbedeutenden OTS (Damaliger Name anscheinend: "Erneuerter Templer-Orden"). In kurzer Zeit wandelt er den Pseudoorden in eine strikt auf ihn ausgerichtete Geheimorganisation um: Die alten Mitglieder werden herausgesäubert. 1986 sei er nach Kanada gegangen.

Mitglieder:

Neue Mitglieder aus gutsituierten Kreisen werden in die Gruppe hineingeworben, in eine Gruppe, die Exklusivität, ein bißchen Extravaganz und auch Abenteuer versprach; die Mitglieder des Pseudo-Ordens trugen als Ordenskleidung "Rittermäntel" (Capes) mit dem templerischen Tatzenkreuz. Das Tatzenkreuz scheint auch das Abzeichen der einfachen Mitglieder gewesen zu sein. Daneben gab es auch das von einem S umwundene T im ovalen O (als großes Brustschild eines Doppeladlers) - anscheinend für höhere Ränge des "Ordens".

Die Mitglieder - jedenfalls die jetzt getöteten- kamen vor allem aus Kreisen des frankophonen Kanadas und der Schweiz. Darunter waren u.a. Robert Ostiguy, der Bürgermeister von Richelieu, einem Städtchen in der Nähe von Montreal, die Journalistin Jocelyne Grand'maison vom Journal de Quebec und Robert Falardeau, ein Berater des Finanzministeriums von Quebec. Eine ganze Reihe der Mitglieder des "Ordens" rekrutierte sich aus dem Energie-Konzern "Hydro-Quebec". Von der Unternehmensleitung wurde bestätigt, daß mindestens 17 der Angestellten Mitglieder im OTS seien, wogegen angesichts der Meinungs- und Glaubensfreiheit in Kanada nichts einzuwenden sei.

Werbung:

Eine wichtige Schiene der Anwerbung war die Heilertätigkeit des Luc Jouret; Jouret suggerierte auch leicht erkrankten Patienten, ohne seine Hilfe wären sie an Krebs gestorben. Es gab aber auch das Versprechen, Atomkrieg und Umweltverschmutzung gemeinsam auf einer Art alternativer überlebensfarm zu überwinden. Nach außen hin sprach man von biologischem Anbau, vom Waldsterben, gesunder Ernährung, "rosenkreuzerischen" Idealen und von Spiritualität.

Leben in der Gruppe:

In der Gruppe wurde ein regelrechter Kult um den Luc Jouret als Guru, getrieben. Seine Worte waren Gesetz. Es kam zur Zusammenführung von Partnern in sogenannten "kosmischen Ehen"; vor und bei den Ritualen der Gruppe in ihren mit Spiegeln ausgestatteten Ritualräumen kam es zu Sexualverkehr zwischen dem Ordensmeister Luc Jouret und den Frauen der Mitglieder; Berichten zufolge wurde gelegentlich auch eine Frau gezwungen, mit allen Mitgliedern zu verkehren.

Druck auf die Mitglieder:

Wie eine Art Staubsauger-Sekte beschränkte sich der Verein in seiner Werbung auf Wohlhabende und Gutverdienende: Wer dem "Orden" beitrat, mußte, falls er besitzend war, Immobilien usw. verkaufen. Ehemalige berichten, daß sie bis zu 1/3 ihrer Einkünfte abliefern mußten. Die Begleitung der Ordensleitung aus kostspieligen Reisen wurde von den selbstzahlenden Mitgliedern noch als Ehre empfunden. Die Beanspruchung der Mitglieder wurde u.a. damit begründet, daß sie besonders erwählt seien und zu den "100 Familien" gehören würden, die zum überleben der Menschheit gebraucht würden. Mehr als 56 Häuser soll Luc Jouret auf diese Weise erworben haben.

Weltuntergangsdrohung zur Mobilisierung der Mitglieder:

Ehemalige beschrieben den zunehmenden Druck in der Gruppe. Manchen gelang es, sich zu lösen. Ein ehemaliges Mitglied beschrieb sich als "völlig ausgesaugt" und ihren Austritt wie die Flucht aus einem Gefängnis. Die meisten Ehemaligen wollten aber bisher über ihre Erfahrungen vor Scham und vor Angst nicht sprechen. 1987 war es bereits einmal zu lebhaften Weltuntergangsvorstellungen gekommen. Dadurch wurden Mitglieder auf Jourets Anwesen in Kanada.a. zum Eigenbau eines atombombensicheren Bunkers motiviert. Der Bunker war von den Mitgliedern mit allem Lebensnotwendigen, einschließlich 45 Kilogramm Schweizer Schokolade ausgestattet worden. Aber die Atomangst war nur eine Episode; später diente der angebliche Bunker unter der Backstube der Farm einfach als Lagerkeller. Dafür gab Jouret Anfang der neunziger Jahre nun die Parole aus, die Mitglieder müßten sich bewaffnen.

Der Schalldämpfer und das Gericht

Im Zusammenhang mit den Waffenkäufen kam es zur überwachung der Gruppe durch die Kanadische Polizei und sogar zu einem Gerichtsverfahren. Jean-Pierre Vinet, Projektleiter des Energiekonzerns Hydro-Quebec, und Herman Delorme, Versicherungsmakler waren wegen verbotenem Waffeneinkauf verhaftet worden. Am 30. Juni 1993 hatten sie sich vor dem Gericht für schuldig erklärt aber versichert, der "OTS" habe mit der Angelegenheit nichts zu tun. Gegen den "Orden" war dann in Kanada nichts mehr unternommen worden, da die Angeklagten die Schuld auf sich nahmen und versichert hatten, dem Verein nicht mehr anzugehören. Ehemalige sagten dazu, "Das ist eine klassische Methode. Jeder hat seinen Austrittsbrief in der Tasche. Wenn er verhört wird oder verhaftet wird, sagt er, daß er seit geraumer Zeit aus dem "Orden" ausgetreten ist. In Wirklichkeit hat er bereits einen höhere, streng geheimen Rang erreicht." (Le Soleil, Quebec 7.4.1993)

Im Sommer 1993 präsentierte sich dann auch Jouret als bloßer "Ex-Leader" des OTS. Zunächst war er nach Europa geflohen, jedoch stellte er sich am 15.7., nachdem seine beiden Anhänger bereits zu bloßen Bewährungsstrafen verurteilt waren, in Montreal dem Gericht. Anschließend wurde er sofort wieder auf freien Fuß gesetzt. Er hatte ausgesagt, er habe die Waffe für jemand anderes kaufen lassen, der sein einsam gelegenes Tagungszentrum vor den häufigen Einbrüchen schützen sollte. Den (verbotenen) Schalldämpfer habe man sich nur besorgt, um beim übungsschießen nicht die Nachbarn zu stören. Aus abgehörten Telefongesprächen wußte die Polizei, daß Jouret auch Frauen unter seinen Mitgliedern aufgefordert oder gar gezwungen hatte, schießen zu üben. Schon vor einem Jahr war aber auch die Rede davon, daß Waffen und Schießkünste in der Schweiz benötigt würden, weil man dort in einsamen Häusern lebe. Die ganze Waffengeschichte wurde schließlich als "Sturm im Wasserglas" heruntergespielt. Jouret wurde gegen eine Spende von 1000 Kanad. $ und mit einem Jahr Bewährungsfrist ohne Eintragung in das Vorstrafenregister wieder auf freien Fuß gesetzt. Er kehrte unverzüglich zurück in die Schweiz. (Immerhin war damals auch von einer bewaffneten Gruppe mit der Bezeichnung Q-37 im Zusammenhang mit dem "Orden" berichtet worden. (Q=Quebec, 37 war die Zahl der Gründungsmitglieder). Eine Drohung dieser Kampftruppe, Claude Ryan, den Minister für öffentliche Sicherheit von Kanada zu töten, wurde bekannt.

Zum Tathergang:

Am 5. und 6. Oktober kam es zu den gelegten Bränden in Kanada und zwei Orten in der Schweiz. Das Haus des "Ordenschefes" Luc Jouret in Morin Heights/Kanada brannte ebenso wie das benachbarte des "Ordenskassenwarts" Joseph di Mambro aus. In diesem Haus wurden ein Mann und eine Frau gefunden, die eine Art Medaillon oder Abzeichen des OTS trugen. Am 6.10 brannte es dann auch in der Schweiz. In Les Granges (Wallis/Schweiz) wurden am 6.10. 17 weibliche und 7 männliche sowie eine sehr stark verkohlte Leiche gefunden. Unter den Opfern sollen sich auch Kinder befinden. Weitere Leichen fanden sich in dem Chalet in Cheiris (Waadtland/Schweiz) Inzwischen wurden in den abgebrannten Häusern über 50 Tote in der Schweiz, fünf Tote in Kanada gefunden. In allen abgebrannten Häusern wurden mit Zeitschaltuhren versehene Heizgeräte gefunden, die den Brand auslösten: Zündhölzer fingen Feuer und fielen dann auf den mit Benzin übergossenen Boden. Durch die erfolgte Brandstiftung ist nun die Spurensuche sehr erschwert. Nach den bisherigen Untersuchungen ergibt sich, daß den Getöteten durch "Einspritzungen" oder "Infusionen" an scheinend "starke Mittel" verabreicht worden sind, jedoch konnte auch da hierfür erforderliche Instrumentarium in der Schweiz bisher nicht aufgefunden werden. (NZZ 7.10.94) Einige der Toten hatten blaue Plastikmüllsäcke über dem Kopf, die um den Hals mit einer Schnur oder mit Klebeband zugedreht waren. Die Toten trugen mantelähnliche rote und weiße Kultgewänder, die Frauen goldene Festkleider. Bei einigen der Toten waren die Hände zusammengebunden" (SZ 7.10.94)

Am Tatort in der Schweiz wurden zwar drei Karabiner gefunden, die aber in der Mordnacht nach den bisherigen Untersuchungsergebnissen nicht benutzt wurden (NZZ 7.10.94). Die Waffe, aus der geschossen wurde, muß wohl weggebracht worden sein (NZZ 7.19.94). Eines der Ferienhäuser war erst in der Woche vor dem 5. Oktober weiterverkauft worden. Die Leiche des Führers, Luc Jouret, wurde bisher noch nicht identifiziert. Er soll noch am späten Dienstagabend in Begleitung von einer Frau und zwei weiteren Männern (darunter Joseph di Mambro) gesehen worden sein: Er ließ eines der Chalets von einem Schlüsseldienst öffnen, da er "die Schlüssel verlegt" habe, möglicherweise, um Wertgegenstände zu entnehmen. Verständlicherweise wird daher die von einigen Schweizer "Experten" vehement vertretene These vom "Massenselbstmord" immer zweifelhafter.

Sollen Abschiedsbriefe den Eindruck des Selbstmordes bestätigen?

Ein angeblicher Abschiedsbrief, aufgegeben in Genf mit unleserlichem Datum (andere Berichte: mit Datum des 6.10., also n a c h dem Geschehen abgestempelt), wurde an Jean-Francois Meyer, einen Schweizer "Sektenexperten" geschickt, der laut NZZ vom 7.10.94 daraufhin erklärt haben soll, dieser Brief "erhärte" die "Selbstmordthese". Der Brief könnte der Deutung als "Massenselbstmord" anscheinend Nahrung geben. Die seltsame Absenderangabe "Mr. D. Part" könnte gedeutet werden als "De'part (=Abschied, Trennung Abreise). Der Abschiedsbrief besteht zusammen aus mehreren (10) Seiten und enthält mehrere (vier) Dokumenten.

Aus dem Inhalt:

Zitat: "Wir verlassen diese Welt, um in aller Klarheit und Freiheit eine Dimension der Wahrheit und des Absoluten zu finden - weit weg von der Heuchelei und der Unterdrückung dieser Welt" (BZ 7.10.94)

Es soll dort auch heißen, man habe "die Keime für eine künftige Generation hinterlassen" bzw. Wir werden an anderem Ort unser Werk fortführen".

Nach einer Schilderung der Probleme mit der kanadischen Justiz wegen des Waffenbesitzes soll es am Ende heißen: "Wir befreien uns von einer schweren Last, die von Tag zu Tag schwerer zu ertragen war. Wir wissen einen anderen Ort, zu dem wir uns zurückziehen werden".

Selbst wenn diese Schriften "echt" sind, besagt dies nicht mehr, als daß sie aus dem Kreis um Luc Jouret stammen. Die so intensiv vorbereitete "Dokumentation" und die durchdachte Darstellung des Geschehenen als "Massenselbstmord" ist wohl nicht von den Mitgliedern (schon garnicht von den Kindern) mitformuliert. Sie deutet nur auf ein einziges Mitglied der Gruppe hin, auf Luc Jouret, der ihr einziger Denker war.

Beurteilung aus kirchlicher Sicht:

Skrupellose Raubritter auf Dummenfang und Beuteritt. Unter der irreführenden Bezeichnung "Templer" agieren heute verschiedene Gruppen, die mit dem mittelalterlichen Templer- oder auch Tempelritter-Orden nichts zu tun haben.

überhaupt gibt es heute nur zwei echte (und auch christliche) Ritterorden, die sich auf eine ununterbrochene Sukzession bis zu ihrer Begründung im Mittelalter, und das heißt, auf eine echte Tradition, berufen können: den röm.-kath. Malteserorden und den evang. Johanniterorden..

Immer wieder kommt es aber zu Neugründungen, die selbst bei gutgemeinter Absicht mit einem Schwindel, nämlich mit einer vorgetäuschten alten Tradition anfangen. Es handelt sich bei solchen Ordensneugründungen zum Teil um christlich gestylte, manchmal aber auch um esoterische New-Age-"Orden". Meist weisen diese Gruppen eine Ideologie oder Lehre auf, die aus allen möglichen esoterischen, religiösen und okkulten Quellen gespeist ist. In den höheren Rängen wird u.U. ein faschistoides, rücksichtsloses Licht- und Kraftmenschentum als Schulungsziel propagiert, während in den Einstiegsgruppen noch Nächstenliebe, die Werte des "Wahren Christentums" und Umweltschutz gepredigt wurden.

Oft geht es in diesen Gruppen wenig ritterlich vor allem um den Verkauf von Titeln und protzigen Ordenskreuzen und Abzeichen. Für die Aufnahme und den Aufstieg in solche Pseudorittertruppen sind hohe Gebühren zu zahlen, die nur selten einem auch nur annähernd mildtätigen, ritterlichen Zweck zukommen. Denn die Ordensoberen, brauchen Geld, viel Geld: angeblich ausschließlich für hochedle Zwecke wie die Rettung der Welt und die Verbesserung der Menschheit, wobei meist zunächst Lebensstil und Radius der Ordensoberen gehoben und erweitert wird.Aber es bleibt nicht immer bei der Geschäftemacherei.

Das schmutzige kleine Geheimnis des Titelkaufes kann der Einstieg in eine Geschichte von Erpressung und Bedrückung sein. Denn die Struktur dieser Gruppen macht einen skrupellosen Umgang der "Ordensführung" mit den gläubigen Adepten nur zu leicht. Denn "Ordensmeister" und seine Spießgesellen sind ja unhinterfragbare Autoritäten, von geheimen oder gar jenseitigen Oberen eingesetzt. Ihnen stehen äußerlich erwachsene und erfolgreiche Menschen gegenüber, die sich hier wie Schulbuben behandeln lassen und sich gläubig nach "höherem Wissen" sehnen, das sie bei den "Oberen" vermuten. Die "Einweihungen in das höhere Wissen", sogenannte "Initiationen", sind aber nur Zug im Zug gegen materielle, mentale und emotionale Anpassung zu erlangen. Bei der schrittweisen Schaffung von Abhängigkeiten spielen "geheimnisumwobenen Rituale" in Wirklichkeit meist Einschüchterungs- und Unterwerfungsrituale, z.T. einschließlich sexueller Praktiken - eine wichtige Rolle.

Abgestufte Einweihung in die esoterischen angeblichen "Weisheiten" und abgestufter Folgsamkeitsdrill bei lächerlichen oder abgeschmackten, teilweise auch verführerischen Spielreien macht die Loslösung und die Umkehr zurück in das Leben mit seinen normalen Schwierigkeiten schwer.

Hier wie bei den "klassischen" Sekten und den "Jugendreligionen" gilt, daß Kirchen und die Gesellschaft den Aussteigern hilfreich entgegenkommen müßten, nicht aber den verbohrten Führern der destruktiven Kulte. Diese müssen vielmehr, statt sie weiterhin materiell und ideell zu fördern oder auch nur gewähren zu lassen, wegen ihrer Täuschungs- Erpressungs- und Gewaltaktionen von allen abgelehnt und bekämpft werden. Voraussetzung dazu ist - neben einer Art freiwilligen Selbstkontrolle aller wohlmeinenden Religionsgemeinschaften - auch eine offene Debatte, zu der nicht zuletzt die deutsche Bundesregierung durch sachliche Information beizutragen hat.

Autor: PFARRER THOMAS GANDOW Heimat 27, D-14165 Berlin-Zehlendorf Tel: 030/815 70 40 + Fax: 030/815 47 96


II. Kommentar zur Tragödie um den "Sonnentempel-Orden"

Erneut ist es im Feld von destruktiven Kulten zu einer Massentötung gekommen. Weitere Untersuchungen werden noch deutlicher zeigen, wie wenig "freiwillig" die Opfer in den Tod gegangen sind, unter ihnen auch Kinder und Kleinkinder.

Vergleichbare grausame Taten in Südamerika, den Philippinen oder in Texas schienen an den passenden exotischen Orten stattzufinden. Der Tod ist uns jetzt näher gerückt: Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Abschottung von der Gesellschaft und damit totale Verfügbarkeit, völliges Ausgeliefertsein an einen skrupellosen Führer nun wieder mitten in Europa. Den Verantwortlichen muß dies zu denken geben.

Aber nicht einmal ausreichende Informationen haben die staatlichen Stellen über das, was sich hier tut. Und haben sie Informationen, werden sie oft heruntergespielt, weil (bevor ein Unglück geschehen ist) die Schlußfolgerungen bizarr und unvorstellbar erscheinen. Der OTS-Führer Luc Jouret wurde vor einem Jahr gar auf Bewährung laufen gelassen, obwohl er Mordwaffen mit Schalldämpfer anschaffen ließ.

In Deutschland ist es sogar so weit, daß die Bundesregierung einen kritisch-informativen Bericht zu Jugendreligionen und Psychogruppen seit einem Jahr nicht veröffentlichen kann, weil eine - zufällig auch aus der Schweiz stammende - Psychogruppe seine Veröffentlichung bisher verhindert hat - und dies mit Unterstützung prominenter deutscher Politiker. Religiös motiviert sei das schreckliche Geschehen. Gewiß doch.

Richtig ist,

Nicht in erster Linie die Kirchen, sondern Politiker, Parteien und öffentlichkeit sind durch solche Katastrophen herausgefordert. Denn wir sind konfrontiert mit einem massenhaften Auszug aus konventionellen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die massenhafte Wahlenthaltung ist nur eine Seite dieser Medaille.

Zugleich gilt:

Dutzende von Aussteigergemeinschaften suchen sich Rückzugsgebiete auch in unserem Land. Da wo die Natur noch in "biodynamischer Ordnung" zu sein scheint und wo "natürlich-organische", mit einem anderen Wort: faschistische Führungsstrukturen unauffällig etabliert und eingeübt werden können. Die Gesellschaft quittiert solche angeblich alternativen, autonomen "Subsistenzwirtschaftskommunen" ehemaliger SED-Parteisekretäre und angebliche "Paradiesinsel-Familien" ausgeflippter Alternativer mit gleichgültigem Achselzucken. Ebenso wie ein Zentrum für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung, in dem angeblich AIDS durch höheres Bewußtsein beim Geschlechtsverkehr mit dem Guru oder in einem "transformatorischen Bordell" geheilt werden soll.


Wenn alles geht, kann aber auch alles mögliche passieren. Wer schützt die Gesellschaft, wenn Wahn und Skrupellosigkeit einmal nicht zur Selbstzerstörung der eigenen Gruppe führen, sondern nach außen gerichtet werden? Wer schützt die Kinder?

Und wer ist bereit, hinter absurden Maskierungen und Phänomenen den Schrei der gequälten Kreatur, den Protest gegen Vergleichgültigung wahrzunehmen und den Hunger nach Sinn zu teilen?

Autor:

Thomas Gandow