Der Religion in der Moderne war lange ein zunehmender Bedeutungsverlust vorausgesagt worden. Plötzlich will niemand mehr etwas von der Säkularisierungsthese wissen. Auf welchen Sichtweisen und Voraussetzungen beruht der gegenwärtige Konsens über die Krise institutionalisierter, traditioneller Religion und Kirchlichkeit einerseits, über den Boom außerkirchlicher Religiosität andererseits? Ist alles Religion, was da aufkommt? Werden die religiösen Aufschwungprozesse möglicherweise überschätzt?
Ist das Aufkommen synkretistischer Religiosität ein Zeichen von Individualisierungsprozessen ("Zwang zur Häresie", also zur individuellen Wahl) oder eher eine Folge von Unentschiedenheit und Konventionalität? - Red.
Noch vor wenigen Jahrzehnten gehörte es in den Sozialwissenschaften zu den allgemein anerkannten Hypothesen anzunehmen, daß die Bedeutung von Religion und Kirche in modernen Gesellschaften abnehmen und mit dem Prozeß der Modernisierung immer weiter zurückgehen würde. Ob man sich dabei Modernisierung mit Max Weber als einen Prozeß der Rationalisierung oder mit David Martin als einen Prozeß der Industrialisierung, Urbanisierung und Mobilisierung oder mit Johannes Berger als einen Prozeß der Auflösung traditionaler Bindungen vorstellte, in allen Fällen wurde die Religion der Moderne gegenübergestellt, als irrational, traditional, autoritativ oder gemeinschaftlich definiert und die Behauptung aufgestellt, daß ihr gesellschaftlicher Stellenwert umso mehr sinkt, je mehr sich eine Gesellschaft modernisiert.
Abgesehen davon, daß man, wenn man das Aufkommen von Religion vor allem an den Bruchstellen der Moderne ansiedelt, Religion und Moderne noch immer einander gegenüberstellt und damit der Argumentationslogik der Säkularisierungsthese verhaftet bleibt, sind es meines Erachtens vor allem drei Gründe, aus denen heraus die Kritik am Säkularisierungstheorem noch einmal kritisch überdacht werden sollte.
Erstens verwenden die Kritiker des Säkularisierungstheorems in der Regel einen Religionsbegriff, der so weit angelegt ist, daß Prozesse eines Bedeutungsschwundes von Religion schon definitorisch ausgeschlossen sind. Thomas Luckmann zum Beispiel versteht unter Religion alle Formen der Transzendierung des menschlichen Organismus und damit alle Formen, in denen der Mensch eine sinnhafte Deutung der Welt vornimmt. Bei einem derart breiten Religionsbegriff kann Religion gar nicht untergehen, es sei denn der Mensch verlöre seine sinnhafte Orientierung in der Welt.
Zweitens werden von den Kritikern der Säkularisierungsthese die religiösen Aufschwungprozesse überschätzt. Zwar läßt sich in der Tat feststellen, daß in den letzten Jahren das Interesse an Formen außerkirchlicher Religiosität gewachsen ist. New Age, Meditation, Zen-Buddhismus, Farbtherapie, Astrologie, Reinkarnationsvorstellungen, Tischrücken und andere außerchristliche Religionsvorstellungen und -praktiken erfreuen sich zweifellos einer zunehmenden Beliebtheit. Aber dieses steigende Interesse kompensiert keineswegs die Positionsverluste der traditionellen Religionsformen. Das wird schon durch einen einfachen Blick auf die Zahlenverhältnisse deutlich. In den siebziger Jahren, als die neuen religiösen Bewegungen einen besonderen Aufschwung nahmen, verlor die evangelische Kirche in der Bundesrepublik durch Kirchenaustritte etwa 1,5 Millionen Mitglieder und die katholische etwa eine halbe Million. Die Zahl der Mitglieder in den neuen religiösen Bewegungen belief sich bei großzügiger Schätzung Ende der siebziger Jahre aber auf nicht mehr als 30.000. Dies sind noch nicht einmal 2% des Bestandes, den die großen Kirchen verloren. Ähnlich sehen die Zahlenverhältnisse in England aus. Dort stehen einer halben Million von Austritten aus den großen Kirchen etwa 20.000 Zugewinne bei den Gruppierungen neuer religiöser Bewegungen gegenüber.
Natürlich sagt die Mitgliederzahl noch nicht viel über Kontaktaufnahmen und Erfahrungen mit den außerkirchlichen religiösen Gruppierungen. Aber auch wenn man danach fragt, wer schon einmal Erfahrungen mit alternativen Religionspraktiken wie New Age, Zen-Buddhismus, Tischrücken oder Astrologie gemacht hat, sind es nur wenige, die dies von sich behaupten. In Westdeutschland überschreitet der Anteil derer, die angeben, solche Erfahrungen gemacht haben, kaum ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Fragt man weiter, wieviel aufgrund ihrer Erfahrungen auch eine Beziehung zu diesen neureligiösen Kulten und Vorstellungen besitzen, verringert sich der Anteil noch einmal. Nur 6 % der Westdeutschen und 2 % der Ostdeutschen behaupten von sich, daß sie eine Beziehung zu fernöstlichen Religionen haben. Unter Jugendlichen ist der Anteil derer, die Interesse an Esoterik, religiös alternativen Religionspraktiken und Okkultismus haben, anscheinend größer. Zumindest bei höher gebildeten jungen Erwachsenen in Großstädten haben über ein Viertel die eine oder andere esoterische Praxis schon einmal probiert. Freilich muß man dabei sehen, daß diese Berührungen mit der religiös alternativen Szene nur in seltenen Fällen zu festen Bindungen führen und gerade bei Jugendlichen mehr ein Ausdruck von Neugier als von ernsthaftem Interesse sind und häufig einfach einen Teil der jugendlichen Freizeitkultur bilden.
"Man kann durchaus gelegentlich den Gottesdienst, zum Beispiel jedes Jahr den Weihnachtsgottesdienst besuchen, seine Kinder taufen lassen, kirchlich heiraten und gleichzeitig an den Einfluß der Sterne auf das eigene Lebensschicksal und die Wiedergeburt glauben. Falsch wäre es allerdings, dieses religiöse Gemisch für einen Ausdruck religiöser Individualität zu halten. In der Mehrzahl der Fälle manifestiert sich in ihm lediglich der Verzicht auf eine individuelle Wahl."
Schließlich läßt sich drittens feststellen, daß zwischen den institutionalisierten Formen der Religion und den individualisierten Religiositätsformen eine relativ enge Korrelation besteht. Es geht und das sowohl in Westdeutschland als auch in allen anderen westeuropäischen Ländern - nicht nur die Zahl der Kirchenmitglieder, die Zahl der Gottesdienstbesucher oder die Zahl der kirchlich Hochverbundenen, sondern - wenn auch in etwas gebremsterem Tempo - auch die Zahl derer, die an Gott glauben, die regelmäßig beten oder sich selbst für religiös halten, zurück. Je häufiger man zum Gottesdienst geht oder je stärker man sich mit der Kirche verbunden fühlt, desto wahrscheinlicher ist es, daß man auch an Gott glaubt oder sich selbst als religiös versteht. Institutionell abgestützte Kirchlichkeit und individuelle Religiosität sind zwar nicht identisch, aber sie stehen in einem engen Zusammenhang. Religiosität ist noch immer vor allem kirchlich bestimmt. Natürlich ist es immer schwierig, Religiosität zu definieren und die geeigneten Indikatoren zu finden, die in der Lage sind, ein so weiches Phänomen wie Religiosität zu messen. Aber selbst wenn man Religion weit faßt und auch noch "Staunen über die Wunder der Natur", "Ergriffensein beim Hören bestimmter Musik" oder das "Gefühl der Gemeinschaft im Gespräch" in die Definition einbezieht, so sind es doch noch immer eher die Kirchennahen, die diese Erfahrungen mit Religion asso- ziieren, als die Kirchenfernen.
Die Formen der Religion wandeln sich in den modernen Gesellschaften. Zweifellos. Aber mit dem Formenwandel geht ein Bedeutungsverlust der Religion einher, der alle ihre Dimensionen betrifft, ihre institutionelle und rituelle ebenso wie ihre individuelle und erfahrungs- und überzeugungsmäßige. Es ist einfach nicht wahr, daß die Kirchen sich leeren, aber Religion boomt. Wer die Kirche verläßt, schätzt sich in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle auch nicht mehr als religiös ein. Nur eine Minderheit von etwa 10 % der Konfessionslosen behauptet von sich, um einer anderen religiösen Überzeugung willen aus der Kirche ausgetreten zu sein. Weitaus mehr geben an, daß sie aus der Kirche ausgetreten seien, da sie in ihrem Leben keine Religion brauchen oder da sie mit dem Glauben nichts mehr anfangen können.
Sowohl die kirchlich Hochengagierten als auch diejenigen, die sich mit der Kirche überhaupt nicht verbunden fühlen, neigen nicht so stark zu Synkretismusaussagen. Das heißt, es ist notwendig, zwischen dem verstärkten Aufkommen synkretistischer Religiositätsformen und Prozessen der Individualisierung zu unterscheiden. Religiöser Synkretismus ist vor allem eine Folge individueller Unentschiedenheit.
Synkretistisches Religionsverständnis und konventionelle Christlichkeit schließen sich also nicht aus. Man kann durchaus gelegentlich den Gottesdienst, zum Beispiel jedes Jahr den Weihnachtsgottesdienst besuchen, seine Kinder taufen lassen, kirchlich heiraten und gleichzeitig an den Einfluß der Sterne auf das eigene Lebensschicksal und die Wiedergeburt glauben. Falsch wäre es allerdings, dieses religiöse Gemisch für einen Ausdruck religiöser Individualität zu halten. In der Mehrzahl der Fälle manifestiert sich in ihm lediglich der Verzicht auf eine individuelle Wahl. Die religiösen Alternativen zur christlichen Religion sind inzwischen selber konventionell geworden. Wenn der einzelne sie akzeptiert, so greift er nur auf das Naheliegendste, was er an jedem Kiosk an der Straßenecke haben kann, zurück. Im übrigen ist die Zahl der religiösen Alternativen für den einzelnen aufgrund der je individuell begrenzten Kontaktmöglichkeiten mit religiösen Angeboten durchaus eingeschränkt. Das heißt, das Verhältnis zu Religion und Kirche ist mehrheitlich nach wie vor durch Unbestimmtheit, Indifferenz und Konventionalität geprägt - allerdings mit dem Unterschied, daß zu den Konventionen jetzt auch außerchristliche Vorstellungen und Kulte hinzugehören.
Diese weitverbreitete Unbestimmtheit im Verhältnis zu Religion und Kirche steht in einem auffälligen Entsprechungsverhältnis zu der Tatsache, daß die meisten in Deutschland Religion und Kirche als den Lebensbereich ansehen, dem sie in ihrem Leben die geringste Bedeutung beimessen. Für die Mehrheit stellen Religion und Kirche eine Art Lebenshintergrund dar, der dann und wann, im Falle biographischer Wenden oder in Situationen persönlicher Krisen, reaktualisiert wird, aber ansonsten ausgeblendet bleibt. Im Vordergrund stehen Familie, Freunde, Beruf, Freizeit, nicht aber Religion und Kirche. Wenn es darum geht, wen man heiratet oder ob man überhaupt heiratet, ob und wieviel Kinder man haben will, welchen Beruf man ergreift oder was man kauft, muß man sich entscheiden.
Die Gesellschaft nötigt den einzelnen dazu. Die religiöse Frage dagegen kann offen bleiben. Wie man sich zu ihr verhält und ob man sich überhaupt mit ihr beschäftigt, hat keinen oder so gut wie keinen Einfluß auf den Zugang zu andern Lebensbereichen. Im Gegensatz zu der geläufigen religionssoziologischen These Peter L. Bergers geht von der modernen Gesellschaft angesichts der warenhausähnlichen Pluralisierung der religiösen Angebote gerade kein Entscheidungszwang aus.
Zum einen scheint sich die Soziologie an die massenmedial vermittelten Beschreibungen des religiösen Wandels in der Moderne anzuhängen. In der Öffentlichkeit dominiert das Bild, daß an die Stelle der sich im Niedergang befindenden Kirchen ein breites und immer breiter werdendes Feld außerkirchlicher Religionsformen getreten sei. Dieses Bild kommt einer in Intellektuellen-, Künstler- und Journalistenkreisen verbreiteten Kirchenkritik entgegen und besitzt offenbar eine von den empirischen Fakten unabhängige Plausibilität, der sich anscheinend auch Soziologen nicht entziehen können.
Zweitens dürfte für die Aufwertung der außerinstitutionellen religiösen Erneuerungstendenzen eine für die Soziologie nicht ganz untypische Fixierung auf Prozesse der Veränderung eine Rolle spielen. Der Wandel erregt Aufmerksamkeit, die gleichwohl vorhandenen Kontinuitäten werden übersehen. Man sieht die rückläufige Entwicklung bei den Großkirchen, beobachtet den Aufschwung von Esoterik und Okkultismus und folgert, daß alternative und individualisierte Religionsformen die institutionalisierten ersetzen. Man sieht aber nicht, daß die alten religiösen Institutionen trotz ihrer Einbrüche noch immer sozial mächtig sind und daß es sich bei den religiösen Gegenbewegungen um Minderheitenphänomene handelt.
Zum dritten dürfte für die Überbetonung 'postmoderner' religiöser Wandlungstendenzen ein ambivalentes Verhältnis zur Moderne mitverantwortlich sein. Man ist skeptisch geworden gegenüber den Versprechungen, mit denen die Moderne einst antrat, und überführt die Kritik an der modernen Zivilisation in eine Besinnung auf angeblich vormoderne oder postmoderne Werte wie Emotionalität, Solidarität oder Ganzheitlichkeit.
Viertens handelt es sich bei den Individualisierungstheorem um ein allgemeines Selbstdeutungsmuster der Moderne, die dem einzelnen zumutet, sich seine Handlungen selbst zuzurechnen. Die Individualisierungsthese könnte man insofern - polemisch formuliert - als eine Art enttäuschungssichere Selbsttäuschung der Moderne über ihre eigenen Modernisierungsschranken, wie sie etwa auf dem Feld der Religion zum Ausdruck kommen, interpretieren.