Einleitung
"Entschuldigung, wo ist noch einmal der Raum JK 2511, wie viele benotete
Scheine brauche ich bis zum Vordiplom, wo kann ich günstig eine Wohnung
bekommen ...?" Eine Fülle von Eindrücken läßt die Gedanken eines jungen
Studenten im ersten Semester schnell einmal Karussell fahren. Die von vielen
beklagte Orientierungslosigkeit kann sich noch potenzieren, wenn das Studium
in einer fremden Stadt angefangen wird. Aber auch zur Zwischenprüfung
erleben viele Studenten die große Sinnkrise - alles wird in Frage gestellt.
In dieser Zeit sind helfende Hände aus dem Chaos sehr gefragt.
Manchmal jedoch ziehen die vermeintlichen Helfer noch tiefer ins Chaos: Zum Beispiel dubiose Vereinigungen, die eine vorübergehende Desorientierung bei ihren Opfern ausnutzen. Vereinigungen wie "TM - Transzendentale Meditation" oder "UL - Universelles Leben" begnügen sich damit, in den Unis nur zu plakatieren, was nicht bedeutet, daß sie weniger gefährlich sind. Ganz andere Saiten zieht allerdings die Boston Church of Christ (BCC) auf, die in Berlin aktiv ist unter dem Namen "Gemeinde Jesu Christi e.V."; sie ist eine neue, extreme christliche Sekte.
Für einen "hochgradig totalitären Kult" hält Markus Wende, Student am Institut für Religionswissenschaften an der Freien Universität Berlin (FU) die BCC und ihren Berliner Ableger. Pfr. Thomas Gandow, Sektenbeauftragter der evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg kennt "keine Sekte, die derzeit aggressiver wirbt".
"bussing & tubing"
In U-Bahnen und Bussen sprechen die Anhänger der Sekte ihre Kommilitonen an
und laden zu Semestereröffnungsparties ein. Aberr auch Einladungen zu
sogenannten internationalen Studentengottesdiensten, die die Boston-Bewegung
in der Weddinger "Neuen-Nazareth-Kirche" am Leopoldplatz veranstaltet,
werden verteilt. Die "Neue-Nazareth-Kirche" untersteht der pflingstlerischen
"Gemeinde Gottes", die mangels eigener Masse das Gebäude an alle möglichen
Gruppen untervermietet und auch mit den Boston-Jüngern teilt. Dort werden
die Neuankömmlinge immer herzlich begrüßt. "Nach einem sehr netten Gespräch
tauschte ich mit jemandem die Telefonnummern. Ziel der Aktion war es, mich
mit zum Gottesdienst zu nehmen", deutet Aussteiger Helmut Schmidt die
Taktik. Wer einmal in dieses System hineinrutscht, weiß schnell nicht mehr,
wo ihm der Kopf steht: Mit ständigen Aktivitäten, gemeinsamen Freizeiten,
Bibelstunden und Gottesdiensten wird der Neuling fest in die Sekte
eingebunden.
Der Schlüssel zum "christlichen Leben" sei das Aufgeben der eigenen Interessen und der persönlichen Rechte. Helmut Schmidt ging es auch so: 2Wenn man seine alten Freunde nicht bekehrenkann, soll man den Kontakt zu ihnen abbrechen", schildert er seine Erlebnisse.
Vom Campus verbannt
Wie aktiv die Boston-Bewegung an der FU ist, weiß Markus Wende. Neben seinem
Studium vertritt er im Allgemeinen Studentenausschuß (AStA) der FU die
Arbeitsgemeinschaft (AG) Sekten. "Über 80% der Teilnehmer unserer
Sprechstunde kamen wegen der Boston-Bewegung", berichtet er. "Das hat
gereicht." Im Dezember des vergangenen Jahres genehmigte das
Studentenparlament (StuPa) einen von ihm eingebrachten Beschlußvorschlag,
der Gruppierung, vor denen in einer Broschüre
der Senatsvewaltung gewarnt wird, ein Werbeverbot erteilt und das
Anmieten von Räumen der FU für diese untersagt. Amtlich wurde es dann am 22.
Januar diesen Jahres: Der Akademische Senat der FU beschloß die vom
Studentenparlament eingebrachte Vorlage bei zwei Enthaltungen. Als TM die FU
mit einer Plakataktion überfiel, wurde die Plakate nach einem schriftlichen
Hinweis der Universitätsverwaltung an TM umgehend entfernt.
Die Boston-Bewegung ließ aber nicht locker: Zu Beginn des laufenden Wintersemesters stürzten sich die nach einer Schätzung Wendes ca. 30 - 40 aktiven Mitglieder der BCC an der FU auf die Erstsemester, bei denen sie ein erhebliches Rekrutierungspotential sehen. Die "AG Sekten" konnte blitzschnell mit Warnplakaten reagieren. "Die hingen aber keine 48 Stunden" sagt Wende. Alle 40 Plakate wurden von unbekannter Hand wieder entfernt.
"Kritisch" sieht Wende auch die gesamtberliner Situation: Wenn Humboldt-Universität (HU) und Technische Universität (TU) nicht mit dem FU-Beschluß gleichzögen, gäbe es auf Dauer kleine Erfolge in Dahlem, aber noch größere Probleme in der Innenstadt.
So beurteilt auch Henrik Plasse, Pfarrer derEvangelischen Studentengemeinde (ESG), die Situation: "Gerade auf dem Weg zum Hörsaalgebäude der TU wird massiv von Anhängern der Boston-Bewegung geworben. Aber auch andere Vereinigungen nutzen den universitären Rahmen für ihre Aktionen."
An anderen europäischen Unis hat sich die Sekte auch schon Gegner gemacht: Die britische Zeitung "The Mail" berichtete schon am 22. Januar 1989, zwei Universitäten hätten der "Central London Church of Christ", wie sie sich dort nennt, wegen ihrer Gehirnwäschemethoden bereits Campusverbot erteilt. In den USA ist die Boston-Bewegung von 22 Colleges gebannt worden. "Ein richtiges Hausverbot für die Boston-Bewegung an der FU zu erzielen, wäre hier unmöglich. Wenigstens haben wir ein Werbe- und Vermietungsverbot", resümiert Wende.
Studentengemeinde
Studentenpfarrer Plasse kennt den Seelsorgebedarf an den Berliner
Hochschulen am besten: "Gerade junge Studenten, die neu in der Stadt sind,
würden lieber mit einem Pfarrer aus der Studenten-Gemeinde reden." Zum
zuständigen Gemeindepfarrer trauen sie sich nicht zu gehen, da sie sich noch
nicht mit der jeweiligen Wohn-Gemeinde Identifizieren, als Studenten auch
häufig innerhalb der Stadt umziehen. Gerade deswegenwären mehrere
Studentenpfarrer so notwendig, sagt Plasse. Durch die allgemeine Finanznot
der Kirche bedingt, existiert für drei Berliner Hochschulen nur noch eine
Studentenpfarrstelle. Das Haushaltsvolumen der ESG wird im Jahre 1999 nur
noch 15% des 1995er Haushaltes ausmachen. Die Landeskirche begründet ihre
Entscheidung laut Pfarrer Plasse damit, daß gerade die Ortsgemeinden
gestärkt werden müßten.
Aussichten und Strukturen
Wende schätzt die Möglichkeiten, das Anwerben neuer Jünger an den Unis zu
unterbinden, auf Dauer ebenfalls als schlecht ein. 80% der BCC besteht aus
Studenten, denn da hat die Sekte auch ihren Ursprung: Guru Thomas "Kip"
McKean gründete sie 1979 als Abspaltung von einem Bund autonomer Baptisten.
Massenhaften Zulauf bekamen McKean und seine Jünger zuerst auch an
amerikanischen Universitäten. Seitdem rekrutieren die "Soldaten für Gott"
erfolgreich wie keine andere Sekte. Seit 1988 wird Deutschland mit einem
"Plan für den Blitzkrieg" vom Satan befreit. Ihr Erfolgsrezept heißt
"Discipling" - Jünger machen. Jeder Neuling bekommt einen Discipler, der ihn
täglich betreut und seinenWeg zum "wahren Christentum" anleitet. Da jedes
Mitglied der Boston Church einmal neu war, hat also auch jeder einen
Discipler, dem er unterstellt ist. Die sich ergebende Struktur ist extrem
hierarchisch und totalitär. Jeder hat einen Missionierungsauftrag. Täglich
sollen möglichst zweimal, also morgens und abends Menschen angesprochen
werden, um diese zur BCC zu bringen. "Alle anderen Menschen außerhalb der
Boston-Church sollen nämlich verlorene Seelen haben, sofern sie sich nicht
bekehren lassen wollen" berichtet Helmut Schmidt.
Christoph Tannenberger,
20, studiert nach Ableistung seines Zivildienstes Neuere Deutsche Literatur
und Geschichte in Berlin und ist Volontär beim BERLINER DIALOG.