Auftragsarbeit: Ein Fernsehteam manipuliert

von Alexander Dvorkin

Einleitung

Am 9. April kam Boris Sobolev, ein Korrespondent des Fernsehprogramms "Vremetschko" ("Stündchen") in mein Büro. Vremetschko gehört zur Fernsehgesellschaft ATV, die einige Stunden beim NTV-Kanal einkauft und daher landesweit zu sehen ist. Er sagte, daß er ein Interview mit mir machen möchte für einen Bericht über "Kultrehabilitation" in unserem Land.

Ich sagte ihm die üblichen Dinge über unser Irenäus-Center. Er war aber viel mehr interessiert an dem sogenannten "deprogramming", und ich sagte ihm einige Male, daß wir hier keine Art von irgendwelchem "deprogramming" machen. Ich sagte aber auch, jene verzweifelten Eltern kann ich nicht verurteilen, die aus ihrer Hoffnungslosigkeit heraus sich für sogenanntes "deprogramming" entscheiden, aber wir sind völlig gegen Zwang und gewaltsame Mittel. Denn dies sind Mittel der Kulte, nicht unsere, sagte ich.

Auslandsverbindungen

Der Korrespondent war auch sehr daran interessiert, wie denn unsere Verbindungen ins Ausland sind. Ich erzählte ihm vom DCI (dem Dialog Center International), von unseren Verbindungen zu den deutschen landeskirchlichen Beauftragten und von FAIR in England.

Er fragte weiter, ob wir nicht mit irgendwelchen Organisationen in den USA verbunden seien, worauf ich sagte: Nein.

Dann fragte er mich, ob ich denn die Namen von amerikanischen "Antikultorganisationen" wüßte, und ich sagte: Ich habe gehört von AFF und CAN.

Manipulation und Fälschung

Als der Beitrag dann am 16. April gesendet wurde, war es einfach wild: Der Film berichtete von Ted Patrick in den USA, der CAN gegründet habe. Dann wurden einige Geschichten über arme Kultmitglieder gezeigt, die von Deprogrammern im Auftrag ihrer Eltern gefoltert und vergewaltigt wurden. Man zeigte auf diese Weise ein Hare-Krishna-Mädchen und einen Munie-Jungen. Dann hieß es in dem Beitrag, daß Patrick wegen kidnapping und Kokainhandel verurteilt worden sei und daß CAN einige Gerichtsverfahren verloren habe und jetzt 35 Millionen Dollar Schulden habe. Als dies gesagt wurde, zeigten sie einige Dokumente und Broschüren. Erst später, als ich den Film noch einmal sorgfältig anschaute, bemerkte ich, daß alle Dokumente einen Scientology-Bezug hatten. Und schließlich sagte der Reporter ungefähr:

"Denken sie vielleicht, diese Kriminellen haben ihre Aktivitäten nach solch einem Schlag eingestellt? Nein, sie sind in unser Vaterland gekommen und arbeiten jetzt unter den gastfreundlichen Fittichen des Moskauer Patriarchats". Dann wurde unser Kloster gezeigt, und dann ich. "Hier ist Dr. Dvorkin, ein Amerikaner, der jetzt für die Russisch-Orthodoxe Kirche arbeitet" sagte die Stimme. "Mit welchen Organisationen sind sie verbunden?" fragte die Stimme des Reporters. Und ich antwortete: Mit "CAN". "Was sagen sie zu dem kriminellen Hintergrund von CAN?" sagte der Reporter. "Ich möchte sie nicht verurteilen", antwortete ich.

"Das ist das St. Irenäus-Center", setzte der Reporter fort. "Das Ziel dieser Organisation ist gewaltvolle Deprogrammierung und gewaltvolle Ausbreitung der Orthodoxie. In was für einer fürchterlichen Zeit leben wir, in der die Kultisten und diejenigen, die sie bekämpfen, zu einem einzigen Kult gehören. Deshalb, wenn du vernünftig und gesund bleiben willst, dann wäre es besser, dich von beiden fernzuhalten." So, genau in dieser Weise ging der Film.

Die Frage nach den Auftraggebern

Wie man sehen kann, war alles gefälscht, ganz entsprechend den Anweisungen von "irgend jemand". Glücklicherweise gab es vier Zeugen, die während des Interviews mit mir dabei gewesen waren. Deshalb machten wir einen riesigen Aufstand. Wir drohten der ATV-Fernsehgesellschaft mit einem Prozeß, und ich denke, daß sie Angst bekamen. Sie wollten nicht den Skandal haben, von der Orthodoxen Kirche verklagt zu werden. Darum gaben sie dem Programm "Vremechko" Order, unsere Bedingungen zu akzeptieren. Am 25. April haben sie sich bei mir persönlich und beim Irenäus-Center der Russisch-Orthodoxen Kirche entschuldigt dafür, eine Fälschung meiner Worte vorgenommen zu haben und meinen Ruf befleckt zu haben, und haben ein Statement von mir in ihrer Sendung ungekürzt verlesen.

Und schließlich kann ich hinzufügen, daß, nachdem der erste Film gesendet worden war, die Moskauer Elterninitiative die Hare-Krishna-Leute kontaktiert hat und sie gefragt hat, warum sie so etwas machen. Wir waren das nicht, es waren die Scientologen, sagten die Hare-Krishna-Leute. Dann haben die Eltern Kontakt mit den Scientologen aufgenommen mit der selben Frage. Das waren nicht wir, das waren die Munies, sagten die Scientologen. Aber wer war es nun wirklich?

Erklärung von Professor Alexender Dvorkin

Erklärung von Professor Alexander Dvorkin, Leiter des St. Irenäus-Centrum, bei der Abteilung für religiöse Ausbildung und Religionsunterricht der Russisch-Orthodoxen Kirche

In einem Beitrag, der im Fernsehprogramm "Wremetschko" ("Stündchen") vom 16. April 1996 gezeigt wurde, wurde ein Interview mit mir durch Schnitte verfälscht und die Zuschauer mußten dadurch einen ganz falschen Eindruck über das von mir geleitete Zentrum und über unsere Tätigkeit bekommen. Deshalb möchte ich hier folgendes mitteilen:

1. Das "St. Irenäus-Centrum" beschäftigt sich weder mit Kidnappen und Menschenraub, um Leute aus Sekten herauszuholen (sog. "deprogramming") noch mit der Rehabilitation von Sektenopfern überhaupt.

Wir akzeptieren die Definition von "Deprogramming" prinzipiell nicht, weil wir meinen, daß der Mensch Gottes Ebenbild ist, und kein Computer sein kann, den man programmieren und entprogrammieren könnte.

Unsere Aufgabe besteht darin, zutreffende Informationen über totalitäre Sekten und destruktive Kulte zu sammeln und zu verbreiten. Wir sind davon überzeugt, daß jeder Mensch das Recht auf freie Entscheidung in allen Gebieten des Lebens, auch im Gebiet der Religion, hat (natürlich im Rahmen der Gesetze). Aber eine wirklich freie Entscheidung ist ohne Informationsfreiheit unmöglich. Und genau diese Freiheit entziehen die Sektenführer den Menschen, wenn sie bei ihrer Werbung Lüge, Täuschung und falsche Anschuldigungen benutzen. Wir glauben, daß die Mehrheit der heutigen Sektenopfer niemals in eine Sekte eingetreten wäre, wenn sie rechtzeitig die notwendigen Informationen darüber bekommen hätten, wohin die Werber sie führen wollen. Darum beschäftigen wir uns vor allem mit Prävention und Prophylaxe.

2. Ich beschäftige mich schon vier Jahre mit der Erforschung der Sekten. Und im Laufe dieser Jahre habe ich über Versuche des sogenannten "Deprogramming" in Rußland noch nie etwas gehört. Umgekehrt ist es aber so, daß die Sektenführer jetzt in Rußland alles machen können was sie wollen. Und sie beachten weder Bundesgesetze noch die Verfassung unseres Landes.

Ich glaube, liebe Zuschauer, daß sie darüber schon selbst gut Bescheid wissen. Die sogenannte "Anti-Deprogramming-Propaganda", die die Sekten jetzt sehr aktiv verbreiten, zielt darauf ab, die Aufmerksamkeit der Leute von der wirklichen Gefahr abzulenken und die Situation hemmungslos auszunutzen.

3. Im Beitrag von B. Sobolev wurden Anschuldigungen über die Tätigkeit der US-amerikanischen Antikultorganisation "CAN" veröffentlicht, deren Filiale unser Zentrum angeblich sein soll. Diese Informationen waren falsch. Erstens sind wir mit "CAN" nicht verbunden. Zweitens haben die Behauptungen über das Gewalt-Deprogramming, die im Beitrag vorkamen, keine Verbindung mit "CAN". "CAN" ist eine Initiative von Eltern, deren Kinder die Opfer der Sekten wurden. Diese Initiative tritt den Gewaltmethoden des Kampfes mit Sekten entgegen. Sie setzt sich fast allein in Nordamerika mit der großen dunklen Sektenmacht auseinander.

Das St. Irenäus-Centrum wünscht den Zuschauern alles Gute und besonders wünschen wir, daß sie niemals solches Leid und solche Schmerzen erleben müssen, wie sie diejenigen Eltern erdulden müssen, die ihre Kinder in Sekten und Kulte hinein verloren haben.


Alexander Dvorkin

Alexander Dvorkin, Ph. D., 41, studierte in New York und in Rom und promovierte mit einer Arbeit über "Ivan the Terrible as a Religious Type". Er ist jetzt Professor für Kirchengeschichte an der Russisch-Orthodoxen Universität Moskau und Leiter des Informations- und Beratungscentrums "St. Irenäus von Lyon", der Partnerorganisation des DIALOG CENTER INTERNATIONAL in Moskau. Er gehört dem Wissenschaftlichen Beirat des BERLINER DIALOG an.