Suchet in der Schrift...

von Rainer Schumann
Das Bild ist schon drei Jahre alt, im Verlauf einer Studienreise der Konsultation Landeskirchlicher Beauftragter (KLB) aufgenommen in einem Tempel in Delhi. Aber was sind in Indien schon drei Jahre!

Ein noch nicht so alter Brahmane liest in den heiligen Schriften des Hinduismus. Es geht um Wissen, das vermeintlich uralte Wissen um Karma und Reinkarnation, den Zusammenhang von atman und brahman, den Ablauf der yugas und nicht zuletzt das Wissen um die Schichtung der indischen Gesellschaft in Kasten, zu deren oberster der Brahmane gehört (erkennbar an der Schulterschnur). Es geht um Wissen, denn das Wissen ist die Erlösung.

Auch im Christentum gibt es ein Wissen, und die Klage um die Entchristlichung unserer Gesellschaft birgt in sich zumeist auch die Klage um das katastrophal geringe Wissen darum, worum es im Christentum eigentlich geht. Und das Lesen im Buch der Christenheit, der "Heiligen Schrift", ist vermutlich auch nicht mehr so weit verbreitet. Was zum Leben notwendig ist, vermeint der so oft bemühte "moderne" Mensch auch ohne Kirche und Christentum zu wissen.

Der (notwendige) Streit muß darüber beginnen, was denn eigentlich zum Leben notwendig ist. Und in der Antwort darauf unterscheiden sich die Religionen (was gegen keine von ihnen ein Vorwurf sein kann!).

Das Christentum (darin dem Judentum verwandt) legt den Schlüssel zur Erlösung nicht in ein Wissen. Denn Wissen ist prinzipiell erreichbar. Aber die Rettung, Erlösung, das Heil, wie immer wir die Befreiung von uns selbst bezeichnen wollen, ist nach dem Glauben der Christen nicht prinzipiell erreichbar. Sie ist ein Geschenk, unverdient, unverfügbar, nicht erdienbar. Sie erwächst aus dem freien Hören des Wortes. Das setzt voraus, daß der Mensch zutreffend als ein Hörender beschrieben werden kann, zugleich, daß er zu seinem Heil angewiesen ist (und angewiesen bleibt) auf das an ihn ergehende Wort. Das Heil kommt von außen, ist nicht in ihm schon vorhanden, so daß es durch intensive Lektüre, bestimmte Übungen oder Techniken lediglich ans Licht gebracht werden müßte.

Die Botschaft, daß der Mensch über sein Heil nicht verfügt und prinzipiell nicht verfügen kann, ist eine Kränkung des Menschen, denn sie weist ihn in die Schranken seiner endlichen Geschöpflichkeit. Daß gerade diese Botschaft befreiend ist, auch befreiend vom WissenMüssen!, wird wohl nur der erfahren, der sich auf diese ,Kränkung" einlassen mag, weil er in dem ihm dies zumutende Wort Gottes erfährt, daß sein Leben vor allem Wissen, vor allem Tun, vor aller menschlichen Leistung schon längst angenommen, geborgen und aufgehoben ist. Das kann man nicht wissen, das kann man nur glauben. Und Glauben ist hier keine Minderform des Wissens, sondern die einzige Weise, der von Gott geschenkten Wahrheit zu entsprechen.

Weil der Mensch mit allem seinem Wissen, Meditieren oder Tun Gott nicht erreichen kann, hat es Gott gefallen, zum Menschen zu kommen. Das feiern wir an Weihnachten. Mit anderen Religionen mögen wir die Einsicht teilen, daß der Friede auf Erden nur geschenkt wird, wenn wir Menschen Gott die Ehre geben (Lukas 2,14). Als Christen können wir aber den Kern dieser Einsicht nicht verleugnen, daß das Wort dieses göttlichen Friedens in Jesus Christus unter uns Menschen gekommen ist: zwar in der Welt, aber nicht von der Welt.

Diese Botschaft bleibt ein uns fremdes Wort, dessen Zeugnis in unserer heiligen Schrift zu finden ist. Aber nicht das Aufnehmen oder gar ein Für-wahr-halten des Buchstabens bewirkt das Heil, sondern allein das lebendige Wort, das wir hören, in unser Herz nehmen, damit wir uns selbst verstehen - und daraufhin unseren Schöpfer loben und ihm danken.


Rainer Schumann

Pfr. Rainer Schumann, 50, ist Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen in Oldenburg Foto: Eduard Trenkel