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BERLINER DIALOG 26, 1-4 2002 - Epiphanias 2003

 

Die Verwaltung des Gouvernements Krasnojarsk wird aktiv
Ein Gespräch von Propst Rudi Blümcke mit Mark G. Denissow, Krasnojarsk

Der Propst der lutherischen Gemeinden im Mittleren Sibieren mit Sitz in Krasnojarsk, Rudi Blümcke, wurde am 11. Mai vom Direktor des Ressorts für Medien und Religionsfragen bei der Regierung des Gouvernements Krasnojarsk, Mark G. Denissow, zu einem Informationsgespräch gebeten. Er schilderte Pastor Blümcke während drei Stunden die Situation und Problematik der VissarionSekte, wie sie sich ihm als Verwaltungsbeamten darstellt. Der telephonisch übermittelte Bericht wurde von Gerd Stricker zu dem vorliegenden Beitrag gestaltet.
Mark G. Denissow ist mit Sicherheit der bestinformierte Experte in Sachen der Sekte "Kirche des Letzten Testaments"/Vissarion, obwohl er sein Amt erst seit September 2000 bekleidet. Er hat bei zahlreichen Kontaktaufnahmen mit Vissarion­Anhängern, aber auch in verschiedenen dienstlichen Begegnungen mit Sergej Torop persönlich aktenweise Material zu dieser Frage zusammengetragen. Er ist der einzige in der Gouvernements­Verwaltung, der sich wirklich engagiert mit dieser Thematik auseinandersetzt und erkannt hat, daß es nicht genügt, irgendwelche Maßnahmen anzuordnen, die keine Chance auf Verwirklichung haben, sondern daß man sich mit Vissarion zusammensetzen und zu bestimmten gemeinsamen Positionen und darauf aufbauend zu bestimmten Abmachungen gelangen muß, die auf beiden Seiten genau eingehalten werden - erste Erfolge sind bestimmte Zusagen ToropVissarions im medizinischen Bereich (Ernährung von Schwangeren und Babies, Impfungen).
Denissow hat sich nicht gescheut, zu Fuß 18km Trampelpfad durch unwegsames Gelände vom Ende der Kreisstraße bis zum Haus von Torop­Vissarion im Sektenzentrum zu marschieren, um mit diesem zu konferieren; und er hat es auch durchgesetzt, daß jener wie jeder andere Bürger ins Regierungsgebäude nach Krasnojarsk kam, wo er mit Regierungsdirektor Denissow bestimmte Fragen diskutierte.

Sergej Torop
Sergej Torop ist an sich ein scheuer Mensch, der nach Anerkennung sucht und kaum jemandem in die Augen schauen kann. Es gibt zwei Schlüsselerlebnisse, die dazu beigetragen haben dürften, daß er zum Sektengründer wurde. In beiden Fällen fühlte sich Torop in entscheidender Weise nicht ernstgenommen und verlor sogar - im ersten Beispiel - seine Arbeit.

Polizist - Milizionär
Ein halbes Jahr war Torop als Streifenpolizist (Milizionär) in Minussinsk (450km südlich von Krasnojarsk) tätig gewesen. Auf einer Streifenfahrt fanden er und sein Vorgesetzter einen Betrunkenen in einer Pfütze liegend. Sein Chef befahl ihm, den Betrunkenen in den Streifenwagen zu packen, um ihn in eine Ausnüchterungszelle zu bringen. Torop ging zu dem Betrunkenen, wich aber zurück und weigerte sich, ihn anzurühren: Der Mann habe einen Heiligenschein. Als er trotz weiterer Anordnungen den Betrunkenen nicht ins Auto lud, wurde er wegen Befehlsverweigerung aus dem Polizeidienst entlassen.

Ikonenmaler
Torop lernte Ikonen zu malen. Seine Erzeugnisse bot er orthodoxen Priestern an - diese aber wiesen ihn zurück: Was er da anbiete, sei Teufelswerk - er verfüge nicht über die für die Ikonenmalerei nötigen geistlichen Voraussetzungen; für diesen Dienst müsse er von einem Geistlichen einen besonderen Segen empfangen. Den habe er aber nicht. - Torops Zorn soll sich in einem bezeichnenden Ausruf entladen haben: "Wenn die Orthodoxen meine Ikonen nicht nehmen, gründe ich eben meine eigene Kirche!"

Esoterik
In Minussinsk schon besuchte er esoterische Zirkel, in denen die Ideen von Nikolaj Roerich, Helena Blawatskaja­Hahn (siehe G2W 5/2001, S.13) nachgebetet wurden - diese esoterisch­theosophischen Zirkel kamen seit 1990 in der zusammenbrechenden Sowjetunion sehr in Mode. In diesen Zirkeln lernte Sergej Torop auch seinen künftigen Begleiter und "Theologen" - Vadim - kennen, der auch das "Fünfte" Evangelium - das Letzte Testament - verfaßt hat.

Putsch von Ruzkoj & Co. 1993
Eine Art Initialzündung für Torops Bewegung war der Putsch Chasbulatows, Ruzkojs u.a., der mit den von Präsident Jelzin verordneten Kanonenschüssen auf das Weiße Haus in Moskau, Sitz der Duma, am 3. und 4. Oktober 1993 beendet wurde. Knapp zwei Wochen dauerte diese Staatskrise, in der die sowjetisch geprägte Intelligenz völlig die Orientierung verlor: Ein ehemaliger kommunistischer Funktionär - Boris Jelzin - ließ als Staatspräsident auf Kommunisten schießen, die im Duma­Parlament dominierten. Breite Kreise der postsowjetischen Intelligenz verstanden gar nichts mehr, waren absolut hilflos und suchten nach neuen Ideologien.
In dieser Situation stießen viele frustrierte Altkommunisten zu allen möglichen und unmöglichen Gruppierungen und Bewegungen, darunter auch zu ToropVissarion - das waren verunsicherte Vertreter der "Intelligenzija" und Offiziere, die durch den Zusammenbruch des Kommunismus an den Rand der postkommunistischen Gesellschaft gespült worden waren. Nicht zuletzt deshalb ist der Anteil an Akademikern und ehemaligen Offizieren in der Vissarion­Sekte so hoch: Strandgut des Kommunismus.
- Sicher war es Zufall, aber wohl doch bezeichnend, daß sich Torop 24 Stunden nach Beendigung des Putsches als neuer Messias VISSARION präsentierte.

Statistisches
80% Sektenmitglieder sollen einen akademischem Abschluß (manche mehrere Doktor­Titel) haben. Allein 24 Sektenmitglieder sind hohe Offiziere gewesen - vom Oberst aufwärts. Auch ein früherer Verkehrsminister von Weißrußland gehört dazu. - Der Anteil der Frauen unter den Mitgliedern liegt 25% über dem der Männer; unter den Frauen ist die Altersgruppe der 25-40jährigen besonders stark vertreten.
Das der Sekte zur Verfügung gestellte Gelände von 250 Hektar im Kreis Kuragino besteht hauptsächlich aus Waldland. Kürzlich hat Torop­Vissarion noch weitere 147 Hektar auf 150 Jahre hinzugepachtet. 4200 Sektenanhänger leben jetzt dort; darunter 600 Kinder (1991 hatte Torop mit 5 Anhängern angefangen). Anfang des Jahres 2001 waren 54 Sektenmitglieder Nicht­Russen: Polen, Amerikaner, Deutsche, Chinesen ...
Ortsansässige Sektenmitglieder gibt es kaum - lediglich einige Frauen, die sich durch ihre Flucht in die Sekte vor ihren alkoholkranken oder sonst unerträglichen Ehemännern oder anderen Problemen gerettet haben.

"Sonnenstadt": Ökopolis Tiberkul
Die der Sekte von der Verwaltung zur Verfügung gestellten 250 Hektar befinden sich im Gouvernement Krasnojarsk im Kreis Kuragino; das Gelände bildet eine wunderschöne bewaldete Hügellandschaft auf 600-700 m über Meereshöhe. Torop­Vissarion hatte ursprünglich sein geistliches Zentrum auf einer markanten Insel des Sees "Tiberkul" errichten wollen. Archäologische Funde auf der Insel beweisen, daß diese seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden eine alte Kultstätte war. Reste zahlreicher Altäre, Opferschreine und Kultgegenstände hat man hier gefunden. Während in der Eiszeit Sibirien unter einer Hunderte Meter dicken Eisdecke begraben lag, herrschte auf dieser Insel offenkundig Leben. Der See und speziell diese Insel haben für die Sibirier heilige Bedeutung. Torop­Vissarion erklärt, auf dieser Insel sammele sich die Energie des Kosmos.
Die Behörden sind aber auf seinen Wunsch nicht eingegangen und haben der Sekte den See nebst Insel nicht überschrieben. Nun errichtet Torop­Vissarion das geistliche Zentrum seiner Sekte - die Siedlung "Ökopolis Tiberkul", die sie meistens "Sonnenstadt" nennen - auf dem "Trockenen Berg" (Suchaja gora), der fast an den See grenzt: Von seinem Haus auf dem höchsten Punkt des Berges oder Hügels kann Torop­Vissarion den Tiberkul­See wenigstens sehen und seine "spirituelle Kraft" aus diesem Anblick ziehen. Deshalb spielt der Name des Sees "Tiberkul" eine solche Rolle im Zusammenhang mit dem Siedlungsprojekt der Sekte.
Wo der Berg am höchsten ist, wurden bereits die "Kathedrale" sowie das Haus des Sektenführers errichtet - sie sind als einzige Gebäude wirklich fertiggestellt; fünf weitere Gebäude stehen vor der Vollendung, weitere 40 sind in Planung oder befinden sich in unterschiedlichen Bauphasen.

Sektenalltag
Obwohl sich Torop­Vissarion stets volksnah gibt, auch mit "Sergej" oder "Serjosha" angeredet werden darf, ist eine strenge hierarchisch­zentralistische Stufung erkennbar, die in der Sekte das Leben bestimmt. Die "Rangordnung" der einzelnen Sektenmitglieder zeigt sich daran, wie nahe oder wie fern ihr Wohnplatz der "Sonnenstadt" ist. Auf der höchsten Stelle des Hügels in unmittelbarer Nähe der "Kathedrale" und das Hauses von Torop­Vissarion wohnen die etwa 70 engsten Vertrauten von ToropVissarion - der "Engste Kreis". Neuankömmlinge hingegen dürfen sich nicht auf dem eigentlichen Sektengebiet, den 250 Hektar um den Trockenen Berg herum, ansiedeln - sondern sie müssen sich eine Bleibe in den umliegenden Orten außerhalb der 250 Hektar um den Trockenen Berg suchen. Sie leben gleichsam in konzentrischen Kreisen um das geistliche Zentrum: Wer zuletzt angekommen ist, muß sich im entferntesten Ort niederlassen. Je näher man beim Trockenen Berg - und damit bei Torop­Vissarion - leben darf, desto höher sind allgemeines Ansehen und Stellung in der Sekte. Mit dem "Mitgliedsalter" rückt man dem geistlichen Zentrum immer näher.
Unabhängig von dieser "natürlichen" Rangabstufung, also von ihrem Anciennitätsrang, werden die Sektenanhänger ständig in andere - dem Zentrum nähere oder aber auch fernere Wohnbereiche abkommandiert; zum Teil hat das mit bestimmten (Missions­)Aufgaben zu tun; zum großen Teil stecken dahinter sicher Erziehungsgründe: Die Sektenmitglieder sollen diszipliniert und willenlos gemacht werden.
Um die besagten 250 Hektar liegen im Umkreis von über 18km acht Dörfer, wo Neuankömmlinge eine erste Bleibe finden - wo sie Häuser oder Wohnungen kaufen bzw. mieten müssen. Im März 2001 betrug der Anteil der Sektenmitglieder in diesen acht Dörfern bereits 25-30%.

Schulen
Darüber, wie sich der Schulunterricht tatsächlich vollzieht, gibt es kaum Klarheit. Kinder von Sektenmitgliedern, die in den genannten acht Dörfern außerhalb des gepachteten Landes leben, besuchen Kolchosenschulen, deren Niveau bekanntermaßen niedrig ist. Was innerhalb des eigentlichen Sektenlandes geschieht, entzieht sich weitestgehend jeglichem Einblick. In deutschen Hochglanzprospekten der Sekte liest man, in einigen Dörfern habe man eigene Schulen gegründet. Wörtlich heißt es dort (Originalton): "Je nach Wohnort werden Kinder auch in häuslichen Bedingungen unterrichtet. In regelmäßigen Abständen legen die Kinder Prüfungen in den allgemein bildenden staatlichen Schulen ab. Im Dorf Tscheremschanka wird der Bau einer neuen Schule mit eigenen Händen und Mitteln der Gemeinschaftsmitglieder beendet. Die charakteristische Besonderheit des Unterrichts der Kinder in der Gemeinschaft ist die harmonische Verflechtung von allgemein bildenden Fächern mit Kunst­ und Handwerksfächern und die Entwicklung von kreativ schöpferischen Fähigkeiten der Kinder. Die Pädagogen­Meister lehren die Kinder durch ihre eigenen Werke Schönes zu schaffen und es den Menschen unentgeltlich zu schenken." (Kirche des Letzten Testaments, S. 9). Nicht­Sektenmitglieder, die hin und wieder Einblick haben, behaupten dagegen, sie hätten nichts bemerkt, was diese Schilderung bestätigte. - Jungendliche haben mit 14 Jahren das Recht, sich für einen Verbleib in der Sekte zu entscheiden.

Drei Hauptprobleme
Drei Faktoren bestimmen den Alltag des Sektenmitglieds:
- Die Ankömmlinge leiden unter unglaublichen Wohnverhältnissen. Sie hausen in Häusern der erwähnten acht Dörfer, mehrere Familien in einer Wohnung oder in einem Häuschen; manche Familien haben nur eine Ecke eines Zimmers; ein Teil der Neuankömmlinge lebt in Zelten - bei minus 50° im Winter und plus 40° im Sommer eine grauenhafte Strapaze. Zum Teil sind Neuankömmlinge gezwungen, weiter in die Umgebung auszuweichen, weil der nähere Umkreis des Sektengebietes keinen Wohnraum mehr bietet.
- Fehlende sanitäre Einrichtungen - auf dem eigentlichen Sektengebiet gibt es nicht nur keinen Strom, sondern in der Regel auch keine Kanalisation, keine Wasserleitung und erst recht keine Klosettanlagen.
- Als ungeheuer schwere Arbeit erweist sich der Bau der "Sonnenstadt", von der - wie erwähnt - zur Zeit etwa vierzig Häuser im Aufbau sind. Das eigentliche Sektenland ist völlig unerschlossenes Waldgebiet, es gibt keine Straßen, keine Wege - nur Trampelpfade. Die Häuser werden natürlich aus Holz errichtet. Nachdem ein "Apostel" den Baum mit der größten kosmischen Energie ermittelt und ihn zum Fällen bestimmt hat, wird er mit Äxten geschlagen. Allein der Transport des Holzes zum Trockenen Berg ist meist eine Tortur. Der gefällte Baum muß von den Sektenanhängern in der Regel über viele Kilometer zum Bauplatz auf dem Berg geschleppt werden - ohne technische Hilfsmittel, auf Trampelpfaden - im Winter durch meterhohen Schnee, im Frühjahr durch Schneematsch, im Sommer durch glühende Sonne.

Natursteuer
Jedes Sektenmitglied muß eine "Natursteuer" zahlen. Da es kein Geld gibt, muß jeder eine bestimmte Menge Getreide, Kartoffeln oder andere Produkte seiner eigenen Erzeugung als "Steuer" abliefern. Da man "vegan" lebt, gibt es überhaupt keine Viehzucht - weder zur Fleischgewinnung noch für Milchprodukte (Ausnahme vielleicht: Pferdezucht für Zugvieh). Das heißt: Jeder muß sich der arbeitsintensiven und anstrengenden Feldarbeit (Getreide­ und Fruchtanbau) widmen - ohne technische Hilfsmittel, ohne Strom; hin und wieder sind Sonnenaggregate zu entdecken.

Medizin und Diät
Eine medizinische Versorgung gibt es a priori nicht, das schreibt Vissarions Lehre von der absoluten Natürlichkeit vor. In dieses Problemfeld versucht die Gouvernementsverwaltung hineinzustoßen. Ein weiblicher Feldscher (Arztgehilfe) mit dürftiger Ausbildung und minimaler Ausrüstung darf nur in seltenen Fällen etwas Hilfe leisten. Das ist um so bedenklicher, als die veganische Lebensweise die Menschen sehr schwächt; insbesondere nach der zu leistenden Schwerarbeit.
Eines der Hauptprinzipien der Vissarionschen Lehre ist: "Seid fruchtbar und mehret euch!" Dabei scheint die Fixierung auf einen festen Partner nicht zwingend vorgeschrieben zu sein. Das scheint die prüden sibirischen Behörden zu beunruhigen - so wollen sie auch an diesem Punkt einhaken.
Obligatorisch scheint die UnterwasserEntbindung zu sein - in einem geweihten Zuber, der reihum benutzt wird. Ohne ärztliche Aufsicht ist ein solches Unterfangen lebensgefährlich, zumal bekanntlich auch keine Medikamente erlaubt sind. - Die Kindersterblichkeit soll groß sein. Eine klare Vorstellung darüber ist nicht möglich, weil die Sektenanhänger es ablehnen, sich amtlich erfassen ("registrieren") zu lassen, so daß weder Lebend­ noch Totgeburten bekannt werden. Verwunderte Sektenanhänger berichten, daß hochschwangere Frauen zuweilen kurzzeitig verschwinden und dann ohne Kind wiederkehren. Der Spekulation sind besonders in diesem Zusammenhang Tür und Tor geöffnet. - Auch dieser überaus bedenkliche Komplex bietet den Gouvernementsbehörden einen Grund, sich einzuschalten.
Wie es im Irkutsker Bericht über die religiösen Vereinigungen (siehe oben) heißt, müssen sich auch Schwangere und Kinder der extremen veganen Diät unterziehen; angeblich dürfen Säuglinge nicht an der Brust gestillt werden. Immerhin konstatiert dies ein amtlicher Bericht.
Regierungsdirektor Mark Denissow berichtet stolz, er habe in langwierigen Verhandlungen mit Torop­Vissarion erreicht, daß Schwangere und Kinder künftig Quark und ähnlich Stärkendes zu sich nehmen dürfen - die Frage bleibt aber, ob die Sektenführung dies ihren Anhängern in der Praxis auch wirklich gestattet.
Noch ein weiteres Zugeständnis hat Torop­Vissarion auf des Regierungsdirektors Drängen hin gemacht: Kinder der Sektenanhänger dürfen jetzt gegen Zeckenbisse geimpft werden. Das Sektengebiet ist berüchtigt wegen seiner Zecken (Holzböcken). Die hohe Kindersterblichkeit bei den Vissarion­Anhängern soll zum ganz erheblichen Teil auf Hirnhautentzündung beruht haben, die durch Zeckenbiß ausgelöst wurde. Wenn Kinder aber gegen Zeckenbiß geimpft werden dürfen, ist die Gefahr bis zum gewissen Grade gebannt.

Finanzquellen
Von hohem Interesse ist natürlich, wie sich die Sekte finanziert, da sie ja - abgesehen vom sicher nicht einträglichen Verkauf von Kunsthandwerk - keine regelmäßigen Finanzquellen hat. Zu Anfang der Bewegung stießen einige neureiche Aussteiger zu Vissarion. Sie hatten Hab und Gut verkauft, brachten all ihr Geld in die Sekte; sie waren in der Lage, sich ein Häuschen nahe dem Sektenland zu kaufen. Dieser Zustrom hat aufgehört.
- Jetzt kommen eher Angehörige der nicht begüterten Mittelschicht, die kaum Geld in die Sekte einbringen.
Wichtigste Finanzquelle der Sekte ist offenbar das Ausland geworden, namentlich Deutschland. Die Strategen erstellen äußerst geschickte und überzeugende Projektbeschreibungen für die Öko­Siedlung "Tiberkul" und haben Erfolg damit - bisher wenigstens ist viel ausländisches Geld in die Sekten­Kassen geflossen. Hinsichtlich der Adressaten haben die Sekten­Kassierer keine Hemmungen - selbst der deutschen staatlichen "Gesellschaft für technische Zusammenarbeit" (GTZ) wurden Werbematerial und Zahlungsaufforderungen zugeschickt.

Zielsetzungen?
Es ist gerätselt worden, ob hinter der Sektengründung (außer den von Torop genannten religiös­sozialen Gründen) irgendwelche andere - verborgene - Gründe stecken könnten. Die im folgenden aufgelisteten sind nicht in jedem Fall wirklich plausibel; sie sind aber interessant hinsichtlich der abenteuerlichen Vorstellungen, die Behördenvertreter und sonst mit dem Problem Befaßte mit der Sekte "Kirche des letzten Testaments" verbinden.
- Vielleicht wolle sich Torop­Vissarion (wie andere Sektengründer) an abhängig gemachten Mitglieden bereichern.
- Es gibt die Vermutung, daß das Land, das Torop­Vissarion für seine Sekte erworben hat, und weiteres Land, das er noch erwerben will, reich an Bodenschätzen ist. In diesem Falle wäre die ganze Sektenszene ein riesiges Theater, um bestimmte Ambitionen einiger Drahtzieher hinter Torop­Vissarion zu vertuschen. - Denissow hat sich mit den neuesten geologischen Karten versehen, um herauszufinden, ob es unter dem Sektenland tatsächlich Bodenschätze gibt. Sicher ist, daß auf dem "Trockenen Berg" eine weit überdurchschnittliche radioaktive Strahlung herrscht, die auf das Vorhandensein besonderer Metalle schließen läßt.
- Beträchtliche Geldeinnahmen werden aus dem internationalen religiösen Tourismus erwartet.
- Es gibt Experten, die meinen, die Vissarion­Sekte könne ein Riesenexperiment zum Test sozialer, religiöser und psychologischer Phänomene sein, eventuell würde das Experiment vom Ausland gesteuert; auch in diesem Falle wäre Torop­Vissarion eine Marionette.
- Eine Variante dieser Theorie wäre folgende: Torop­Vissarion steuere selbst dieses Experiment, um eine große Zahl esoterisch hochausgebildeter Menschen heranzuziehen und mit deren Hilfe immer größeren Einfluß zu gewinnen; vielleicht spukt in seinem und seiner Gefolgsleute die Idee einer Weltherrschaft.

Probleme der Behörden
Die Sekte "Kirche des Letzten Testaments" stellt nicht nur die Behörden des Kreises Kuragino, sondern auch die des Gouvernements vor wachsende Probleme. Die Vissarion­Sekte wird mehr und mehr als eine sozial­psychologische Zeitbombe gesehen. Heute fragt man sich natürlich, wieso die Kreisverwaltung der Sekte vor Jahren so weit entgegengekommen ist und ihr 250 Hektar Land überlassen und noch weiteres Land verpachtet hat.
Ausschlaggebend waren vermutlich in erster Linie bevölkerungspolitische Gründe: Die Landflucht macht sich überall in Rußland bemerkbar. Sodann trägt der katastrophal hohe Grad der Abtreibungen in Rußland erheblich zur Entvölkerung bei: Während man in Deutschland mit etwa 150 Abtreibungen auf 1000 Geburten rechnet, stehen in Rußland 1000 Geburten 1680 Abtreibungen gegenüber! So sinkt die Bevölkerungszahl Rußlands (2000: 145 Mio.) jährlich um 1 Mio. Dabei steht einem relativ starken statistischen Sinken der Gesamtbevölkerung ein enormer Anstieg bei den muslimischen Völkerschaften gegenüber. Auch im Kreis Kuragino befürchtet man eine verstärkte Zuwanderung muslimischer Volksgruppen - doch die sind absolut unerwünscht. So schien die Zusage der Führungsmannschaft der Vissarion­Sekte, einige Zehntausend Mitglieder - vorwiegend russischer Provenienz - einer ökologiebewußten religiösen Gruppierung anzusiedeln, der damaligen Kreisverwaltung höchst verlockend; und so überließ sie der Sekte jene 250 Hektar.

Die Sekte ist jetzt schon zehn Jahre in der Region Krasnojarsk ansässig; nach weiteren fünf Jahren könnte sie nach dem Religionsgesetz vom 1. Okt. 1997 als "Religiöse Organisation" mit allen Rechten einer juristischen Person/Körperschaft des öffentlichen Rechts registriert werden - damit hätte sie viel mehr Rechte als bisher und eine größere Autonomie gegenüber den Behörden.
Der Kreis Kuragino sieht gewaltige Ausgaben auf sich zukommen: Wenn sich die "Sonnenstadt" zu einer wirklichen Stadt mit einer größeren Einwohner­ und Gebäudezahl entwickelt, dann muß notwendige Infrastruktur geschaffenwerden: also Straßenanbindung, Strom, Wasser usw. - notfalls auch gegen den Willen der Sektenführung. Weder kann sich also die Sekte dagegen sträuben, noch kann sich der Kreis vor dieser Maßnahme drücken. Der Ausbau der gesetzlich erforderlichen Infrastruktur für "Ökopolis" würde drei bis vier Jahresbudgets des Kreises (Rayons) Kuragino aufbrauchen.
Mittlerweile hat sich noch ein anderes Problem gezeigt: Die Sektenmitglieder, vor allem die reichen der ersten Phase, haben im näheren Umfeld des eigentlichen Sektenlandes zahlreiche Häuser aufgekauft. Deren Preise sind mittlerweile um 30-50% gestiegen. Damit gerät das fragile soziale Gleichgewicht durcheinander: Kaum ein Einheimischer ist noch in der Lage, die hohen Preise, die jetzt für Häuser verlangt werden, zu zahlen. Jetzt könnte es passieren - und es gibt Anzeichen dafür -, daß die einheimische Bevölkerung abwandert und daß in absehbarer Zeit erhebliche Landstriche des Kreisgebiets von nachrückenden Sektenanhängern besetzt werden. Schon jetzt zeigt sich beispielsweise, daß die Landarbeiter auf Viehzucht treibenden Kolchosen fortziehen. Denn der mittlerweile große Anteil der Sektenleute unter der Bevölkerung des Kreises lebt vegetarisch, ist also kein Abnehmer von Fleischprodukten - und natürlich arbeitet auch kein Vissarion­Anhänger in der Fleischverarbeitung. Die Fleischproduktion, bis vor kurzem noch der Haupterwerbszweig im Kreisgebiet, ist nun weitgehend zusammengebrochen; aber von dort kamen die meisten Steuern! Wegen des Zuzugs der Sektenleute sind Miet­ und Kaufpreise von Wohnungen und Häusern im Kreisgebiet bedenklich angestiegenen; das hat viele Einheimische zum Wegzug bewogen. Viele meinen, dem Kreisgebiet drohe der wirtschaftliche Kollaps. Das sind nur wenige Beispiele, wie die Sekte gewachsene Strukturen zerstört.

Aus all diesen (und noch anderen) Gründen ist es das Bestreben der Regierung des Gouvernements Krasnojarsk, das wachsende Problem der Vissarion­Sekte in den Griff zu bekommen. Alle Vorgänger im Amt von Mark Denissow (bis zum Jahre 2000) haben die Brisanz der Situation vollkommen verkannt, haben sich lediglich über die "Spinner" lustiggemacht. Mark Denissow hat eine andere Einstellung: Er nimmt Sergej Torop und seine Anhänger sehr ernst; er versucht nichts mit Brachialgewalt - aber er verlangt von ihnen die Einhaltung der Gesetze.
Denissow meint, wenn er einen engagierten Staatsanwalt zur Seite hätte, wären schon längst einigen Sektenmitgliedern belangt worden: etwa in solchen Fällen, da Kinder wegen unterlassener (ärztlicher) Hilfeleistung gestorben sind. Der Generalstaatsanwalt des Kreises Kuragino jedoch reagiert auf Denissows Überlegungen wie ein typischer homo sovieticus: Ihm geht es allein um die Ideologie, nicht um das Individuum; Menschen außerhalb ideologischer Schablonen kann er nicht einordnen. "Bringen Sie mir den Beweis, daß diese Sekte eine teuflische oder staatszersetzende Ideologie vertritt - und ich bringe sie alle hinter Gitter!" Mit einer solchen Einstellung kann man natürlich einem vielschichtigen religiösen und psychologischen Phänomen wie dem der Vissarion­Sekte nicht beikommen.


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