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BERLINER DIALOG 26, 1-4 2002 - Epiphanias 2003

 DOSSIER

Im Berliner Dialog 4/2000 - Epiphanias 2001 brachten wir einen ersten Bericht von Alexander Dvorkin über Vissarion und seine Lehre sowie seine "Kirche des letzten Testaments". Wir dokumentierten auch eine Selbstdarstellung des vissarionitischen Öko-Projekts "Tiberkul".

Auch in Deutschland wirbt die neue Sekte, vor allem unter Aussiedlern und Emigranten aus den GUS-Staaten; erst im Herbst 2002 unternahm Sergej Torop "Vissarion" eine neue Reise, um deutsche Anhänger zur Übersiedlung nach Tiberkul zu motivieren. Da die Gruppe auch mit Landkommunen und Ökosiedlungen in Deutschland vernetzt ist, werden auch deutsche "Aussteiger" von der Gruppe und ihrem angeblichen Öko-Projekt angezogen. - Nachdem wir in der vorigen Ausgabe des Berliner Dialog die Lehre der "Kirche des Letzten Testaments", gegründet von Sergej Torop genannt "Vissarion" vorgestellt haben, berichten wir in dieser Ausgabe des Berliner Dialog über das konkrete Leben in der Sekte und über Probleme mit ihrem Umfeld.
- Wir beginnen unser Informationspaket zu Vissarion und seiner Sekte mit Eindrücken, die ein deutscher Besucher der Ökosiedlung in Tiberkul sammeln konnte und exklusiv für den Berliner Dialog notiert hat.
- Sodann gibt Gerd Stricker von der ökumenischen Schweizer Zeitschrift "Glaube in der 2. Welt" ("G2W") eine Einführung in die Problemlage. Er stellte uns auch die dann folgenden Berichte und Dokumente zur Verfügung, die z.T. auch in G2W veröffentlicht wurden. Es sind:
- Auszüge aus einem Handbuch über religiöse Vereinigungen, das in Irkutsk (1200 km südöstlich von Krasnojarsk) erschienen ist und über die Vissarion­Sekte einige aufschlußreiche - amtliche - Informationen gibt.
- Auszüge aus einem Beitrag in der Moskauer "Literatur­Zeitung", der sich etwas ironisch mit einigen Aspekten des Lebens innerhalb der Sekte befaßt.
- Eine Einschätzung des Phänomens "Kirche des Letzten Testaments" durch Propst Blümcke, der mit Vissarion­Leuten wenig beglückende Erfahrungen gemacht hat.
- Die Zusammenfassung eines dreistündigen Gesprächs, zu dem Regierungsdirektor Mark Denissow Propst Rudi Blümcke am 11. Mai gebeten hatte, führt vor Augen, wie besorgt die Regierung des Gouvernements die Situation mittlerweile einschätzt.
- Zum Schluß bieten wir eine Verordnung von Gouverneur Alexander Lebed (inzwischen tödlich verunglückt) zur Gründung einer Komission zur Entschärfung der Vissarion­Problematik sowie ein
- Konzeptionspapier von Mark Denissow, welche Maßnahmen ergriffen werden müßten, um die Situation in den Griff zu bekommen.

Eine neue russische Methode, den "Neuen Menschen" zu erschaffen
Einige Erlebnisse im Vissarion-Gebiet
Von N.N.

Im Juli 2001 waren wir vier Wochen im Kreis Kuragino /Russland, Sibirien, Krasnojarsk-Region) unterwegs. Drei Wochen davon lebten wir in dem Dorf Petropawlowka und eine Woche in der "Sonnenstadt" auf dem Trockenen Berg. Hier einige unserer Eindrücke:
1. Jede Lebensgeschichte, die uns die Sektenmitglieder erzählt haben, ist ein zerbrochenes Schicksal, eine zerstörte Familie, verlassene Kinder, Eltern und Verwandte, ist Armut, schwere Arbeit, Wohnungsmangel. Es gibt dort Menschen vom Fanatiker bis zum zufällig angereisten. Es kommt in ein und der selben Familie vor, daß der Mann an Vissarion glaubt, und die Frau nicht, oder umgekehrt. Es gibt Leute, die an Vissarion glauben, aber in die Gemeinde nicht eintreten wollen, denn sie wollen das bißchen Geld, das sie noch haben, für sich behalten. Es gibt Verzweifelte - wir haben eine Frau kennengelernt, die schon 8 Jahre dort wohnt, acht Jahre weint, fort will, aber nicht kann, denn ihr Mann ist ein Fanatiker und sie selbst hat keinen einzigen Rubel und keinen Ort, wo sie hinfahren könnte. Die Zahl der Aussteiger wächst. Es gibt Leute, die alles verkaufen und fort fahren.
2. Die Sektenmitglieder sind wegen der extremen, veganen Diät unterernährt, ausgemergelt, geschwächt, besonders die Kinder. Viele haben Rachitis. Es gibt immer mehr Tuberkulosekranke und Hirnhautentzündungen durch Zeckenbisse. Überall herrschen völlig unhygienische Verhältnisse.
3. Die "Sonnenstadt" liegt in einem Sumpf in der Taiga. Viele holen sich das Trinkwasser einfach aus einem Loch im Sumpf. Es gibt keine Entwässerung und keine Müllentsorgung.
4. Alle haben ein "Bio-Klo" im Hof. Die Exkremente werden in einem Eimer gesammelt und als Nachdüngung verwandt. Deshalb riecht es oft in der "Sonnenstadt" nicht nach Taigadüften... Die Leute sind dazu auch gezwungen, denn sie essen kein Fleisch, haben kein Vieh und daher keinen anderen Mist und Dünger außer den eigenen Absonderungen. Und Ohne Dünger wächst auf dem dürren Taigaboden nichts.
5. Eine regelrechte Plage sind die blutsaugenden Insekten aller möglichen Art. In den warmen Jahreszeiten kann man sich außerhalb der Wohnung kaum ohne Mückennetz bewegen.
6. Viele wenden die "Urintherapie" an und trinken im Laufe des Tages einige Gläser von eigenem Urin.
7. Wir haben viele Verstöße gegen Unfallverhütungsvorschriften und ihre Folgen gesehen.
Beispiele:
Wir haben Leute gesehen, die sich die Finger mit einer Kreissäge abgeschnitten hatten.
Wir haben einen Mann gesehen, der beim Tempelbau aus 20 m. Höhe heruntergefallen ist, sich schrecklich verletzte und heute ein Invalide ist.
Und niemand versorgt diese Leute, zahlt Krankengeld oder Invalidenrente.

Als wir von Petropawlowka zur "Sonnenstadt" fahren wollten, mußten wir in einen Kasten-LKW einsteigen. Insgesamt waren wir 110 (!) Personen, die in einem Kasten zusammengepreßt stehen mußten. Und dazu hatte noch jeder 2-3 Säcke mit Kleidung und Nahrungsmitteln bei sich, denn auf dem Berge muß sich jeder selbst verpflegen. Die Qualfahrt auf der unbefestigten Land-Wald-Bergstraße dauerte zwei Stunden für etwa 40 Kilometer. Diese Fahrten werden von der Vissarion-Gemeinde organisiert, um frische Bauarbeiter nach oben zu befördern. (So kommen aber auch die Gläubigen und Gäste zum Gottesdienst. Der findet einmal wöchentlich sonntags in Form einer Art Prozession zu 14 Haltepunkten statt und endet immer im Tempel, den aber nicht alle betreten dürfen.)
8. Die meisten Bewohner der "Sonnenstadt" haben noch keine vernünftige Unterkunft und wohnen in Zelten, die mehr schlecht als recht winterfest gemacht worden sind. In ihrer Mitte steht ein kleiner eiserner Ofen, an den Zeltwänden sind Liegepritschen aufgebaut, in der Ecke ein hängendes Waschbecken, ein Tischchen. Hier müssen sie leben: schlafen, sich waschen, sich das Essen kochen...
9. Die Sektenmitglieder nennen sich "Ökosiedlung Ökopolis" und holzen dabei die Taiga erbarmungslos aus. Die Birken als Brennholz, die Zedern, Kiefern und Tannen zum Bauen. Nach den Zedern wird förmlich gejagt. Um ein kleines Häuschen zu bauen, braucht man mindestens 100 reife, dicke Bäume und 150-200 junge Bäume für den Zaun und einen offenen Schuppen. - Wir haben keine einzige Waldnachpflanzung gesehen.
10. In der Sekte kann ein Mann eine zweite Frau ins Haus bringen, wenn die erste nichts dagegen hat. Und das geschieht nicht selten. Vissarion läßt die Bigamie zu.
11. Hunde sind in der Sonnenstadt verboten. Nur er selbst, Vissarion, kann sich einen leisten: einen schokoladenbraunen, gepflegten Setter, der in Vissarions Haus lebt. Der große "Chef" kann sich auch an Essen, Trinken und anderen Lebensbequemlichkeiten das leisten, wovon seine einfachen Anhänger nichts sehen.
12. Insgesamt schätzen wir dieses "Experiment" an lebenden Menschen als eine verbrecherische Utopie ein, als ein freiwilliges Zuchthaus.


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