Seite 5-8 weiter Seite 9 (10 KB) Start-Seite 1

BEITRÄGE

BERLINER DIALOG 14, 3-1998 - Advent

Religion "vor Ort"
Religionstopographische Untersuchungen im Spannungsfeld von Religionswissenschaft und Theologie
von Matthias Pöhlmann

In diesem Beitrag für den BERLINER DIALOG möchte ich Zielsetzung und Durchführung des Erlanger religionstopographischen Projektes darstellen, Beobachtungen im religiösen Mikro-kosmos Erlangens schildern und abschließend auf die Bedeutung der Missions- und Religionswissenschaft für die apologetische Praxis von Theologie und Kirche eingehen.
(Bearbeitete Fassung eines Vortrages, den Dr. Matthias Pöhlmann im Rahmen einer Tagung der "Konsultation Landeskirchlicher Beauftragter (KLB)" des Dialog Center International am 11. März 1998 in Wildbad Rotenburg o.T. hielt.)

Religiöser Pluralismus als Herausforderung für Theologie und Kirche
In den vergangenen Jahren mehren sich die Stimmen, die nach theologisch verantworteten Wegen für Kirche im neuzeitlichen religiösen und weltanschaulichen Pluralismus rufen. Auf dem VIII. Europäischen Theologenkongress 1993 in Wien, der sich dem Thema Pluralismus und Identität beschäftigte, stellte der Hallenser Theologe Helmut Obst in seinem Referat fest: "Die christlichen Kirchen verlieren zunehmend ihr Religionsmonopol. Der religiös-weltanschauliche Pluralisierungsprozeß verstärkt sich ... Das Nachlassen der institutionellen Bindekraft des verfaßten Christentums mündet überall in einen zunehmenden Pluralismus religiöser Deutungssysteme. Das Tempo dieses Prozesses wird wesentlich von der wirtschaftlichen Entwicklung und der damit verbunden Veränderung des bisherigen Milieus und der traditionellen Lebensformen bestimmt. Nirgends wird eine Kirche das religiöse Monopol wahren können."(1) Deshalb fordert Obst: "Christlicher Glaube muß in einer echten missionarischen Situation wieder argumentativ begründet werden. Diese Fähigkeit muß von der evangelischen Theologie in ihrer Breite erst wiedergewonnen werden, das verlangt eigene klare theologische Positionen, systematisch umfassende und stringente theologische Deutungsmodelle und die Beachtung und Auswertung der missionarischen Erfahrungen der weltweiten Kirche. Unsere Theologie hat den Schritt in die religiös-weltanschaulich plurale Gesellschaft, wie sie tatsächlich existiert, noch nicht wirklich getan."(2)

Auch die Kirchenleitungen stellen sich auf einen "Abschied vom Monopoldenken" ein. So kommt die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft mit dem Titel "Fremde Heimat Kirche" aus dem Jahr 1997 zu dem Ergebnis: "Das Christentum befindet sich heute in einer verschärften Konkurrenzsituation. Der Konstantinismus, die Staatskirchlichkeit hatte ihm bis in unser Jahrhundert hinein ein Monopol verschafft. Demgegenüber hat sich die Lage grundlegend geändert. Das Verhältnis von kirchlicher Institution und individueller Frömmigkeit hat sich auseinanderentwickelt. [...] Daneben gibt es heute eine Vielzahl religiöser und quasireligiöser Konkurrenten. Medien und Globalisierung haben andere Religionen in allen Kulturkreisen präsent gemacht. Fernöstliche Religionen oder der Islam üben nicht nur die Faszination des Exotischen aus, sondern sind auch nicht mit den Hypotheken der Christentumsgeschichte, die in der Religionskritik aufsummiert werden, belastet. Daneben stehen neue Religionen, Jugendsekten, vor allem aber auch 'verkappte Religionen' (Carl Christian Bry), die eine Art Religionsersatz bieten: Lebensreform und Wissenschaftsglaube, Psychologie und Esoterik, politische Ideologien und soziale Bewegungen, welche erhebliche Lebensenergien freisetzen können. Das ganze Leben kann um die Arbeit oder die Familie, um wirtschaftlichen Erfolg oder Popularität und Macht kreisen."(3)

Die Herausforderung der Kirchen durch die Neuen Religionen wird derzeit kontrovers diskutiert. Während die einen insbesondere von religionswissenschaftlicher Seite - die angebliche "Monopolstellung kirchlicher Informationsvermittlung über nicht-christliche Religionen"(4) und "die Ausgrenzung und Diskreditierung sozial- und religionswissenschaftlicher Forschungsergebnisse"(5) durch die kirchlichen Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen beklagen, fordern andere den Dialog mit neuen Religionen ein (6) und organisieren teilweise auch einen runden Tisch mit den Bewegungen (7), ohne allerdings die dabei aufgeworfenen theologischen Probleme genügend zu reflektieren bzw. Danach zu fragen, welche Motive das Gegenüber zur Teilnahme an solchen Dialog-Veranstaltungen bewegen. Mit Blick auf die erste Richtung möchte ich von einer dezidiert anti-apologetischen Haltung sprechen, die allerdings nicht oder nur verzerrt die theologischen Beiträge zur Wiedergewinnung einer praktischen Apologetik zur Kenntnis nimmt (8). Im zweiten Fall läßt sich auch bei den Dialog-Veranstaltungen fragen, ob dabei der Dialog nicht selbst schon das Ziel ist; und es bleibt offen, was 'Dialog' ist und inwieweit christliche Identität in einen solchen Dialog überhaupt eingebracht werden kann und soll. Andere betrachten den in der evangelischen Theologie mit allerlei Hypotheken belasteten Begriff Apologetik als Möglichkeit, die denkerische Auseinandersetzung mit anderen religiösen und weltanschaulichen Entwürfen voranzutreiben. Apologetik wird dann zur Form der religiösen Aufklärung, die nicht nur als Aufgabe von bestimmten Spezialisten, sondern als grundlegende und umfassende Aufgabe der ganzen Kirche verstanden wird. Die Rechenschaftsablage christlichen Glaubens wendet sich nach außen, aber auch nach innen, vor allem wenn es um die theologische Klärung eigener Positionen angesichts weltanschaulicher Herausforderungen geht. Gefragt sind auch praktikable Vorschläge, wie die christliche Kirche ihrer apologetischen Aufgabe im religiösen Pluralismus gerecht werden kann. Hier können auch Beobachtungen "vor Ort" weiterhelfen.

Das Projekt "Sehnsucht nach Heil" in Erlangen
Im folgenden möchte ich Ihnen kurz die gemeinsam mit Studierenden erarbeitete und von mir herausgegebene Broschüre "Sehnsucht nach Heil" über verschiedene religiöse Strömungen in Erlangen vorstellen.
Unsere Veröffentlichung ist keine Buchpublikation, sondern ist vom Genre her eher der Form der apologetischen Kleinpublizistik zuzuordnen. Die Broschüre(10), Ende 1997 in vierter, volllständig erweiterter und aktualisierter Auflage erschienen, möchte kurz über die alten und neuen Sinnanbieter in der mittelfränkischen Großstadt Erlangen informieren und orientieren.

Entstehungsgeschichte
Information und Orientierung, Begegnung und Auseinandersetzung: Das waren die Zielvorgaben, mit denen im Sommersemester 1994 unter meiner Leitung einer Lehrveranstaltung zum Thema "Sekten - Neureligionen - Religiöse Bewegungen" am Lehrstuhl für Missionsund Religionswissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg stattfand. Wir hatten verschiedene Vertreter/innen christlicher Sondergemeinschaften zu Gast, mit denen die Studierenden diskutierten, darunter die Christengemeinschaft, die Mormonen sowie eine Begegnung mit einem Vertreter aus dem Bereich der esoterischen Lebenshilfe. Intensiv hatten wir uns jeweils mit der Lehre und der Praxis der jeweiligen Gruppierungen befaßt. Das Studium der Schriften, der Quellen und der kritischen Literatur, ist eine Seite, die Begegnung und Auseinandersetzung mit Repräsentanten dieser Gemeinschaften eine andere. So hatten die verschiedenen Anhänger der religiösen Gemeinschaften jeweils die Möglichkeit, ihren Glauben und ihre Gemeinschaft vorzustellen. Hier war es nötig, eine Vorauswahl der religiösen Gemeinschaften zu treffen. Die Zeugen Jehovas standen für eine solche Veranstaltung von sich aus nicht zur Verfügung und lehnten eine Teilnahme ab.
Aus dem Teilnehmerkreis dieser Veranstaltung ist eine Arbeitsgemeinschaft von sehr interessierten und engagierten Studierenden hervorgegangen, die sich weiter mit dem Bereich beschäftigen wollten. Unter den Mitgliedern dieses Teams befanden sich nicht nur Theologiestudierende, sondern auch eine angehende Juristin und eine angehende Sozialpädagogin. Dabei entstand die Idee, zunächst einmal die religiöse Landschaft Erlangens zu erkunden. Dies geschah über ein Jahr hinweg durch Sammeln von Material, Durchforsten des Telefonbuchs, Studium der Kleinanzeigen in Tageszeitung und Stadtzeitung, Handzetteln und Aushängen in der Mensa oder in verschiedenen Studentenlokalen. "Teilnehmende Beobachtung", Besuche vor Ort, vor allem Gottesdienste und Vorträge bei den einzelnen Gemeinschaften, schlossen sich an. Dabei gelang es, mit den einzelnen Vertretern der alten und neuen Sinnanbieter ins Gespräch zu kommen.
Im weiteren Verlauf kam die Idee auf, die Ergebnisse unserer Recherchen in Form einer Broschüre zu publizieren. Dankenswerterweise erklärten sich die Erlanger kirchlichen Bildungswerke dazu bereit, das Projekt vorzufinanzieren. Auf diese Weise gelang es, unsere Broschüre Anfang Februar während zweier Veranstaltungen zum Thema vorzustellen. Bereits nach wenigen Wochen war die Erstauflage vergriffen. Die Nachfrage übertraf, muß ich zugeben, all unsere Erwartungen.

Trends im religiösen Mikrokosmos
Im Ballungsraum der drei fränkischen Städte Erlangen/Fürth/Nürnberg zeigt sich eine mannigfaltige, zum Teil auch schnellebige religiöse Szene. Sie umfaßt verschiedene Milieus. Besonders schnell entwickelt und ausdifferenziert hat sich hier zum einen das charismatisch-neupfingstlerische Spektrum, zum anderen aber auch der Bereich der Esoterik bzw. der verschiedenen Lebenshilfe- und Lebensbewältigungsangebote. Beide Bereiche weisen bei aller Differenz phänomenologische Gemeinsamkeiten auf. Hier wäre besonders auf die Erlebnisorientierung einzelner Angebote hinzuweisen. Hier hat man auch von einer hohen Fluktuationsrate auszugehen: Gemeindeneugründungen, -abspaltungen, Wanderungsbewegungen bzw. Neuorientierungen: Anhänger suchen sich neue Angebote. Die Mobilität einer Gesellschaft spiegelt sich auch in diesen Prozessen wider.
Zum anderen läßt sich auch für den Großraum Erlangen/Fürth/Nürnberg feststellen: Neuzeitliche Esoterik ist ein städtisches Phänomen.
In gewisser Weise handelt es sich bei den verschiedenen Angeboten, die vor allem in den 80er Jahren unter dem Oberbegriff "New Age" subsumiert wurden, um eine Art religiöse Subkultur, die sich seit den siebziger Jahren von den USA und später dann in Westeuropa, insbesondere in der Bundesrepublik, ausbreitete. Von dieser facettenreichen Bewegung sind vor allem Groß- und Mittelstädte betroffen: "Meditationszentren, esoterische Fachbuchhandlungen und spirituelle Therapeuten konzentrieren sich im großstädtischen Milieu, wo ein interessiertes und zahlungskräftiges Publikum zu finden ist. Trifft man sie in ländlichen Regionen an, dann handelt es sich nicht selten um Dependancen städtischer Institutionen, die was Klientenkreis und Informationsvermittlung angeht - nur in engster Verknüpfung mit der Stadt lebensfähig sind."(11)
Diese Beobachtungen treffen im weitesten Sinne auch für den Großraum Erlangen-Fürth-Nürnberg zu. Die EsoterikSzene weist typische Kennzeichen auf:

a) Sie ist dezidiert synkretistisch, d.h. in der Szene kommt es immer wieder zu einer Vermischung verschiedener Religionen und religiöser Systeme. Es werden Anleihen aus unterschiedlichen religiösen Systemen der Wissenschaft, der Philosophie und Psychologie gemacht und kosmische Bezüge hergestellt. Im Hintergrund werden die synkretistischen Elemente zu einem Weltbild eines neuen spirituellen und bewußten Menschen verklammert. Der einzelne wird ermutigt, seinen eigenen Weg in eigener Verantwortung zu gehen. Man möchte zum Höheren Selbst gelangen, kosmisches Bewußtsein erreichen, den "Guru" in sich selber finden. Darin spiegelt sich die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit wider.
b) Ein weiteres Kennzeichen ist die nichtdogmatische Tendenz. Hier werden alle religiösen Wege Praktiken akzeptiert und ausprobiert. "Es gibt so viele Wege wie Menschen."
c) Schon längst geht es hier nicht nur um Religion. In der großstädtischen Esoterik-Szene fällt auf, daß Religion nicht mehr im Vordergrund steht, sondern zur Unterfütterung alternativer therapeutischer Angebote dient. In manchen Fällen kommen die Angebote dem Wunsch nach Erlebnis und Unterhaltung entgegen.
d) Die alternativ-religiöse Szene ist sehr schnelllebig: Anbieter verschwinden, neue kommen hinzu. Somit ist für den großstädtischen Bereich eine enorme Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der Angebote festzustellen. Die Marktorientierung bleibt zumindest im Blick auf Esoterik-Messen ein wichtiges Charakteristikum.
e) Auch im Bereich der neupfingstlerischcharismatischen Bewegungen spielt der Erlebnischarakter eine große Rolle. Die in den letzten Jahren stark angewachsenene Zahl neuer Gemeindegründungen spricht dafür, daß wir es insbesondere mit einen großstädtischen Phänomen zu tun haben. Während sich die alten Sinnanbieter (religiöse Sondergemeinschaften) kaum wandeln und deren Anhängerzahl weitgehend konstant bleibt, sind nach meinen Beobachtungen charismatische Gemeinden im Blick auf ihre Sympathisanten und Mitglieder einer relativ hohen Fluktuation ausgesetzt. Hier kommt es nicht selten zu Wanderungsbewegungen bzw. zu Neugründungen, wenn die Gemeinde zu groß zu werden und die Nestwärme abhanden zu kommen droht.
f) Eine wichtige Funktion für die religiöse Szene haben auch in dem von uns untersuchten Großraum EsoterikMessen. 1988 fanden in Berlin, Hannover und Hamburg die ersten esoterischen Messen, meist in Zusammenhang mit New Age-Kongressen, statt. Initiiert wurden sie von Autoren und Mitgliedern des sog. New Age-Netzwerkes, das sich für einen Bewußtseinswandel in Wissenschaft und Politik einsetzt. Esoterik-Messen haben seit Anfang der 90er Jahre auch in anderen Städten ihren festen Platz. Sie werden von kommerziellen oder anonymen Agenturen oder lokalen Veranstaltern durchgeführt. In Erlangen finden seit etwa 1993 Esoterik-Messen des Veranstalters pro expo in Füssen statt. Hier versuchen auch neue religiöse Anbieter vor Ort Fuß zu fassen (Sonderveranstaltungen, Workshops). Im Umfeld der Esoterik-Messen ist es der Gröning-Bewegung wie auch in anderen Städten Deutschlands gelungen, einen Freundeskreis in der Stadt zu gründen.

Was unsere Broschüre leisten kann - und was nicht:
Auf religiösem Gebiet ist eine neue Unübersichtlichkeit anzutreffen. Darstellungen bzw. Überblicke zu religiösen Bewegungen in bundesdeutschen Städten liegen bereits vor: Hamburg, Essen und Marburg. Sie haben das Ziel, die verschiedenen Bewegungen zu beschreiben und verzichten bewußt auf eine kritische Einschätzung. Diese umfangreichen Publikationen haben insofern ein anderes Anliegen als die Erlanger Broschüre, die eher der apologetischen Kleinpublizistik zuzurechnen ist. Sie hat einen apologetischen Einschlag, möchte den christlichen Glauben mit anderen Glaubenssystemen in Bezug setzen. Unser Ansatz ist nicht voraussetzungslos, sondern versucht, apologetisches Profil zu zeigen und dabei bestimmte Kriterien unseres Vorgehens und unserer Einordnung zu entwickeln.

Alte und neue Sinnanbieter neben den Kirchen "vor Ort" in den Blick nehmen
Es handelt sich bei der Broschüre nicht um kein Kompendium, weder um gelbe Seiten noch um eine schwarze Liste. Sie beansprucht nicht, die religiöse Lage einer Stadt wie Erlangen vollständig zu erfassen. Hierfür wären weitere empirische Untersuchungen vonnöten. Aber es ist gedacht für Gemeindeglieder, für Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch für die breitere Öffentlichkeit, für Interessierte, die sich einen groben Überblick über die religiöse Szene Erlangens verschaffen möchten. Die Reaktionen zeigten, daß Menschen immer wieder erstaunt waren, welche Gruppen in Erlangen präsent sind. Manche hatten schon von ihnen gehört, wollten aber weitere Informationen darüber haben. Es bleibt die Frage allerdings offen, ob man damit religiöse Kleinstgruppen nicht publizistisch aufwertet und ihr einen sehr viel größeren Bekanntheitsgrad zumißt.

Information
Immer wieder begegnen Menschen religiösen Sinnanbietern, wissen aber wenig über die Hintergründe, über Lehre, Praxis und Struktur der verschiedenen Gemeinschaften. Wir haben uns bemüht, in Kurzform die jeweiligen Hintergründe darzustellen mit Hilfe von Originalmaterial, aber auch mit kritischer Literatur. Sie wird jeweils getrennt am Ende jedes Artikels genannt. Leser/in kann sich somit, falls gewünscht, intensiver mit einzelnen Gruppen beschäftigen oder Informationen direkt dort abrufen (Adressen). Wir wollten keine reinen Selbstdarstellungen, kein "Anzeigenblatt für religiöse Anbieter" konzipieren, sondern auch Wert legen auf das Moment der Orientierung. Insofern handelt es bei diesem Projekt weder um "gelbe Seiten" noch um eine "schwarze Liste".

Orientierung
Daran schließt sich der nächste Schritt an. Menschen bedürfen der Orientierung in unübersichtlicher Zeit. Christinnen und Christen können dadurch zur Kenntnis nehmen, daß eine Stadt wie Erlangen auch religiös nicht mehr homogen geprägt ist. In der Begegnung mit anderen Glaubensvorstellungen können sie auch für ihren eigenen Glauben lernen, ihn in der Begegnung und Auseinandersetzung zu vertreten. "Rechenschaft zu geben" über die Hoffnung, die in uns ist, ist für christlichen Glauben eine bleibende Aufgabe, nicht nur für Theologinnen und Theologen, sondern für alle Christinnen und Christen. Damit stellt sich auch die Frage, inwiefern die apologetische Kompetenz in den Gemeinden und im Theologiestudium gestärkt werden kann.

Stärkung der apologetischen Kompetenz
in den christlichen Gemeinden
und in der theologischen Ausbildung - Perspektiven
Dialog und Orientierung, Begegnung und Auseinandersetzung - damit sind die Aufgabenfelder umrissen, vor die die Kirchen und die christliche Theologie an der Schwelle zum dritten Jahrtausend gestellt sind. Die Kirche darf die Vielzahl moderner Suchbewegungen nicht unbeachtet lassen. Motive und Hintergründe der "Sehnsucht nach Heil" bedürfen eingehender Analysen. Die von Theologen aufgestellte Prognose eines religionslosen Zeitalters haben sich nicht bewahrheitet. Religion ist "in". Auch in diesem Bereich wirft die "Erlebnisgesellschaft" ihre Schatten. Die Kirchen müssen zur Kenntnis nehmen, daß sie in eine multireligiöse Situation gestellt sind, in der es viele neue Sinnanbieter gibt. Dies fordert die christlichen Kirchen auf zweierlei Weise heraus:

- Zum einen: Christinnen und Christen sind mehr denn je darauf angewiesen, religiöse Angebote einordnen zu können. Gefragt sind Information und Orientierung, aber auch die Bereitschaft, die eigene Glaubenstradition zu befragen, neu zu entdecken und zu vertreten. Auf diese Weise kann es in der Auseinandersetzung mit den religiösen Angeboten der Zeit gelingen, den eigenen Glauben authentisch in das Gespräch einzubringen und so Rechenschaft ablegen zu können über die Hoffnung, die in uns ist (1. Petrusbrief 3,15).
- Zum anderen: Der theologische Fachbegriff für diese Rechenschaftsablage heißt "Apologetik". Sie ist von den Kirchen, von Christinnen und Christen, immer gefordert. Sie mischt sich kritisch, auch selbstkritisch, in das Gespräch mit der Zeit ein. Es geht hier nicht um Konkurrenz, nicht um Neid. Als "Diakonie des Denkens" hat die kirchliche Apologetik in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht ein publizistisches Mandat. Sie bleibt darauf aber nicht beschränkt. Apologetik kann in Verkündigung ebenso wie in Seelsorge und Unterricht oder Erwachsenenbildung geschehen - überall dort, wo Menschen in das Gespräch über den Glauben kommen.

Was not tut, ist auch eine Vermittlung apologetischer Kompetenz in der theologischen Ausbildung. Vor kurzem hat sich der Heidelberger Religionswissenschaftler Theo Sundermeier grundlegend über "Die Bedeutung des Faches Religionsund Missionswissenschaft für das Studium der evangelischen Theologie und die kirchliche Praxis"(12) geäußert. Er spricht sich für die enge Verzahnung von Missions- und Religionswissenschaft in der theologischen Wissenschaft aus.(13) Religionswissenschaft wird innerhalb der Theologie als theologisches Fach verstanden und gelehrt. Sundermeier stellt fest: "Auf die wachsende Präsenz der Weltreligionen(14) in Nachbarschaft und Schule, in Wirtschaft und Politik werden Theologiestudierende bisher in der Regel nicht vorbereitet, weder kognitiv, seelsorgerlich und didaktisch noch missionarisch... Was Begegnung, Dialog und was Zeugnis im Verhältnis zu anderen Religionen ist, muß dringend Teil des Lehrplans für das Theologiestudium werden. Daß die Begegnung mit einer anderen Religion auch zu einem neuen und vertieften christlichen Selbstverständnis führt - die Wahrnehmung dieser Chance wird vertan." Auch die Auseinandersetzung mit religiösen Sinndeutungsentwürfen und Weltbewältigungsversuchen muß vorangetrieben werden. Es geht dabei um Leben, Heilung Ganzheit mit spirituellen Mitteln, die dem unmittelbaren Welt- und Naturerleben entstammen: "Sie ist nicht nur in den sog. neuen 'Sekten' lebendig, sondern greift über die Esoterik tief in das persönliche Glaubensleben vieler Gemeindeglieder ein. Die Bedeutung dieses Phänomens wurde bisher weder in der Religionswissenschaft noch in der Theologie angemessen wahrgenommen."(15) Die Religionswissenschaft bedarf in der theologischen Wissenschaft der Missionswissenschaft, denn in dieser Kombination erinnert sie, die Missionswissenschaft, daran, "daß die Religionswissenschaft nicht zur antiquarischen Wissenschaft verkommt, und ihre 'theologische' Grundierung nicht vergißt."(16)

Dieser "theologischen Grundierung" fühlt sich auch das Erlanger Projekt verpflichtet. Die Begegnung mit dem Anderen führt auch zu Rückfragen an die eigene Identität. Solche Identität in einer Begegnung mit Neuen Religionen und weltanschaulichen Gruppen ist eine bleibende Aufgabe theologisch verantworteter Apologetik im Sinne der Rechenschaftsablage. Apologetik ist niemals reiner Selbstzweck. Sie nimmt auch ein gesellschaftsdiakonisches Mandat wahr. Als apologetisch bedeutsame und gleichermaßen gesellschaftsdiakonisch orientierte Leitlinien könnte man die Aussagen bewerten, die Richard Schröder am Ende seines Vortrags auf dem Theologenkongreß 1993 zu der Frage vortrug, welchen Beitrag die Kirche für eine pluralistische Gesellschaft leisten könne: "An dieser Stelle hat auch die Kirche eine gesellschaftliche Funktion, die zwar nicht ihre Existenzberechtigung begründet, die aber von ihr erwartet werden kann. Wenn die Kirche bei ihrer Sache bleibt, dann müßte sie zugleich ein Ort sein, an dem Fragen der Lebensorientierung gründlich besprochen werden in der Spannung von Situation und Tradition. Und sie müßte ein guter Ort sein für das Gewissen, für das betrübte Gewissen, das Trost sucht, für das irrende Gewissen, das Orientierung braucht, und für das eigensinnige Gewissen, das der Zurechtweisung bedarf."(17)

Anmerkungen
1 H. Obst, Religiöser Pluralismus und die Praxis der Theologie. Dialogmodelle und Apologetik, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität, Gütersloh 1995, 180.
2 Ebd., 183.
3 K. Engelhardt/H. von Loewenich/ P. Steinacker (Hg.), Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1997, 350.
4 M. Baumann, 'Merkwürdige Bundesgenossen' und 'naive Sympathisanten'. Die Ausgrenzung der Religionswissenschaft aus der bundesdeutschen Kontroverse um neue Religionen, in: ZfR 3 (1995), 111-136, hier: 113.
5 Ebd., 117.
6 Vgl. etwa die Forderung von P. Gerlitz, Art. Neue Religionen, in: TRE 24 (1994), 311: "Allerdings haben - aufs Ganze gesehen die christlichen Kirchen bisher weder die mit dem Auftreten der neuen Religiosität gegebenen Herausforderungen noch die damit verbundenen Chancen genügend wahrgenommen. Häufig wird die Existenz der Neuen Religionen immer noch verkannt, verdrängt oder ignoriert. [...] Der interreligiöse Dialog hat noch nicht begonnen."
7 Vgl. hierzu die von dem Beauftragten für neue religiöse Bewegungen und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Fritz Huth, herausgegebene Zeitschrift für Religionskultur, Heft 1 (1997), die die Beiträge einer Tagung in der Evangelischen Akademie Arnoldshain (9.-10.11.1996) dokumentiert. Dort wird auch das Referat der Münchner Religionswissenschaftlers Michael von Brück über "Zum Begriff der Religion und zur Macht der Definition" wiedergegeben. So heißt es dort: "Er (sc. von Brück) sagte, der Umgang mit 'neuen religiösen Bewegungen' solle in der Form eines öffentlichen, transparenten Diskurses geschehen. Deshalb brauche es Regeln für diesen Diskurs und Institutionen für das Gespräch auf allen Ebenen der Gesellschaft. Er schlug dazu 'runde Tische' vor. Diese 'Runden Tische' würden einen Druck zur Öffentlichkeit erzeugen. ... Aufgabe der 'Runden Tische' sei 1. Aufklärung und Herstellung von Transparenz durch Information über die einzelnen Gruppen. 2. Klärung der Kriterien, was im religiösen Bereich als akzeptabel und nicht akzeptabel gelten könne. Dabei sollten neben kirchlichen Beauftragten sowie den Vertretern anderer in Deutschland präsenter Religionsgemeinschaften auch relativ neutrale Vermittler mit religionswissenschaftlicher und juristischer Kompetenz mitarbeiten" (F. Huth, Einleitung, in: Zeitschrift für Religionskultur 1/1997, o.S.).
8 Vgl. hierzu die Beiträge aus jüngerer Zeit: R. Hummel, Mission, Dialog und Apologetik, in: ZfM 29 (1993), 211-226. G. Küenzlen, Kirche und Zeitgeist. Überlegungen zu Grundfragen kirchlicher Apologetik, in: Materialdienst der EZW 52 (1989), 99-112. H. Ott, Apologetik des Glaubens, Grundprobleme einer dialogischen Fundamentaltheologie, Darmstadt 1995. W. Thiede, Apologetik und Dialog. Plädoyer für eine Synthese, in: Materialdienst der EZW 55 (1992), 281-296.
9 H. Meldgaard/J. Aagaard (Hg.), New Religious Movements in Europe, Aarhus 1997.
10 M. Pöhlmann (Hg.), Sehnsucht nach Heil. Neupfingstlerisch-charismatische Bewegungen, Sondergemeinschaften, Sekten, Neureligionen, Esoterische Weltanschauungen und Bewegungen, Psychogruppen, Angebote für Lebensbewältigung und Lebenshilfe in Erlangen, Selbstverlag des Evangelischen und des Katholischen Bildungswerkes Erlangen, Erlangen 41997. (Die Publikation kann dort für 7.- DM bezogen werden: Tel. 09131/20012, Fax 204562).
11 G. Welz, Urbanität und Spiritualität: New Age als städtische Subkultur, in: I.-M. Greverus/G. Welz (Hgg.), Spirituelle Wege und Orte. Untersuchungen zum New Age im urbanen Raum (= Schriftenreihe des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt/M., Bd. 33), Frankfurt/Main 1990, 9.
12 ZfM 23 (1997), 263-268.
13 Ebd., 267.
14 Ich möchte an dieser Stelle ergänzen: "und die neuen religiösen Bewegungen".
15 Ebd., 265.
16 Ebd., 267.
17 R. Schröder, Überzeugung und Bedürfnis. Zur Anthropologie des Pluralismus, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität, Gütersloh 1995, 99.

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, 36, ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Missions- und Religionswissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg; 1997 Promotion mit dem Thema "Publizistische Apologetik. Die Auseinandersetzung der 'Apologetischen Centrale' mit religiösen und weltanschaulichen Bewegungen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich" (erschienen unter dem Titel "Kampf der Geister"). Die Publizistik der 'Apologetischen Centrale' [1921-1937], Konfession und Gesellschaft 16, Stuttgart u.a. 1998; derzeit Arbeit an einem Habilitationsprojekt.


Seite 5-8 weiter Seite 9 (10 KB)
Anfang

Start-Seite 1