Kampagne
Es scheint derzeit eine Kampagne zu geben, Religionsfreiheit in Europa
umzudefinieren: Nicht wie in der europäischen Tradition vor allem als
Freiheit des Individuums, also als Menschen- und Bürgerrecht, sondern
vielmehr als Freiheit der Organisationen gegenüber Mitgliedern und
Kritikern, und auch gegenüber kritischer Berichterstattung. Unter
Berufung auf "Religionsfreiheit" wird sogar versucht, staatlichen Stellen
Vorgaben
über die Art und Weise zu machen, wie sie religiöse Organisationen
zulassen oder registrieren sollen.
Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen hat das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Begehren der Jehovas-Zeugen-Organisation (Ostberlin), vom Staat im Bundesland Berlin Körperschaftsrechte verliehen zu bekommen, eine Tragweite, die über die kritische Auseinandersetzung mit der Wachtturm-Organisation selbst hinausgeht und über das Bundesland Berlin hinaus für ganz Deutschland, aber auch für Europa Bedeutung haben wird.
In Deutschland werden religiöse Vereinigungen, "Religionsgesellschaften", ob seriös oder ganz unbekannt, ob Freikirche oder Sekte, von Staats wegen wie andere Vereine und Vereinigungen behandelt: Sie erwerben die Rechtsfähigkeit wie ein anderer Verein. Es gibt auch keine staatliche Verleihung des "Status einer Religionsgemeinschaft". Nicht einmal eine offizielle Anerkennung als "Religionsgemeinschaft" (wie z.B. in Österreich und einigen anderen Ländern) gibt es in Deutschland. Schließlich kann der "religiös und weltanschaulich neutrale Staat" nicht bewerten, was schon Religion ist und was noch nicht.
Sekten und andere mehr oder weniger kleine oder neue Religionsgesellschaften haben darum in Deutschland große organisatorische Freiheit vom ersten Tage an, wie sie das deutsche Vereinsrecht bietet. Zugleich bringt sie diese Situation in die Gelegenheit, ihre Selbstdefinition ins Spiel zu bringen. Manche Gemeinschaften und Vereinigungen versuchen z.B., durch Selbstbezeichnungen als "Kirche" einen Imagegewinn zu erzielen.
Die Wachtturm-Organisation hat nun aber inhaltliche Schwierigkeiten, sich als "Kirche" zu bezeichnen. Bis vor kurzem wollte die "wahre Religion" nicht einmal eine Religionsgemeinschaft sein. Neuerdings versucht die WTG aber, sich und ihre Anhänger zugleich als "Religion wie jede andere auch" und als "die wahre Religion" zu profilieren. Sie hat gemerkt, daß die "Religionsfreiheit" an vielen Punkten der Welt die Arbeit eher erleichtert und staatliche Vergünstigungen ergibt. Eine Möglichkeit, so etwas wie religiöse und soziale Seriosität und staatliche Anerkennung gegenüber der Öffentlichkeit, aber vor allem gegenüber ihren treuen Anhängern zu demonstrieren, sah die "Jehovas Zeugen"-Organisation anscheinend darin, in Deutschland die Rechtsform einer "Körperschaft des öffentlichen Rechts" durch staatliche Verleihung zu erwerben, während sie noch kürzlich lehrte, der Staat sei eine zum vergehenden "System der Dinge" gehörende Einrichtung und die "wahre Religion" dürfe kein Teil von dieser Welt sein.
Nun sollte eigentlich für eine öffentliche Privilegierung nicht das Streben nach Anerkennung und Etablierung der Grund sein. Vielmehr geben Etablierung und öffentliche Anerkennung die Voraussetzungen von Bevorrechtigungen ab. Es darf auch bezweifelt werden, ob der Imagegewinn durch erhaltene Körperschaftsrechte wirklich durchschlagend und dauerhaft ist oder ob die Außenwahrnehmung und das Ansehen einer Organisation nicht vielmehr von ihrer wahrnehmbaren Praxis abhängt. Andere Sekten sind schon lange und mit unterschiedlichem "Ansehenserfolg" in einigen Bundesländern dahingehend privilegiert worden, daß sie den evangelischen Landeskirchen und der römisch-katholischen Amtskirche rechtlich als Körperschaften gleichgestellt wurden, ohne daß sie das dauerhaft von Kritik entlastet hätte.
Die Zuordnung dieser und anderer Religionsgesellschaften zum Bereich der Sekten erfolgt übrigens im BERLINER DIALOG und in der seriösen Konfessionskunde auf Grund inhaltlicher, nämlich theologischer (Lehre), konfessionskundlicher (Geschichte und Entwicklung) und religionssoziologischer (Struktur) Kriterien, unabhängig von der jeweiligen Rechtsform.
Körperschaft im Bundesland Berlin?
In dem deutschen Bundesland Berlin versuchte die
Wachtturm-Organisation, seit der Wiedervereinigung eine "Körperschaft
des Öffentlichen Rechts" zu werden. (Den genauen Hergang habe ich
ausführlich beschrieben in Friedrich-Wilhelm Haack: Jehovas Zeugen,
aktualisiert und erweitert von Thomas Gandow, Münchener Reihe 608, 16.
Auflage, München 1997).
Was ist überhaupt eine Körperschaft des
öffentlichen Rechts?
In der Weimarer Reichsverfassung wurde bestimmt, daß diejenigen
Religionsgesellschaften, die den Körperschaftsstatus bereits hatten,
ihn behalten konnten und nicht als normale Vereine bürgerlichen Rechts
"eingestuft" werden. Andere Religionsgesellschaften sollten die
Rechtsfähigkeit entsprechend dem Bürgerlichen Gesetzbuch, also
nach dem Vereinsrecht erwerben, oder aber unter gewissen Bedingungen die
Privilegien einer "Körperschaft des
Öffentlichen Rechts" neu verliehen bekommen.
Grundsätze für die Neuverleihung der
Körperschaftsrechte
Für die Neu-Verleihung der Körperschaftsrechte wird, was die
"Verfassung" betrifft, das Organisationsstatut des Antragstellers sowie der
qualitative Gesamtzustand, d.h. die Summe der Lebensbedingungen der
Religionsgesellschaft geprüft, einschließlich der Bedeutung im
öffentlichen Leben sowie der finanziellen Ausstattung. Hinsichtlich der
"Dauer" wird u.a. auch die Zahl der Mitglieder berücksichtigt. Nach den
"Empfehlungen der Kultusministerkonferenz über die Verleihung der
öffentlichen Körperschaftsrechte an Religionsgesellschaften und
Weltanschauungsvereinigungen" vom 12.03.1954 wurde ein Richtwert von einem
Tausendstel der Bevölkerung des verleihenden Bundeslandes festgelegt,
wobei nur Vollmitglieder, nicht aber Sympathisierende, Freunde oder
Förderer mitgezählt werden. Als erforderliche Bestandsdauer galt
bisher eine Generation, d.h. ca. 30 Jahre.
Folgen der Verleihung von Körperschaftsrechten
Die Verleihung von Körperschaftsrechten an eine Religionsgesellschaft
beinhaltet keinerlei Verpflichtungsübernahme der Religionsgesellschaft
gegenüber dem Staat. Im Gegenteil verzichtet der Staat auf eigene
Rechte der Einwirkung und überträgt eigene Hoheitsrechte bzw.
Teile eigener Hoheitsrechte auf die betreffende Körperschaft. Es
handelt sich also um eine Privilegierung gegenüber anderen
Vereinigungen und Gesellschaften, die z.B. nach dem BGB als Verein
organisiert sind.
Zu diesen Privilegien gehören:
a)Berechtigung zur Erhebung von eigenen Steuern auf der Grundlage der bürgerlichen Steuerlisten - mit Hilfe eigener Steuerämter oder -wie bei den Kirchen- auf vertraglicher Grundlage durch die zuständigen staatlichen Stellen (WRV Art. 137,6).
b)Organisationsfreiheit, d.h. z.B. Bildung weiterer öffentlich-rechtlicher Körperschaften (WRV Art. 137, 5 Satz 3).
c)Dienstherrenfähigkeit, d.h. die Befugnis, ein eigenes Disziplinar- und Beamtenrecht zu begründen
d)Befreiung von der Pflicht zur Entrichtung von Körperschaftssteuer (§ 5 Körperschaftssteuergesetz), Vermögenssteuer (§ 3 Vermögenssteuergesetz) und Grundsteuer (§§ 3 und 4 Grundsteuergesetz) sowie weitere Vergünstigungen im Kosten- und Gebührenrecht.
e)Berechtigung zur Ausstellung von Spendenbescheinigungen (§§ 48 und 50 der Einkommenssteuer-Durchführungsverordnung)
f)Berechtigung zur Verwendung eines Dienstsiegels
g)Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe (§ 75 Abs. 3 Kinder- und Jugendhilfegesetz, SGB VIII).
Kritische Fragen
Die Sprecher der JZ-Organisation haben mehrere ihrer Motive für das
Streben nach dem privilegierten Status angeführt. Zum einen geht es
ihnen um
öffentliche Anerkennung im Sinne eines Image-Gewinnes, man sei "keine
Sekte" mehr; zum anderen aber auch um erleichterte
überregionale Arbeitsmöglichkeiten. Körperschaftsrechte
gelten zwar nur in dem Bundesland, in dem sie verliehen wurden, zugleich ist
aber eine Körperschaft in allen anderen Bundesländern
rechtsfähig.
Da die Jehovas Zeugen (bisher) keine eigenen Mitglieder, sondern nur ein Heer von Mitarbeitern haben, ist demgegenüber noch nicht deutlich, in welcher Weise die Erhebung von Steuern für die Organisation praktisch relevant werden könnte. Jedoch erscheint die Möglichkeit des wie auch immer gestalteten Einblicks in die bürgerlichen Steuerlisten, um dort eigene Mitglieder zu finden, bei der für ihre Datensammelei bekannten Organisation als bedenklich. Besonders problematisch erschiene die einfache Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe ohne weitere Sicherungen, (§ 75 Abs. 3 Kinder- und Jugendhilfegesetz, SGB VIII). Die Erziehungsvorstellungen der JZ-Organisation und ihre detaillierten Angaben und Vorschriften z.B. zur Vermeidung von Bluttransfusionen können ungewöhnlich genannt werden.
Die Lehre der Wachtturm-Gesellschaft unterliegt zwar keiner inhaltlichen Überprüfung durch die Gerichtsbarkeit oder einer staatlichen Stelle, wohl aber der "qualitative Gesamtzustand" der Wachtturm-Gesellschaft. Hier müßten wohl auch die drastischen Lehränderungen der letzten Zeit berücksichtigt werden. Mit ihnen veränderte sich nicht nur die Lehre, sondern auch der Charakter der Organisation tiefgreifend.
Bedenken
Der einzelne Bürger, aber auch staatliche
Stellen erwarten von einer Organisation, der von Staats wegen eigene Rechte
verliehen werden, verständlicherweise Seriosität,
Zuverlässigkeit und partnerschaftliche Zuordnung. In einer solchen
Verleihung ist mit Recht auch eine Art von "staatlicher Anerkennung"
für Seriosität, Zuverlässigkeit und partnerschaftliche
Zuordnung zu sehen. Diese "Anerkennung" gilt jedoch nicht als Anerkennung
der Religion oder Religionsgemeinschaft als solcher. Eine solche Anerkennung
gibt es in der Bundesrepublik Deutschland gerade nicht, da der Staat ja zu
religiöser und weltanschaulicher Neutralität verpflichtet ist.
Sind Körperschaftsrechte erst einmal verliehen, wird man
staatlicherseits nicht einen Teil der möglichen Vorrechte und
Möglichkeiten zurückhalten können.
Um die zu erwartenden Probleme zu lösen (man denke z.B. nur an Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe), werden dann möglicherweise allen bisherigen "Körperschaften des öffentlichen Rechts" Rechte genommen werden müssen.
Gericht: Fehlende Kooperationsfähigkeit
Im Sinne der nötigen inhaltlichen Qualitätsprüfung hat das
Bundesverwaltungsgericht als letzte Instanz in seinem Urteil vom 26. Juni
1997 (BVerwG 7 C 11.96) die Verleihung von Körperschaftsrechten durch
den Berliner Senat an die JZ-Organisation als nicht möglich beurteilt.
Auf viele kritische Argumente gegen eine Verleihung der
Körperschaftrechte an die JZ-Organisation geht das Urteil nicht im
Einzelnen ein, denn der Antrag der JZ-Organisation auf besondere
Privilegierung durch Verleihung von Körperschaftsrechten scheitert nach
Ansicht des Gerichts bereits wegen einer grundsätzlichen Erwägung
zur gegenwärtigen Kooperationsfähigkeit der JZ-Organisation.
"Eine Religionsgemeinschaft, die dem demokratisch verfaßten Staat
nicht die für eine dauerhafte Zusammenarbeit unerläßliche
Loyalität entgegenbringt, hat keinen Anspruch auf Anerkennung als
Körperschaft des
öffentlichen Rechts. Ein solcher ihre Anerkennung ausschließender
Loyalitätsmangel besteht dann, wenn sie ihren Mitgliedern die Teilnahme
an den staatlichen Wahlen verbietet" heißt es in den Leitsätzen
des Gerichts zu dem Urteil.
Das Urteil wird wegen seiner grundsätzlichen Ausführungen für die weitere Auseinandersetzung nicht nur um Jehovas Zeugen und den Status ihrer Organisation von Wichtigkeit sein. Es ist u.a. im Internet unter http://www.access.ch/pwidmer/ZEU/jzurteil.htm [Stand 29. 11. 1998] dokumentiert.
Aus dem Urteil
Das Gericht führte zur Ablehnung des von der JZ-Organisation
angestrebten, privilegierten Rechtsstatus aus, daß der Status einer
Körperschaft des Öffentlichen Rechts für diejenigen
Religionsgemeinschaften, die ihn noch nicht besitzen, ein
Kooperationsangebot des Staates darstellt.
"dabei besteht der Zweck der Kooperation in der Förderung der anzuerkennenden Religionsgemeinschaften, weil ihr Wirken zugleich im Interesse des Staates liegt. (...)" Jedoch "bleiben sie ungeachtet ihrer öffentlich-rechtlichen Gestalt nicht anders als die privatrechtlichen Religionsgemeinschaften im gesellschaftlichen Bereich verwurzelt und vom Staat wesensmäßig getrennt (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV). Insbesondere werden ihre Freiheitsrechte gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 und Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV durch den Korporationsstatus nicht beschnitten; im Gegenteil wird hierdurch ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit vom Staat bekräftigt und die Entfaltung ihrer Freiheit gefördert (...). Das gilt auch insoweit, als sie von den ihnen mit dem Korporationsstatus verliehenen Hoheitsrechten Gebrauch machen. Denn sie üben diese Rechte zumindest im Grundsatz nicht für den Staat und an seiner Stelle, sondern in Verfolgung ihrer eigenen Zwecke aus." Dennoch dürfe ein solches Miteinander nicht zu Lasten einer, der staatlichen Seite gehen: "Eine solche Kooperation ist ohne ein Mindestmaß an gegenseitigem Respekt nicht vorstellbar. Ebenso wie der Staat sich mit der Gewährung des Korporationsstatus nicht in die Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften einmischt, sondern im Gegenteil deren Eigenständigkeit stützt und fördert, kann umgekehrt von der Religionsgemeinschaft, die mit ihrem Antrag nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV die Nähe zum Staat sucht und dessen spezifische rechtliche Gestaltungsformen und Machtmittel für ihre Zwecke in Anspruch nehmen will, erwartet werden, daß sie die Grundlagen der staatlichen Existenz nicht prinzipiell in Frage stellt. Trügt diese Erwartung, so ist dem Staat die Kooperation mit ihr nicht zumutbar und infolgedessen der Anspruch auf Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht gegeben. Das gilt namentlich bei Konfrontationen im demokratisch-staatsbürgerlichen Bereich. Gerade in diesem Bereich brauchen, wie sich aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV ergibt, die Ansprüche des Staates nicht von vornherein hinter denen der Religionsgemeinschaft zurückzustehen.
Die Klägerin bringt dem demokratisch verfaßten Staat nicht die für eine dauerhafte Zusammenarbeit unerläßliche Loyalität entgegen. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts sind die Zeugen Jehovas zwar dem Staat gegenüber nicht negativ, sondern grundsätzlich positiv eingestellt, lehnen aber prinzipiell die Teilnahme an den staatlichen Wahlen ab. Diese Ablehnung ist ebenso wie die Ablehnung des Wehr- und des Ersatzdienstes - Ausdruck eines strikt zu befolgenden Glaubensgebots, nämlich des der Bibel entnommenen Gebots der 'christlichen Neutralität' in politischen Angelegenheiten. Wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat bestätigt hat, kann ein Zeuge Jehovas, der auf der Teilnahme an staatlichen Wahlen beharrt, nicht in ihrer Gemeinschaft verbleiben. Mit diesem religiös begründeten Verbot der Wahlteilnahme und dem entsprechenden Verhalten ihrer Mitglieder setzt die Klägerin sich in einen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Widerspruch zu dem für die staatliche Ordnung im Bund und in den Ländern konstitutiven Demokratieprinzip, das zum unantastbaren Kernbestand der Verfassung gehört (Art. 20 Abs. 2, Art. 28 Abs. 1 Satz 1, Art. 79 Abs. 3 GG). Dieses Prinzip besagt, daß grundsätzlich alle Akte der Staatsgewalt sich auf den Willen des Volkes zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden müssen (...). Die für das staatliche Handeln benötigte demokratische Legitimation wird dem Staat im System der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie vor allem durch die Wahlen zum Parlament vermittelt (...). Diese nicht nur staatspolitisch, sondern zugleich auch verfassungsrechtlich zentrale Bedeutung der Parlamentswahlen wird von der Klägerin mißachtet. Denn sie schwächt zwangsläufig in dem Umfang, in dem sie auf das Wahlverhalten der Bürger Einfluß nimmt oder künftig gewinnt, die Legitimationsbasis, auf die der Staat für die Ausübung der Staatsgewalt - einschließlich der Übertragung dieser Gewalt an Private - angewiesen ist.
Da sie die aus dem Demokratieprinzip folgenden legitimen Ansprüche des Staats an seine Bürger nicht anerkennt, kann sie nicht verlangen, von ihm als Körperschaft des öffentlichen Rechts und damit als sein Kooperationspartner anerkannt zu werden." Wachturmgesllschaft (WTG) und ihre deutschen Vertreter in Selters und Berlin haben bereits angekündigt, sie würden zu diesem Urteil das Bundesverfassungsgericht anrufen. Jedoch ist fraglich, ob Verfassungsgrundsätze berührt sind.
Religionsfreiheit nicht berührt
Auch für Jehovas Zeugen gilt die Freiheit von Glauben und Gewissen,
einschließlich der freien Religionsausübung (Art. 4 GG).
Gehört die religiös begründete Ablehnung der Teilnahme an
Wahlen nicht vielleicht in diesen geschützten Bereich der Religionsfreiheit? Ganz sicherlich. Anders aber sieht es mit dem Anspruch einer
Religionsgemeinschaft auf Verleihung der Körperschaftsrechte aus. Das
Gericht stellt dazu fest: " ...der verfassungsrechtliche Anspruch der
Religionsgemeinschaften auf Anerkennung als Körperschaft des
öffentlichen Rechts ist nicht in Art. 4 GG, sondern in Art. 140 GG
i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV geregelt. Zwar knüpfen diese
Verfassungsbestimmungen insoweit an die grundrechtlich verbürgte
Religionsfreiheit an, als sie den Religionsgemeinschaften ein
öffentlich-rechtliches Instrumentarium zur Entfaltung dieser Freiheit
bieten." Weiter heißt es dann, entgegen der vertretenen Position der
klagenden Organisation sei aber der Status einer Körperschaft des
Öffentlichen Rechts "keine notwendige Folge der Religionsfreiheit,
sondern eine staatliche Vergünstigung, auf die die
Religionsgemeinschaften zur Ausübung + ihrer Freiheit nicht angewiesen
sind. Infolgedessen bleibt der Klägerin der durch Art. 4 Abs. 1 und 2
GG gewährleistete Freiheitsraum mit wie ohne Anerkennung als
Körperschaft des öffentlichen Rechts uneingeschränkt
erhalten."
Gegenwärtige Praxis
Tatsächlich sind bereits bisher die Wirkungsmöglichkeiten der
Jehovas-Zeugen-Organisation groß. In dem durch Art. 140 GG
fortgeltenden Art. 137 WRV heißt es: (2)Die Freiheit der Vereinigung
zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet...
(3)Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.
(4)Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechtes." Obwohl die Wachtturmorganisation bisher nur eher scheinartige Vereine aufrechterhalten hat, in denen die Mehrzahl der "Jehovas Zeugen" keinerlei Mitgliederrechte außer den Dienstverpflichtungen hatten und im Übrigen zentralistisch von der "Leitenden Körperschaft" geführt wurde, die - soweit hier bekannt - identisch ist mit dem Vorstand der Aktiengesellschaft "The Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania", ließ sie sich in der Bundesrepublik Deutschland schon lange, entgegen ihren eigenen Schriften, Lehren und Praktiken, wie eine normale Religionsgesellschaft behandeln. Selbstverständlich haben deshalb nicht nur einzelne Jehovas Zeugen Rechte entsprechend Art. 4 des Grundgesetzes, sondern auch die Organisation kommt schon heute in den Genuß zum Beispiel der Möglichkeiten aus Art. 141 WRV, soweit sie sie zur Betreuung ihrer Anhänger in Anspruch nimmt: "Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist."
Thomas Gandow, 51,
ist Provinzialpfarrer für Sekten-
und Weltanschauungsfragen der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg und
Herausgeber des BERLINER DIALOG.
Literaturhinweis
Ausführlich wird der gesamte Fall beschrieben in: Friedrich-Wilhelm
Haack: Jehovas Zeugen, aktualisiert und erweitert von Thomas Gandow,
Münchener Reihe 608, 16. Auflage, München 1997.