Massenselbstmord
Massenselbstmord in einer kalifornischen Villa nahe San Diego - damit
ist die UFO-Gemeinschaft "Heaven's Gate" ins Licht der
Weltöffentlichkeit getreten. Eine Frau ernennt sich zum Gott, ein Mann
wird ihr Halbgott. Zusammen bereiten sie ihre Anhänger auf die Ankunft
eines UFOs vor. Das soll sie in eine andere Dimension bringen. Das
Weltraumtaxi kam nicht, aber das Ende.
In der amerikanischen Sektenszene sorgte die Gruppierung schon vor Jahren unter dem Namen "Human Individual Metamorphosis (H.I.M.)", dann als "Total Overcomers Anonymous Monastery (TOAM)" für einiges Aufsehen. Eine Beschäftigung mit Lehre und Auftreten der Gemeinschaft scheint aus drei Gründen sinnvoll: Zum ersten ist die Gedankenwelt der Gemeinschaft auf ihrer Homepage auf hunderten von Seiten dargestellt. Im Gegensatz etwa zu den Sonnentemplern oder den Branch Davidians ist es hier möglich, die Lehren zu untersuchen, die eine Gemeinschaft dazu führten, den radikalst möglichen Weg zu gehen. Zum zweiten gibt die Gemeinschaft Heaven's Gate manche Sektenmerkmale, die in moderaterer Form in zahlreichen Gruppierungen wirksam sind, in schärfster Zuspitzung zu. Zum dritten läßt sich die Entwicklung der Lehre der Gruppierung recht gut nachzeichnen, sie mag deshalb ein Beispiel sein für viele weitere, ähnlich traditionslose, aber äußerst phantasievolle Lehrkonzepte.
Marshall Herff Applewhite
Der Co-Gründer der Sekte
Heaven's Gate, der die Gemeinschaft in den "Schritt auf die Nächste
Ebene" hineinführte, Marshall Herff Applewhite, wurde 1931 als Sohn
eines presbyterianischen Pastors in Spur, Texas geboren. Seine Kindheit und
Jugend verbrachte er an wechselnden Orten, je nachdem, wo sein Vater es
unternahm, eine neue presbyterianische Gemeinde aufzubauen. Schon früh
zeigte sich bei dem Jungen ein ausgeprägtes musikalisches Talent. Dem
Vorbild seines Vaters folgend wollte Applewhite jedoch ebenfalls den Beruf
des Pastors ergreifen, brach aber sein Theologie-Studium nach einem Jahr ab
und wechselte an die Musikwissenschaftliche Fakultät. In den sechzigern
war Applewhite als Musiklehrer an der University of Alabama tätig und
feierte als Bariton-Sänger in Opernauführungen einige Erfolge.
Applewhite heiratete seine Frau Ann, mit welcher er seinen Sohn und eine
Tochter hatte. Doch schon nach sechs Jahren brach die Ehe auseinander,
verbunden mit Gerüchten von einer homosexuellen Affäre
Applewhites. Applewhite zog nach Houston, wo er eine Stelle als Musiklehrer
an der University of St. Thomas, einer katholischen Einrichtung,
übernahm. Im Jahr 1970 wird Applewhite dort entlassen, wegen
"gesundheitlicher Probleme von emotioneller Natur", Applewhite selbst
spricht von einer Beziehung zu einem Studenten. Die Wertung von Applewhites
Homosexualität als "Krankheit" ist dabei nicht der katholischen Schule
zur Last zu legen, Homosexualität wurde selbst von der American
Psychiatric Association noch bis 1974 als Krankheit eingestuft. Auch
Applewhites eigenes Verständnis ließ ihn sich selbst als "krank"
wahrnehmen, weshalb er eine psychiatrische Klinik aufsuchte, um sich von
seinen homosexuellen Empfindungen "heilen" zu lassen. Außerdem
berichtet Applewhite von depressiven Zuständen und von "Stimmen", die
er gehört habe. Die damalige Diagnose der psychiatrischen Klinik
läßt sich leider nicht mehr erheben, denkbar wäre
Schizophrenie oder auch schlicht "Homosexualität".
Bonnie Lu Trusdale Nettles
In der psychiatrischen Klinik macht Applewhite die schicksalshafte
Begegnung seines Lebens: Er trifft die dort angestellte
Psychiatrieschwester Bonnie Lu Trusdale Nettles. Nettles, 1927 geboren,
verheiratet und Mutter von vier Kindern, beschäftigte sich schon seit
Jahren mit Astrologie, die sie nebenberuflich betrieb. Daneben interessierte
sie sich für diverse religiöse Bewegungen, welche genau, ist nicht
mehr zu erheben; aus der Lehre der späteren Gemeinschaft ist aber zu
folgern, daß Nettles sich zumindest mit Scientology und wohl auch mit
gewissen Gedanken der Mormonen näher befaßt hat. Diese
Beschäftigung muß allerdings nicht im Sinne einer Kursteilnahme
erfolgt sein, sie kann sich durchaus auch auf Buchlektüre
beschränkt haben. Nettles teilt Applewhite mit, daß sein
Leidensweg eine Bedeutung hat: Er ist die Vorbereitung auf Applewhites wahre
Aufgabe, die er zusammen mit Nettles zu erfüllen hat. Nach dem
Klinikaustritt Applewhites verläßt Nettles ihren Mann und ihre
Kinder und zieht mit Applewhite übers Land, wobei ihre Beziehung rein
platonischer Natur war.
Bo und Peep, Do und Ti und H.I.M.
Applewhite und
Nettles entwickeln nun ihre Heilslehre, wobei Nettles an diesem Lehrkonzept
infolge ihres Hintergrunds zweifelsohne den größeren Anteil hat:
Die beiden nehmen ihre Zeit als die Endzeit wahr, die Welt kommt zu ihrer
Erfüllung. Ziel des Menschen ist es nun, von dieser zu Ende gehenden
irdischen Welt auf die "nächste Entwicklungsstufe oder -ebene" zu
gelangen. Diese "nächste Ebene" wird dabei äußerst
materialistisch gedacht: Es handelt sich um ein Leben als Ufonen, als der
menschlichen Lebensform weit überlegene Ausserirdische, die mit ihren
fliegenden Untertassen das Weltall durchkreuzen. Das Verhältnis
zwischen irdischem Dasein und der Existenz als Ufone wird von Nettles und
Applewhite mit dem Gleichnis von der Raupe und dem Schmetterling
verdeutlicht. Die menschliche Existenz ist die der Raupe, eigentliches Ziel
ist aber das Sein des Ufonen-Schmetterlings. Wie der Schmetterling einen
völlig neugeformten Körper erhält, aber dennoch dieselbe
Identität wie die Raupe hat, so ist es dem Menschen bestimmt, seine
menschliche Körperlichkeit hinter sich zu lassen und einen
Ufonen-Körper anzunehmen, wobei auf dieser frühen Stufe von
Nettles und Applewhite getreu dem Raupen-Gleichnis wohl noch an eine
Umformung des bestehenden menschlichen Körpers zu einem
Ufonen-Körper gedacht wird. Diese Umformung geschieht an Bord eines
Ufos, dessen Ankunft fürs Jahr 1975/76 erwartet wurde. Nicht jeder
Mensch wird allerdings für diese Umformung geeignet sein: Auf der
"nächsten Ebene" sind nur Menschen erwünscht, die alles
Menschliche hinter sich gelassen haben. Das Augenmerk fällt dabei auf
"Abhängigkeiten" jeder Art, zu welchen nicht nur Sucht in jeder Form
gehört, sondern auch die Abhängigkeit von anderen Menschen, wobei
hierzu jegliche persönliche Bande
zählen, und, vor allem, Sexualität und Ehe. Der Mensch, der die
"Nächste Ebene" erreichen möchte, hat alles hinter sich zu lassen,
alle Brücken abzubrechen, und Nettles und Applewhite zu folgen, die den
Weg zum Ufo zu weisen wissen.
Diese Weltsicht, die sich wohl weitgehend Nettles verdankt, wird nun von Applewhite, dem Pfarrersohn und Theologiestudenten, mit einigem an biblischer Metaphorik unterlegt. Die "Nächste Ebene" heißt nun auch das "Reich der Himmel" oder das "Reich Gottes", welches Jesus verkündigt hat (soviel ist Applewhite von seinem einen Jahr an der theologischen Fakultät noch in Erinnerung). Jesus wird damit zum Vorläufer der Botschaft von Applewhite und Nettles, einem allerdings seinerzeit gescheiterten Vorläufer, dem angesichts seiner unzeitigen Kreuzigung nur noch blieb, das Wiederkommen von Boten seiner Botschaft anzukündigen. Diese Boten sind nun in Applewhite und Nettles gekommen, die sich, ihres heilsgeschichtlichen Ranges eingedenk, in der Bibel wiederfinden, sie behaupten, die "zwei Zeugen" aus Offenbarung 11 zu sein. Folglich nennen sich Nettles und Applewhite fürderhin "The Two" und erwarten das Geschick der zwei Zeugen, nämlich getötet zu werden und nach dreieinhalb Tagen aufzuerstehen. Diese Auferstehung wird dann die Landung des die Menschen umformenden Ufos ankündigen.
Diese Botschaft wird von Applewhite und Nettles bei zahlreichen Vorträgen verbreitet, wobei "The Two" gegen außen unter den Namen "Bo and Peep" auftreten, intern jedoch diverse Sätze von "Kosenamen" anwenden, etwa "Tiddly and Wink" oder "Tweedle and Dee", wohl um damit zu dokumentieren, daß Namen unwichtig sind. "Bo" (=Applewhite) und "Peep" (=Nettles) richten sich bei ihren Vorträgen vor allem an Hippies und an Interessenten der entstehenden "New Age"-Bewegung. Bewußt christliches Publikum wird trotz christlicher Maskerade gemieden, in diesen Kreisen verzeichnen "Bo and Peep" denn auch keinen missionarischen Erfolg. Vortragsbesucher, die bereit sind, alle Brücken hinter sich abzubrechen, werden handverlesen zu internen Veranstaltungen eingeladen, bei welchen sich "Bo and Peep" mit ihren internen Kosenamen "Do and Ti" (gemeint sind die Tonbezeichnungen) vorstellen. Angesprochen fühlen sich vornehmlich Suchende im jungen Erwachsenenalter, die sich gerade in einer Phase persönlicher Krise befinden und deshalb das Angebot eines ganz neuen Lebens ohne Kontakt zur alten Existenz als Befreiung erleben. Daneben finden sich allerdings auch Eltern, die ihre Kinder verlassen, um sich "Do and Ti" anzuschließen. 1976 umfaßt die Gemeinschaft um "Do and Ti", die sich nun "Human Individual Metamorphosis (H.I.M.)" nennt, rund 200 Mitglieder. Dank der auf Außenstehende eher skurril wirkenden Ufo-Erwartung erwecken "Do and Ti" in den Jahren 1975 und 1976 einige Aufmerksamkeit der Medien, Applewhite und Nettles sind gern gesehene Talk-Show-Gäste.
1976: Der Wendepunkt
Im Lauf des Jahres 1976 wird klar, daß die erwarteten
Endzeitereignisse, der Tod und die Auferstehung von "Do and Ti" sowie die
Landung des Ufos, nicht stattfinden. Der Spott der Medien und der
Oeffentlichkeit läßt nicht auf sich warten. Auch Kritik an
sektenhaften Strukturen wird laut: So wurden die Mitglieder nach dem Vorbild
von "Do and Ti" in Zweierteams eingeteilt, wobei der jeweilige Partner in
der Ernsthaftigkeit seiner Bemühung zu
überwachen war.
Die Gemeinschaft gerät in eine schwere Krise, mehr als die Hälfte der Mitglieder verläßt die Gruppierung. Rund 80 bleiben, die Tatsache, daß sie alle Bindungen und sozialen Beziehungen aufgegeben haben, erschwert einen Ausstieg. "Do and Ti" sehen sich gezwungen, ihre Lehre umzuformen. Die Zeit der Mission sei vorbei, lautet nun die Aussage, und es sei gar nicht darum gegangen, möglichst viele Menschen zu sammeln, sondern darum, daß genau diejenigen zu "Do und Ti" stoßen würden, die bei den beiden verblieben sind. Die Bemühungen der Jahre 1975 und 1976, de facto ein Mißerfolg, werden so zum Erfolg umgewertet. "Do and Ti" haben sich nun um diese, die Verbliebenen zu kümmern und sie auf den Schritt zur "nächsten Ebene", der nun offenbar später erfolgt, vorzubereiten. Diese Vorbereitung geschieht in der Gemeinschaft, die damit zum "Schulzimmer" für die "Nächste Ebene" wird.
The Classroom: "Total Overcomers Anonymous Monastery"
Die Zahl der Schüler ist beisammen, die Klasse vollständig, eine
weitere Mission, angesichts der Ereignisse wohl ohnehin zum Scheitern
verurteilt, wäre unnötig. Die Gemeinschaft schließt sich vom
Rest der Menschheit nun völlig ab und trachtet danach, "alles
Menschliche zu
überwinden", das vom Erreichen der "Nächsten Ebene" nur abhalten
würde. Sie gibt sich deshalb den Namen "Total Overcomers Anonymous
Ministry" und lebt an wechselnden Orten von den Vermögenswerten, die
die Mitglieder in die Gemeinschaft eingebracht haben. Nach ein paar Jahren
sind diese jedoch verbraucht, die Mitglieder nehmen Gelegenheitsjobs an, zum
Teil in der Computerbranche, eine Tätigkeit, die 1996 zur Gründung
einer Firma zur Gestaltung von Internet-Seiten unter dem Namen "Higher
Source" führte. Die Phase der völligen Abgeschlossenheit der
Gemeinschaft als "Schulzimmer" dauert bis 1992, wobei die Zahl der
Anhänger immer mehr abnahm, bis sie 1992 noch rund zwei Dutzend betrug.
Es war wohl diese Reduktion des Bestandes, die Do 1992 veranlaßten (Ti
war 1985 an Leberkrebs gestorben), wiederum an die Oeffentlichkeit zu
treten. Die Lehren, die in diesem "Schulzimmer" vermittelt wurden, sollen im
folgenden dargestellt werden.
The Next Level: "The Evolutionary Level above Human"
In der Krise von 1976 formen Do und Ti die Botschaft von der "Nächsten
Ebene" um: War sie vorher eine Art Paradies am Ende der Zeit, welches durch
einen evolutionären Entwicklungsschritt samt Umformung des menschlichen
Körpers zu erreichen war, wird die "Nächste Ebene", auch die
"Entwicklungsstufe über dem Menschen" genannt, nun als das eigentliche
Sein gesehen, aus welchem alles kommt und in welches alles
zurückzukehren hat. Religionsgeschichtlich ist diese Umdeutung
vergleichbar mit der Neufassung der jesuanischen
Reich-Gottes-Verkündigung in der Gnosis des zweiten Jahrhunderts nach
Christus: Die Gottesnähe der letzten Zeit wird zum eigentlichen,
ursprünglichen Sein, aus welchem die Seelen herausgefallen sind und in
welches sie, durch richtiges Wissen geleitet, wieder zurückkehren
sollen. Ursache dieser Umdeutung wird in beiden Fällen die gleiche
sein: Das Ausbleiben der erwarteten Endzeitereignisse. Wenig vergleichbar
mit der Gnosis ist allerdings die Ausprägung, die die Vorstellung von
diesem eigentlichen Sein bei Do und Ti erhält: Die "nächste Ebene"
ist, wie sie zu betonen nicht müde werden, keinesfalls rein geistig zu
denken, es handelt sich um eine körperliche Welt, ebenso real, ja
realer wie unsere irdische Umgebung. Allerdings ist diese
Körperlichkeit von höherer "Schwingung" und "Frequenz" (die
New-Age-Begrifflichkeit stand hier Pate), und deshalb für irdische
Augen nicht sichtbar.
Die "Nächste Ebene" ist von anderer Zeitlichkeit, tausend Erdenjahre entsprechen dort einem Tag, und bevölkert von Ufonen, die als ethisch perfekte Wesen vorgestellt werden, geschlechtlos sind und über eine der menschlichen weit überlegene Technologie verfügen. Diese Ufonen, "members", Mitglieder der Nächsten Ebene geheißen, sind unsterblich, weswegen sich eine Fortpflanzung nicht aufdrängt. Ihr Aussehen ist ein gütig-kindliches. Über den Ort ihrer Existenz ist zu erfahren, daß sie den erdnahen Raum unserer Galaxis besiedeln und auf dem Planeten Pluto offenbar über eine Basis verfügen.
"Older Member" - die hierarchische Weltordnung
Die Mitglieder der Nächsten Ebene leben in einer hierarchischen Ordnung
("Chain"). Ein "Chief of Chiefs", der quasi die Rolle Gottes einnimmt (aber,
s.u., nicht mit dem biblischen Gott identifiziert wird), steht einer Reihe
von Ufonen vor, die ihn als ihr "Older Member", als ihr "Älteres
Mitglied" bezeichnen und ihm als seine "Jüngeren Mitglieder" in jeder
Hinsicht gehorsam sind; es wird in den Texten des Heaven's Gate sogar
formuliert, daß der einzige Lebenszweck der Jüngeren Mitglieder
darin besteht, ihrem Älteren Mitglied zu dienen. Jedes dieser
Jüngenen Mitglieder des Chief of Chiefs ist nun wieder
Älteres Mitglied für eine Anzahl weiterer Ufonen, die wiederum
Jüngeren Mitgliedern vorstehen usf. Jedes Mitglied der Nächsten
Ebene ist mithin einem Älteren Mitglied untergeordnet, dem es zu dienen
hat, und verfügt
über eine Anzahl von jüngeren Mitgliedern, die ihm dienen.
Selbstverständlich gibt es ein unteres Ende der Kette, eine große
Anzahl von Jüngeren Mitgliedern, denen niemand mehr untersteht. Wie
kommen diese nun zu eigenen Jüngeren Mitgliedern, da eine Fortpflanzung
der Ufonen ja ausgeschlossen ist? Zu diesem Zweck wird die Erde geschaffen.
Die Erde als Garten und das Holodeck
Ein Jüngeres Mitglied ohne eigene Jüngere Mitglieder kann sich zur
Erlangung von solchen mit seinem
Älteren Mitglied zusammentun. Das Ältere Mitglied schafft dann auf
einem Planeten einen "Garten", in welchen potentielle neue Ufonen
"gepflanzt" werden, die dann dem Jüngeren Mitglied als eigene
Jüngere Mitglieder dienen. Ein solcher "Garten" stellt zum Beispiel die
menschliche Zivilisation auf der Erde dar, ihr Geschaffensein durch das
Ältere Mitglied wird dadurch verdeutlicht, daß sie auch mit einer
Star-Trek-Metaphorik als Holodeck, als körperliche Projektion
bezeichnet werden kann. Der Schöpfer, das Ältere Mitglied,
heißt nun "Chief Administrator" und nimmt, vom Garten aus gesehen, die
Rolle Gottes ein. Ziel dieses "Garten"-"Experimentes" ist es nun, "Seelen"
zu züchten, welche dann dereinst in Ufonen-Körper eingehen
können, um als jüngere Mitglieder zu dienen. Diese zu
züchtenden Seelen brauchen die Körperlichkeit des "Gartens" oder
des "Holodecks", um zu lernen.
Der Mensch als "Container" und "Vehicle"
Die werdenden Seelen benötigen zwecks Aufenthalts in der
Körperlichkeit des "Gartens" resp. des "Holodecks" Erde einen
"Behälter" (container), auch "Träger" (vehicle) genannt. Dieser
Behälter oder Träger für die werdenden Ufonen-Seelen ist der
Mensch (nicht etwa nur sein Körper). Das Ältere Mitglied in der
Position Gottes für diese Erde schafft den Menschen mit Körper,
Psyche und Verstand, wobei sich letztere wie der Körper allein auf
physische Weise, bestimmt durch das Erbgut, entwickeln. Der Mensch als
solcher hat nach Ansicht von Heaven's Gate folglich keine unsterbliche
Seele. Diese Menschen vermehren sich und sind nun bereit, als Behälter
oder Träger für die werdenden Ufonen-Seelen zu dienen.
Deposits
In einige wenige dieser Menschen, welche dem Chief-Administrator besonders
geeignet scheinen, legt dieser "Depots", Anlagekeime für Ufonen-Seelen
hinein. Diese Depots sind unsterblich und Wechselbegriffe für das Wort
"Seele". Nur die wenigen Menschen, in welche der Chief-Administrator ein
Depot hineingelegt hat, verfügen also über eine unsterbliche
Seele. Alle anderen verschwinden mit ihrem Tod (sie sind ja nur leere
Behälter). Die Depots, werdende Seelen, enthalten als eine Art "Chips"
erste Informationen darüber, welches Verhalten von ihnen erwartet wird,
wenn sie sich als Seelen der Nächsten Ebene bewähren und empfehlen
wollen. Die nötigen Lernschritte können die Seelen allerdings
nicht allein vollziehen, dafür benötigen sie, streng der
hierarchischen Weltsicht folgend, die Anleitung ihres zukünftigen
Älteren Mitglieds.
"The Representative" (Rep)
Zwecks Anleitung seiner zukünftigen Jüngeren Mitglieder betritt
nun auch das Jüngere Mitglied des Chief-Administrators, deswegen dieser
den "Garten" schuf, das "Holodeck". Es kommt mithin als "Vertreter"
(representative, oder abgekürzt Rep genannt) der Nächsten Ebene
auf diese Erde. Dazu ist ihm aber sein Ufonen-Körper, infolge dessen
Unsichtbarkeit für menschliche Augen, wenig dienlich. Der Vertreter
benötigt mithin selbst einen irdischen Behälter, einen
Träger, also einen Menschen, in den er eingehen kann. Dieser Mensch
wird von Geburt weg auf seine Rolle als Behälter vorbereitet,
allerdings ohne daß er sich dessen bewußt wird. Ist der Mensch
erwachsen, eignet er sich als Träger und der Vertreter geht in ihn ein.
Nun wohnen ab diesem Zeitpunkt zwar nicht zwei Seelen in der Brust des
Behälters, da ja nur der Vertreter, nicht aber der Behälter
über eine Seele verfügt, jedoch sehr wohl zwei "minds", zwei
Verstandeszentren, die durchaus nicht dasselbe wollen. Während der
Verstand des Vertreters nur an die Erfüllung seiner Aufgabe denkt, will
der Verstand des Behälters sein bisheriges Leben weiterführen,
seinen Beruf ausüben, seine sozialen Kontakte pflegen etc. Der Verstand
des Vertreters muß nun in mühevoller Arbeit den Verstand des
Behälters "überwinden", ja "abtreiben". Durch harte Disziplin
gelingt es dem Ufonen-Verstand des Vertreters, den menschlichen Verstand zu
besiegen, die Abhängigkeiten des Behälters, seine Sexualität,
seine sozialen Kontakte, ja seine Erinnerungen zu verdrängen. Ein allzu
sexualisierter Behälter ist dabei allenfalls via Kastration von seiner
Sexualität zu befreien. Ist der Vertreter Herr im Haus, kann er an
seine eigentliche Aufgabe denken: Es geht nun darum, die Behälter zu
finden, in welche vom Chief-Administrator ein Depot, eine werdende Seele
gelegt wurde, und diese nach ihrer Auffindung zu unterweisen.
Die Schulung
Der Vertreter organisiert öffentliche
Auftritte und gewährleistet den Behältern mit Depot so, ihn zu
finden. Im Depot ist ein Vertreter-Erkennungs-Programm gespeichert, das
durch bestimmte Formulierungen auf den Plakaten, die für die
Veranstaltungen werben, oder durch bestimmte Sätze in der Rede des
Vertreters aktiviert wird: Die Behälter mit Depot finden so zum
Vertreter. Der Vertreter schart die Menschen mit Depots um sich und weist
sie ins richtige Verhalten ein. Zentral ist eine Haltung des Entsagens: alle
Bedürfnisse und Abhängigkeiten des Behälters sind zu
überwinden. Die Meschen mit Depot machen hierin gewisse Fortschritte,
die Erfolge werden im Depot abgespeichert. Allerdings dauert es nur kurze
Zeit, dann kehrt der Vertreter wieder in die Nächste Ebene zurück,
sein Behälter stirbt. Die Seelen der Menschen mit Depot sind allerdings
noch nicht weit genug, um einen Nächste-Ebene-Behälter zu
bekommen, sie müssen weitere Schulungen absolvieren. Sie werden deshalb
nach dem Tod des Behälters "auf Eis gelegt" und warten dort, bis der
Vertreter wiederkommt.
"Visitations"
Kommt der Vertreter wieder und uuml;bernimmt einen neuen Behälter,
&werden auch die Depots vom Eis
genommen, an Bord eines Nächste-Ebene-Ufos über ihre Aufgabe
instruiert und in neue Behälter, erwachsene Menschen, implantiert.
Ihnen stellt sich nun das selbe Problem, mit welchem auch der Vertreter zu
kämpfen hat, sie müssen den Verstand des Behälters, seine
Abhängigkeiten, seine Sexualität, seine Erinnerungen und seine
eingeübten Verhaltensmuster bekämpfen und abtreiben. Die Art des
Behälters ist auf die notwendigen Lernschritte abgestimmt: Er weist
genau die Abhängigkeiten auf, die zu bekämpfen der Entwicklung der
Seele am förderlichsten ist. Wiederum findet der Behälter mit
Depot durch das Erkennungsprogramm zum Vertreter und wird von ihm geschult.
Durch seine Unterstützung ist die
Überwindung aller Regungen des Behälters möglich. Besonders
zu schaffen machen hierbei die Erinnerungen des Behälters aus seinem
Leben vor der Implantierung des Depots: Er spielt diese Erinnerungen
öfters "wie alte Videos" ins Bewußtsein der Seele ein, so
daß diese meinen könnte, es mit eigenen Erinnerungen zu tun zu
haben. Diese Pseudo-Erinnerungen sind zu bekämpfen und zu
unterdrücken. Denn das Vorleben des Behälters geht die
implantierte Seele nichts an. So sprechen die Texte von Anhängern von
Heaven's Gate betreffs ihres Vorlebens immer von den Widerfahrnissen "dieses
Behälters" ("Dieser Behälter interessierte sich für New Age",
"Dieser Behälter war verheiratet") und wechseln in die Ich-Form zum
Zeitpunkt der Aktivierung des Erkennungsprogramms.
Selbstverständlich übernimmt die Seele bei der Implantierung in den Behälter nicht den Namen des Behälters. Vielmehr erhält sie vom Vertreter einen neuen Namen (offenbar nimmt die Seele den Namen der letzten Schulung nicht mit, sondern erhält einen neuen). Die Seelen, die in der Schule des Heaven's Gate standen, trugen Namen, die aus drei unmittelbar aufeinander folgenden Konsonanten bestanden und dann auf -ody endeten, wie zB. Qstody, Jwnody, Snnody, Brnody etc.
Nach erfolgten Lernschritten und dem Tod des Behälters wird das Depot wiederum auf Eis gelegt, bereit für den nächsten Besuch des Vertreters.
Weltgeschichte in Heaven's Gate-Sicht
Während eines Garten-Experimentes besucht das Jüngere Mitglied des
Chief-Administratoren den Garten verschiedene Male, denn nur während
dieser Besuche ist es den werdenden Seelen möglich, sich zu entwickeln.
Eine Seele braucht aber bis zum Abschluß ihrer Entwicklung mindestens
drei Besuche, das heißt, sie ist während mindestens zwei
Zwischenphasen "auf Eis gelegt". Beim letzten dieser Besuche sollte die
Seele dann aber soweit sein, ansonsten hat sie ihre Chance verpaßt,
einen Nächste-Ebene-Behälter zu bekommen (über ihr Geschick
in diesem Falle s.u.). Das gegenwärtige Garten-Experiment ist nun
soweit, das Jüngere Mitglied des Chief-Administratoren hat schon
verschiedentlich die Erde besucht und die Seelen, d.h. die Depots in den
jeweiligen Behältern, unterwiesen. Der Vertreter kam, mit wenigen
Ausnahmen, alle 2000 Jahre nach irdischer, alle zwei Tage nach
NächsterEbene-Zeitrechnung. Er erschien als Mose, dann (die Ausnahme)
als Buddha, schließlich als Jesus, der, so die Bibel- Exegese von
Heaven's Gate, seine Verbundenheit mit seinem Älteren Mitglied, dem
Chief-Administratoren, unter der Bezeichnung "mein Vater" ja oft betont hat.
Jetzt, zu Ende des Experimentes, kam das Jüngere Mitglied wieder als
Do, der den Behälter Marshall Herff Applewhite
übernahm, als dieser in der psychiatrischen Klinik sich aufhielt.
Diesmal, in der Endphase des Garten-Experimentes, stellte sich aber die
Aufgabe des Jüngeren Mitgliedes, des Vertreters, als so schwierig dar,
daß auch sein Älteres Mitglied, der Chief-Administrator, der
Schöpfer der Erde, mitkam. Er übernahm zum selben Zeitpunkt den
Behälter Bonnie Lu Trusdale Nettles und nannte sich Ti. Im
Behälter Bonnie Lu Trusdale Nettles befand sich mithin, so ihr
Anspruch, der Gott der Bibel in persona. Der Chief-Administrator begleitete
sein Jüngeres Mitglied bis 1985, als sein Behälter an Leberkrebs
starb. Seither beendete der Vertreter allein die Schulung der werdenden
Seelen der Nächsten Ebene. Diese waren nun, am Ende des
Garten-Experimentes, bereit dazu, einen Behälter der Nächsten
Ebene anzunehmen. Der jetztige war schon mindestens der dritte Besuch,
während welchem sie unterrichtet wurden, die Depots der jetztigen
Anhänger Dos waren also schon in Jüngern Buddhas und in
Jüngern Jesu implantiert. Die Überwindung alles Menschlichen ist
ihnen gelungen. Das Garten-Experiment war damit am Ende, der Garten kann nun
"rezykliert" werden. Bei diesem Rezykling werden die Menschen sterben, ein
neuer Chief-Administrator wird dann das Rohmaterial der Erde für ein
neues Garten-Experiment mit neuen Behältern verwenden.
Die Gegenmacht: Luci und seine Space Aliens
Die Widerstände und Pseudoerinnerungen der Behälter sind nun aber
nicht das einzige, womit der Vertreter und die werdenden Seelen zu
kämpfen haben. Im Gegenteil, sie sehen sich einer gegnerischen Macht
gegenüber, die ebenfalls ufonisch, wenn auch längst nicht auf
demselben technologischen Stand wie die Nächste Ebene stehend,
vorgestellt wird. Es handelt sich bei diesen Ufonen "zweiter Klasse" um
"Depots" aus dem vorhergegangenen Garten-Experiment, die sich nicht dem
damaligen Vertreter anschliessen mochten, oder ihn wieder verliessen, und
deshalb keine Nächste-Ebene-Behälter
übernehmen durften. Sie erhielten Ufonen-Behälter zweiter Klasse.
Auch die Zweitklass-Ufonen sind hierarchisch strukturiert, an ihrer Spitze
steht Lucifer, von Do zärtlich "Luci" genannt. Lucis Ufonen unternehmen
es nun, die Menschheit zu beeinflussen, wofür sie etwa auf Radiowellen
zurückgreifen. Resultat dieser Bemühung ist eine veritable
"Programmierung" der Menschen im Sinne von Lucis Leuten. Inhaltlich
vermittelt Luci etwa humanistische Werte und "family values", ein besonderes
Anliegen ist es den Luci-Ufonen jedoch, die Lehren des Vertreters nach
Abschluß von dessen Besuchen systematisch zu verfälschen.
Insofern sind heutiges Judentum, Buddhismus und Christentum nichts anderes
als Luzifer-Dienst.
Der Chief-Administrator, dem es ein Leichtes wäre, dem Treiben Lucis Einhalt zu gebieten, läßt die Luci-Ufonen gewähren. Sie erfüllen ihre Aufgabe in seinem Plan, insofern ihre Gegenwart den Menschen mit Depots Entscheidungsfreiheit gibt. Sie können nun, so wird betont, frei wählen zwischen Luci und dem Vertreter (wie sich der behauptete Freie Wille mit dem Gedanken einer systematischen Programmierung verträgt, bleibt allerdings offen. Üblicherweise widersprechen sich die beiden Konzepte diametral).
Die in den letzten Jahren populären Berichte von zumeist graugesichtigen Ausserirdischen, die Menschen entführt und für oft sexuelle Experimente mißbraucht haben sollen, wurden von Applewhite in dieses Lehrkonzept integriert. Lucis Ufonen werden mit diesen Grauen identifiziert, die Experimentierfreude der Grauen findet hierbei eine glatte Erklärung: So gelten die Zweitklass-Ufonen genauso wie die Nächste-Ebene-Vertreter als geschlechtslos und damit nicht zur Fortpflanzung fähig. Zur Vermehrung ihrer Behälter sind sie deshalb auf menschliches Keimmaterial angewiesen, welches, so die Berichte, bei den Entführungen oft entnommen wird.
Neben diesem Einbezug populärer Vorstellungen ermöglicht die Konzeption der Luci-Ufonen Applewhite auch eine massive Warnung gegenüber potentiellen Aussteigern: wäre es doch ihr Schicksal, während des nächsten Garten-Experimentes, das an das jetzt zu Ende gehende anschließen wird, ebenfalls zu Luci-Ufonen zu werden.
Re-Programmierung
Angesichts von Lucis Wirken erfährt die Aufgabe der werdenden Seelen im
"Schulzimmer" des Vertreters eine nochmalige Verschärfung: Die
Behälter, die sie
übernahmen, sind systematisch mit falschen Vorstellungen programmiert,
die es zu überwinden gilt. Dies ist nur möglich durch eine ebenso
systematische Re-Programmierung durch den Vertreter. Do spricht von
"Gehirnwäsche", die notwendig ist, um die Programmierung durch Luci
loszuwerden. Der "Computer" des Behälters, das Gehirn, muß
konsequent gereinigt werden. Dazu ist dienlich etwa ein tägliches
Kontrollgespräch mit dem Vertreter, das alle Fehlleistungen aufdeckt,
die Gruppierung der Seelen je zu zweien verschiedenen Geschlechts zwecks
gegenseitiger Kontrolle, wobei keine auch noch so kleine Entscheidung ohne
Rücksprache mit dem "check partner", dem "Kontrollpartner", getroffen
werden darf, zwischenzeitlich auch Kontrollgänge zum Vertreter, die
alle zwölf Minuten zu erfolgen hatten. Angesichts von Lucis
Programmierung ist es für werdende Seelen unerläßlich, den
Gedanken des eigenen "Computers" grundsätzlich zu mißtrauen und
sich nur auf die Aussagen des Vertreters abzustützen. Der Vertreter ist
somit der einzige Garant für ein Weiterkommen auf dem Weg zur
Nächsten Ebene, er wird zum einzigen Inhalt des Lebens und zum Objekt
der Verehrung. Die Beziehung zu ihm als zum eigenen
Älteren Mitglied, dessen jüngeres Mitglied man in der
Nächsten Ebene sein wird, ist hier auf Erden schon vorgeformt.
Der Übergang
Für die Belohnung der Seelen, die alles Menschliche uuml;berwunden
&haben, die Übernahme eines Behälters der
Nächsten Ebene, wurden zwei Wege diskutiert: Erwartet wurde vorerst die
Ankunft eines Ufos, das als "Garderobe" figurieren sollte: Das eine Kleid,
der Mensch, sollte dort abgelegt, und das neue Kleid, ein Ufone, angezogen
werden. Doch das Ufo kam nicht. Der Vertreter entschied deshalb, die
Behälter zuerst zurückzugeben und die Seelen ohne Behälter
auf die Reise zur Nächsten Ebene mitzunehmen. Diese Rückgabe
erfolgte peinlich sauber (wie man eben eine /Leihgabe zurückgibt) unter
ordentlicher Beilegung der Fahrzeug("vehicle")-Papiere und gar mit Bezahlung
einer Miete für die Benutzung der Behälter (so sind
möglicherweise die Fünf-Dollar-Scheine samt einigen Kleingelds in
den Taschen der Toten zu deuten: Mehr sind Menschen als Behälter ja
nicht wert).
Traditionsgeschichte
Will man die Lehren von Heaven's Gate traditionsgeschichtlich einordnen, ist
es angezeigt, zuerst zu untersuchen, in welchen Traditionen Heaven's Gate
nicht steht: Der naheliegende Gedanke, Heaven's Gate über seinen
Co-Gründer auf presbyterianisches Christentum zurückzuführen,
scheitert. Mit ihm verbindet die Lehre von Heaven's Gate nichts, man denke
etwa an die Betonung des freien Willens in Heaven's Gate, eine Lehre, die
von den Presbyterianern als Anhänger der Prädestination abgelehnt
wird. Die Sexualfeindlichkeit von Heaven's Gate ist dem Presbyterianismus
als ausgesprochen familienfreundlicher Konfession gänzlich fremd
(Applewhite polemisiert denn auch des
öftern gegen die "family values" seiner ehemaligen Kirche und meint,
dieser gehe es nur darum, die Befriedigung der Sinnenlust vor Gott zu
rechtfertigen). Weiters ist dem Presbyterianismus die Unsterblichkeit der
Seele eine wichtige Lehre, diese lehnt Heaven's Gate ab. Fazit: In allen
entscheidenden Grundlehren nehmen der Presbyterianismus auf der einen und
Heaven's Gate auf der anderen Seite diametral entgegengesetzte Positionen
ein. In Detaillehren besteht ohnehin keine Übereinstimmung.
- Nichts zu tun hat die Lehre des Heaven's Gate mit östlicher Religion. Heaven's Gate kennt keine eigentliche Reinkarnationslehre und nichts, was der Vorstellung von Karma entsprechen würde. Allein die sich wiederholenden "Garten- Experimente" könnte man den Weltzyklen östlicher Religionen gleichsetzen. Aber angesichts fehlender weiterer Parallelen liegt hier kaum direkte Beeinflussung vor.
- Von der Theosophie, ansonsten im New Age wichtig, scheint Heaven's Gate ebenfalls nicht beeinflusst zu sein. Neben der fehlenden Reinkarnation fällt hierbei ins Gewicht, daß Heaven's Gate keinen eigentlichen Entwicklungsgedanken kennt, sondern eigentlich nur eine Ebene, die "nächste", die dann "Garten- Experimente" schafft. Höhere, aufgestiegene Meister spielen keine Rolle im theosophischen Sinn. Deutliche Parallelen zeigen sich aber zwischen Heaven's Gate und Lehrelementen der Mormonen wie der Scientology.
- Die Mormonenkirche lehrt, daß es dem Menschen bei Bewährung möglich ist, nach dem Tod in einen göttlichen Rang aufzusteigen und selbst eine Welt zu schaffen, wobei die Lebewesen, die man dann schafft, einen als Gott verehren würden. Zum Aufstieg in diesen göttlichen Status bedarf es spezifischen Wissens, das im Mormonentempel gelehrt wird, und der Einhaltung bestimmter Enthaltungsregeln. Auch lehren die Mormonen die Körperlichkeit Gottes.
Soweit lassen sich die Lehren parallelisieren. Es zeigen sich aber auch scharfe Differenzen: Die Mormonen verzichten, natürlich auch zeitbedingt, auf jegliche Ufo- Theorien; außerdem sind ihnen die von Heaven's Gate abgelehnten "family values" sehr wichtig: Nur wer verheiratet ist, hat die Chance, Gott zu werden. - Scientology zeigt die nächste Parallele zum Seelenverständnis der Heaven's Gate-Lehre. Der scientologische "Thetan" scheint förmlich der Pate von Dos und Tis "soul" samt "deposits" und "implants" zu sein. Wie die Heaven's Gate-Seelenkonzeption haftet auch dem Thetan etwas Quasi-Materielles an, und auch er speichert Ereignisse und Gelerntes. Scientologen können mehr als einen Thetan in und an sich tragen, der Thetan kann aus dem Körper austreten, der Thetan ist vom "mind", dem Verstand, getrennt, kann von diesem aber belastet sein. Auch die Geschichte der Thetane auf der Erde wird von der Scientology nicht weniger phantasievoll erzählt als die entsprechende Darstellung bei Heaven's Gate: Die Thetane wurden von einem intergalaktischen Tyrannen auf die Erde verbannt und in Körper gepresst. Die Einzelheiten der Geschichte sind denkbar verschieden, der gedankliche Hintergrund, die Seelenvorstellung ist aber offensichtlich äußerst verwandt. Kommt hinzu, daß die Scientology in internen Kreisen nach Auskunft von Ehemaligen weit öfter von Ufos spricht als gegen aussen zugegeben. Die diesbezüglichen Lehren sind aber nur in Umrissen bekannt.
- Weitere Elemente verdanken sich Publikationen der Ufo-Bewegung: Einiges an Theorien aus der Feder Erich von Dänikens meint man wiederzuerkennen, zumindest der Gedanke eines "Garten- Experimentes" findet sich ansatzweise in seinen Werken (allerdings auch weit darüber hinaus: Die Rael-Bewegung z.B. lehrt ganz ähnliches, die Konsequenzen fürs tägliche Leben, insbesondere die Haltung zur Sexualität, sind aber grundverschieden).
Gefährliche Lehren und Strukturen
Angesichts dieses neuesten Sekten-Massenselbstmordes stellt sich die Frage,
ob es denn nicht Merkmale von Gruppierungen gibt, die gefährdet sind,
den Weg der Weltentsagung bis zur letzten Konsequenz zu gehen, so daß
eine Art Frühwarnung möglich wäre. Ein Vergleich der
Ereignisse der letzten Jahre erträgt dabei folgendes: - Gefährdet
sind naturgemäß nur Gruppierungen, die das irdische Leben
bloß als Vorbereitung auf ein nächstes, eigentliches Leben gelten
lassen. Die irdische Existenz wird als defizitär abgewertet, Sehnsucht
nach dem Kommenden bricht aus.
- Wenn dieses irdische Leben unwichtig ist, kann dessen Qualität keine Ursache irgendwelcher Überlegungen sein. Eine gefährdete Gemeinschaft gibt mithin keine Tips für ein besseres Leben im Diesseits, sie beschränkt sich auf Hinweise für ein besseres Leben im Jenseits.
- Irdische Bindungen sind für die Vorbereitung auf das jenseitige Leben hinderlich. So ist es typisch für Gruppierungen auf dem Sprung ins andere Leben, daß sie Ehen aufbrechen resp. die Sexualität verbieten. Jim Jones hat Ehen willkürlich aufgelöst, junge Frauen wie Männer hatten statt dessen ihm zur Verfügung zu stehen. Vernon Wayne Howell alias David Koresh hat alle Ehen geschieden und sämtliche Frauen mit sich selbst verheiratet. Bei den Sonnentemplern wurden Ehepaare getrennt und neu kombiniert. Freier Zugriff der Führung war ebenfalls selbstverständlich. Gruppierungen, die die Ehe als Institution achten oder gar fördern, zeigen dadurch, daß sie mit dieser Welt weit mehr versöhnt sind als Gemeinschaften, die eine Ehe nur als hinderlich betrachten. Insofern sind es gerade die vielkritisierten "Massenhochzeiten", die eine gewisse Gewähr dafür bieten, daß der Mun-Bewegung ein entsprechend tragisches Ende kaum bevorsteht.
- Die Absage an die Welt in letzter Konsequenz, der Selbstmord, kann als maximal denkbare Form der Hingabe und Gehorsamsleistung nur der höchsten Autorität gegenüber erbracht werden. De facto kann nur Gott selbst den Selbstmord anordnen. So ist es typisch für gefährdete Gruppierungen, daß der heilsgeschichtliche Anspruch der Führung jede auch nur relative Bescheidenheit ausser acht ließ. Jim Jones proklamierte sich zu "Gott", David Koresh unterschrieb seine letzten Briefe als Koresh Jahweh, und für die Heaven's Gate-Anhänger war nicht fraglich, daß Gott in Gestalt der Psychiatrieschwester Nettles unter ihnen weilte und sie nun via ihren Sohn Applewhite zu sich rief. Meister, die so bescheiden bleiben, sich als Gott untergeordnet zu erleben, sind offenbar weit weniger in Gefahr, einen Massenselbstmord anzuordnen (und wenn sie es dennoch tun, wird ihnen nicht gefolgt, vgl. die vergebliche Aufforderung Shoko Asaharas an seine Anhänger, Selbstmord zu begehen).
Eine der letzten Botschaften
Eine der letzten Botschaften von Heavens Gate im Internet war ein Dank an
Scientology für die Zerstörung des Cult Awareness Networks (CAN)
Der Church of Scientology eine Beifallssalve für ihre mutige Aktion
gegen das Cult Awareness Network!
Nach unserer Ansicht lag keine Gruppe in ihrer Beurteilung anderer so sehr "daneben" wie CAN. Keine Gruppe war in ihrer Verdammung der Unschuldigen so fehl am Platze wie CAN.
Sie beschuldigten unsere Gruppe "kultischer Aktivitäten" und verbreiteten alle Art von Lügen über uns. Wenn wir um ein Gespräch mit ihnen baten, um einige ihrer falschen Beschuldigungen richtig zu stellen, weigerten sie sich, zuzuhören. Ihnen ging es nur darum, unsere finanziellen Unterlagen zu sehen, und ironischer Weise haben wir wirklich überhaupt keine nennenswerten Finanzen. Sie machten keine Anstrengung, die Fakten festzustellen, auch dann nicht, wenn diejenigen, die diese Fakten am genauesten angeben konnten, im wahrsten Sinne des Wortes auf ihrer Schwelle standen.
Wir hoffen, ihr werdet weiterhin im Interesse der Gedankenfreiheit für alle werben.
Die Geschichte beweist, daß fast jeder begriffliche Meilenstein, der jetzt als "gut" gilt, einstmals als "Kult" betrachtet wurde. In den frühen, den Anfangsstadien jedes bedeutsamen Denkens auf dem neuesten Stand scheint irgendeine Verkörperung der engstirnigen Opposition es auf sich zu nehmen, sein Existenzrecht zu bedrohen.
Daher noch ein Dankeschön von uns allen, die entschlossen sind, die Suche nach der Wahrheit auf alternativen Pfaden fortzusetzen. Und danke von denjenigen, die eintreten für das Recht anderer, ebenso zu handeln.
Im Dienste der Nächsten Stufe Der sogenannte "UFO-Kult"
Georg Otto Schmid, 32, ist nach Studium der Theologie seit 1993 Mitarbeiter der Ev. Informationsstelle in Greifensee/Schweiz