Zur Vorgeschichte
Das Oberverwaltungsgericht Münster lehnte mit seiner am 23. Mai 1996
veröffentlichten Entscheidung den Erlaß einer einstweiligen
Anordnung gegen die geplante Informationsbroschüre der Bundesregierung
ab (Az.: 5B 168/94). Den Erlaß einer solchen einstweiligen Anordnung
hatte der "VPM" (Verein für psychologische Menschenkenntnis), Hauptsitz
Zürich, beantragt, um in der geplanten Informationsschrift der
Bundesregierung nicht dargestellt zu werden. Prof. Abel stellt in seinem
Beitrag Inhalt und Bedeutung der Entscheidung des OVG Münster dar.
-Red.
Seit langem plant das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) die Veröffentlichung einer Informationsbroschüre über neuere Gruppierungen auf dem Markt von Religionen, Weltanschauung und psychologischer Lebenshilfe, die Gegenstand öffentlicher Kritik sind und von denen Gefahren für den Einzelnen ausgehen können. Das Ministerium hält sich damit im Rahmen der dem Staat auferlegten weltanschaulichen Neutralität. Auch wenn manchen Betroffenen diese staatliche Aktivität bei weitem unzureichend erscheint, waren und sind einige der angesprochenen Gruppen bemüht, eine solche amtliche Information über sich schon im Vorfeld zu verhindern.
Der als klagefreudig bekannte Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis (VPM) hatte zu diesem Zweck beim Verwaltungsgericht Köln eine einstweilige Anordnung mit dem Ziel beantragt, dem BMFSFJ die Weitergabe einer Reihe von Informationen und Wertungen zu verbieten. Der VPM wandte sich ganz grundsätzlich dagegen, in der geplanten Broschüre "Sogenannte Jugendsekten und Psychogruppen in der Bundesrepublik Deutschland" überhaupt aufgeführt zu werden.
Sodann sollte das Buch von Hugo Stamm (VPM Die Seelenfalle..., Zürich 1993) nicht erwähnt werden dürfen.
Hilfsweise war der VPM nicht mit Wertungen einverstanden, etwa daß er eine "autoritäre bis totalitäre Struktur" habe, ein "Sendungsbewußtsein" entwickelt habe und daß es sich bei ihm um "Therapiegemeinschaften" ("Psychogruppen") handele und man eine "Ideologie" verträte.
Auch die Wertung, daß der VPM "Psychoterror" ausübt oder ausüben läßt, und seine Arbeit zu "Entfremdung" führt, sollte verboten werden.
Kläger waren neben dem VPM Zürich sieben deutsche VPM-Vereine (Darmstadt, München, Hannover, Berlin, Hamburg, Tübingen und Köln).
Das Verwaltungsgericht Köln hatte zunächst dem Begehren der deutschen Vereine stattgegeben. Nunmehr hat in zweiter und letzter Instanz das OVG für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster mit Beschluß vom 15. Mai 1996 die Anträge des VPM auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Entscheidung nach intensivem Aktenstudium
Das OVG hat seine Entscheidung aufgrund intensiven Aktenstudiums
gefällt. Die Gerichtsakte war mehr als 1000 Seiten dick und
umfaßte zahlreiche Beiakten. Dem gegenüber nimmt sich der
20-seitige Beschluß überschaubar aus. Wichtig sind folgende
Feststellungen. Nach Ansicht des OVG ist nicht erkennbar, daß die
geplante Veröffentlichung des BMFSFJ rechtswidrig ist. Auch wenn es
sich bei einstweiligen Anordnungen um ein sogenanntes summarisches Verfahren
handelt, bei dem nur eine generelle Prüfung stattfindet, sprechen nach
Ansicht des Gerichts gewichtige Anhaltspunkte dafür, daß das
Ministerium zu der geplanten Veröffentlichung berechtigt ist und der
VPM auch in einem Hauptsacheverfahren mit einem Unterlassungsbegehren keine
Erfolgsaussichten hätte.
Schutzpflicht des Staates bei Gefahr für verfassungsrechtlich
geschützte Rechtsgüter
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist der mit einer Warnung durch
die Bundesregierung verbundene Eingriff in etwaige Grundrechte Betroffener
dann legitimiert, wenn ein hinreichend gewichtiger, dem Inhalt und der
Bedeutung des berührten Grundrechts entsprechender Anlaß besteht,
wenn die mitgeteilten Tatsachen zutreffen und wenn negative Werturteile
nicht unsachlich sind, sondern auf einem im wesentlichen zutreffenden oder
zumindest sachgerecht und vertretbar gewürdigten Tatsachenkern beruhen.
Liegen diese Voraussetzungen vor, ist die Bundesregierung bzw. ein
Bundesministerium zur Wahrnehmung von Schutzpflichten (insbesondere solcher
aus Artikel 2 Abs. 2 und Artikel 6 Abs. 1 GG) zu einer öffentlichen
Aufklärung und/oder Warnung berechtigt. Hinreichende Anhaltspunkte
für eine Warnung bestehen, wenn eine Gefahr für
verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter oder zumindest der
begründete Verdacht einer solchen Gefahr vorliegt.
Auf Selbstzeugnisse gestützt
Dies hat das OVG Münster bejaht, und zwar aufgrund der Selbstzeugnisse
des VPM, der Erkenntnisse von Beratungsstellen, der Aussagen ehemaliger
VPM-Anhänger und unter Berücksichtigung von Sekundär-Literatur. In erster Linie hat sich der Senat auf die Selbstzeugnisse
gestützt.
Danach hält sich, so das Gericht, die Gefahrenbeschreibung und die kritische Würdigung des VPM im Zusammenhang mit seiner Einordnung als "Psychogruppe mit therapeutischem Anspruch" im Rahmen eines willkürfreien, sachlichen Werturteils, das auf einem vertretbar gewürdigten Tatsachenkern beruht.
Die Charakterisierung des VPM als "Psychogruppe mit Ausschließlichkeitsund Heilsanspruch" ist nicht zu beanstanden. Vertretbar ist die Darstellung des Ministeriums, wonach der VPM einen absoluten Anspruch vertritt, allein die richtige Lösung für die verschiedenen Fragen des menschlichen Zusammenlebens anbieten zu können und dies unter anderem durch den Aufbau eines neuen "Gemeinschaftsgefühls" erreicht werden könne. Ebensowenig zu beanstanden ist die Bewertung der Bundesregierung, der VPM weise eine autoritäre bis totalitäre Struktur auf.
Auch die Bewertungen "Sendungsbewußtsein", "Dogmatismus" und "Ideologie" bleiben im Rahmen eines willkürfreien, sachlichen Werturteils; sie beruhen auf einem vertretbar gewürdigten Tatsachenkern.
Weiterhin stellt das Gericht fest, daß vieles für ein rigides Freund-Feind-Denken im VPM spricht und die von Beratungsstellen und ehemaligen VPM-Anhängern vorgetragene Kritik belegt ist, wonach der VPM gegenüber Andersdenkenden, auch solche aus den eigenen Reihen, mit einem psychologischen Unterdrückungsinstrumentarium vorgeht. Beanstandungsfrei ist schließlich die Feststellung des Ministeriums, wonach nicht nur Mitglieder des VPM gefährdet sind, sondern alle diejenigen, die an den Aktivitäten des VPM und seiner Mitglieder teilnehmen. Hierzu zählen nicht nur (junge) Erwachsene, sondern auch Jugendliche und Kinder, die ebenfalls eine Zielgruppe des VPM sind.
Informationen frei
Damit ist der Weg frei für die geplante Veröffentlichung des
Bundesfamilienministeriums. Das bereits seit 1993 andauernde Verfahren hat
sein Gutes. Die Passagen, die der VPM für besonders wesentlich
hält, haben vor den bekannt kritischen Augen des VG Münster
Bestand gehabt. Damit darf man davon ausgehen, daß der Inhalt der
vermutlich demnächst erscheinenden Broschüre den
gegenwärtigen Erkenntnisstand umfassend, zutreffend und sachlich
darstellt. Damit wird der interessierten Öffentlichkeit, aber auch
Behörden und Gerichten eine notwendige Information an die Hand gegeben,
die nicht im Verdacht steht, einseitige Interessen zu vertreten (in
ähnlicher Weise liegt bereits eine Informationsbroschüre über
"Die Scientology-Organisation" vor).
Prof. Dr. Ralf Bernd Abel, 47,
Wirtschafts- und Informationsrechtler, hat jahrelange Erfahrungen als
Rechtsanwalt und Notar mit einschlägigen Fragen gesammelt. Nach dem
Studium in Tübingen und Göttingen promovierte er mit einer Arbeit
über die verfassungsrechtlichen Grenzen der Religionsfreiheit in Bezug
auf neue Jugendreligionen. Seit 1995 gehört er zum Wissenschaftlichen
Beirat des BERLINER DIALOG.