In der "Philokalie"
In der "Philokalie" (auf deutsch: "Tugendliebe" oder
"Blütenlese"), einer geistlichen Schrift aus der orthodoxen Kirche, die
1792 in Venedig erschien, heißt es:
"Es ist dir bekannt, Bruder, wie wir atmen. Wenn du dich in deiner Zelle niederläßt, sammele deinen Geist, binde ihn an den Atem. Laß ihn aber nicht still, sondern sprich dazu 'Herr Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner-".
Die christliche Meditation, wie sie die orthodoxen Mönche (auf dem Athos) üben und lehren, bindet den Geist an den Atem, aber sie bleibt dabei nicht stumm. Man verwendet ein biblisches Wort, das unablässig wiederholt wird. Das Achten auf den kreatürlichen Atem führt den Beter vor den GOTT ÜBER UNS, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Es ist wichtig für das geistliche Leben, schweigend zu atmen und atmend zu schweigen. Aber es erschöpft sich nicht darin. Das Jesusgebet verbindet den Meditierenden in besonderer Weise mit Jesus Christus, dem GOTT UNTER UNS.
Zur Herkunft des Jesusgebets
Das Jesusgebet hat sich im Bereich der Ostkirche entwickelt und ist dort bis
heute bewahrt worden. Es kam im 4. Jahrhundert bei den ägyptischen
Mönchen auf. Seine Wurzeln reichen bis in das Judentum: In der alten
Zeit las man laut. Es gab keinen Unterschied zwischen Lesen, Beten und
Auswendig-Nachsprechen. Ein rein gedankliches Nachsinnen kannte man nicht.
Lautes Lesen und Beten gingen ineinander über. In Psalm 1, 2 ist dieser
Brauch zu erkennen:
Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!
Unter "nachsinnen" verstehen wir heutzutage! ein stummes Nachdenken. Die zugrundeliegende hebräische Vokabel "hagah" bezeichnet keinen stimmlosen Vorgang, auch keine um Erkenntnisgewinn bemühte Schriftauslegung, sondern ein murmelndes Bedenken, durch das die Schrift ins Herz hinein gesprochen wird. Bei dem murmelnden Psalmenbeten stehen wir an der Wiege der christlichen Meditation. Die lateinische Übersetzung der hebräischen Vokabel "hagah" ist "meditari", von dem unsere Worte Meditation und meditieren stammen. Meditieren ist in diesem ursprünglichen Sinn das murmelnde Beten eines Schriftwortes, die Wiederholungsmeditation. Sie wird eigentümlicherweise auch "wiederkäuen" genannt.
Eine Leserin unseres Gemeindeblattes hat mir den folgenden Text einer englischsprachigen Morgenandacht zur Verfügung gestellt, in dem dieser Ausdruck dem heutigen Leser nahegebracht wird:
"Ich mag den Anblick von Kühen, die wiederkäuend auf der Weide
liegen. Sie schlagen sich erst einmal den Pansen mit Gras und anderem Futter
voll. Dann machen sie es sich bequem und kauen es in aller Ruhe noch einmal
durch. Sie holen dazu das Futter in kleinen Portionen aus ihrem Vorratsmagen
in die Mundhöhle zurück und sind dann eine ganze Zeit weiter damit
beschäftigt. Das ist zwar zeitaufwendig, aber gewiß keine
Zeitverschwendung. Denn nur so können die kostbaren Vitamine für
die Milch gewonnen werden. Der Begriff "wiederkäuen" bezeichnet die
Meditation, wie sie z.B. der Beter des 119. Psalms
übt, wenn er sagt:
'Über deine Anordnungen will ich nachsinnen (englisch
meditate -I Meditation) und auf deine Pfade blicken (englisch contemplate
-I Kontemplation, zu diesen Begriffen später).-
Meditation ist mehr als eine andächtige Bibellektüre. Es geht um
die Hineinnahme des biblischen Wortes in das tägliche Leben. Gottes
Wort ist kein Schnellgericht. Es ist es wert, für lange Zeit
wiedergekäut zu werden."
In den "aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers", auch einer Erbauungsschrift aus der russisch-orthodoxen Kirche, steht eine Erzählung, die die geistliche Bedeutung jenes meditativen Schriftmurmelns herausstellt.
Die Erzählung handelt von einem Fähnrich in der Armee des Zaren: Als der Fähnrich dem Alkohol verfallen, auf dem Tiefpunkt seines Lebens angekommen ist, reicht ihm sein Beichtvater ein Buch mit den vier Evangelien:
"Nimm dieses Buch. Versprich mir, es immer dann zu lesen, wenn der große Durst kommt." Als der Fähnrich entgegnet: "Und wenn ich es nicht verstehe?" empfiehlt ihm der Beichtvater, auf die heiligende Kraft der Worte zu vertrauen: "Wenn du das Wort Gottes nicht verstehst, so verstehen doch die Teufel das, was du liest und zittern." So greift der Fähnrich vor dem nächsten Gang ins Wirtshaus nach dem Buch und beginnt in der beschriebenen Weise zu lesen. Das hält ihn so lange fest, bis die Abendglocke läutet und er nicht mehr die Kaserne verlassen kann. Immer wieder hält ihn das Evangelium so vom Gang in das Wirtshaus ab, bis sein Leben nach und nach in Ordnung kommt. Aber er wird nie mehr darauf verzichten, an jedem Tag das Evangelium zu lesen. Durch das meditierende Lesen der Schrift findet er in das Kraftfeld des Heilswerkes Jesu Christi. Er wird zu einem Menschen, in dem Jesus Christus im Heiligen Geiste Wohnung nimmt.
Murmelnd meditiert werden vor allem die Psalmen und die Evangelien. Als Kurzfassung des Evangeliums sind auch einzelne Bibelworte in Gebrauch. Am bedeutendsten ist das schon erwähnte Jesusgebet, das wir in unserer Meditationsgruppe in der westlichen Form sprechen:
"Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner."
Das regelmäßige Beten dieser Worte möchte in das Kraftfeld des Heilswerkes Jesu Christi führen. Es verbindet mit dem Sohn Gottes, dem Heiland und Erlöser.
Der Sohn Gottes
Das Jesusgebet beginnt mit dem anbetenden Bekenntnis "Jesus Christus, Sohn
des lebendigen Gottes" Jesus Christus der Sohn Gottes, vielleicht erscheint
bei diesen Worten vor dem inneren Auge des Meditierenden die
Dreifaltigkeitsikone des russischen Malermönches Andrej Rubljow aus dem
13. Jahrhundert, die bis heute für die Christen in Rußland einen
unübertroffenen geistlichen Rang besitzt: Im Halbkreis um einen Altar
sitzen drei gleichgestaltete Engel mit Wanderstäben in ihren
Händen. Unterschieden nur durch ihre Gewandung und die Haltung ihrer
Häupter. Zwei Engel, der rechte und der mittlere, verneigen sich vor
dem, der auf der linken Seite sitzt. Bei aller Einheit, die unter ihnen
herrscht, wird mit dieser Geste die Ehrerbietung des Sohnes und des Hl.
Geistes dem Vater gegenüber zum Ausdruck gebracht. Die Rechte des
Vaters erteilt den Segen zum Sohn. Dieser gibt den Segen dem Hl. Geist
weiter, der ihn dem Betrachter zuwendet. Wie überhaupt der Betrachter
sich in den Halbkreis der heiligen Gestalten einbezogen fühlt.
Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, das ist eine der drei göttlichen Personen der Hl. Dreifaltigkeit, der menschgewordene Gottessohn. In ihm ist der ewige Gott über uns unter uns Menschen getreten. Durch ihn gewinnt der Gottesglaube unter uns Gestalt. Durch ihn erfahren wir, wie Gott zu uns steht, was er von uns erwartet und wie wir mit ihm ins Reine kommen können.
Der Heiland
"Erbarme dich meiner!", lautet der zweite Teil des Jesusgebetes.
Immer wieder wurde dieser Ruf an Jesus gerichtet, als Ruf der Ohnmacht,
Armut und Hilfsbedürftigkeit. In diese Schar der Hilfesuchenden und
Hilfeempfänger reiht sich auch der heutige Beter ein. Der blinde Sohn
des Timäus z.B. hatte keine andere Chance mehr als am Stadttor von
Jericho die Hand aufzuhalten. Als er hört, daß dieser Jesus naht,
da läßt er sich von niemanden zurückhalten. Er brüllt
aus Leibeskräften um Hilfe. Er spürt, daß alles auf dem
Spiel steht. Jetzt oder nie wird sich das Blatt wenden. Jesus hört
nicht nur den Schrei, er erkennt, wie groß die Not und stark sein
Glaube ist. Er kommt und hilft. Auch die zehn Aussätzigen, der Vater
des kranken Sohnes und die kanaanäische Mutter wenden sich in ihrer Not
an Jesus.
So wird in der Begegnung mit Jesus neu Wirklichkeit, was Israel seit Jahrhunderten betet:
"Rufe mich an am Tage der Not, dann rette ich dich und du wirst mich ehren." (Psalm 50, 15)
Von dieser Zusage Gottes des Vaters machten die Notleidenden Gebrauch, als Jesus in ihrer Nähe weilt. Der Sohn handelt als Stellvertreter Gottes des Vaters. Er bringt Heilung und Heil.
Der Erlöser
"Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns
selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Sünden
bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden
vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, wir haben
nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist
nicht in uns." (1. Johannesbrief 1, 8-10)
Die Behebung persönlicher Notlagen war nur ein Teil der Hilfe, die Jesus leistet. Im Zentrum seines Wirkens steht die Versöhnung mit Gott. Das wird von seinem Kreuzestod her deutlich. Versöhnung ist nötig, wenn es Streit gab. Gott und der Mensch liegen im Streit, weil und solange sich der Mensch dem Willen Gottes verschließt. Ein Christ unterscheidet sich in unserer Zeit von einem Nichtchristen vor allem durch das Bewußtsein der Schuld vor Gott und den Menschen. Er ist bereit, über sich selbst betroffen zu sein und weiß daß er immer wieder Grund hat, Gott um Erbarmen zu bitten. Das widerspricht völlig dem Trend. Heutzutage wird der Mensch als ein zu Fehlern prädisponiertes Produkt seiner Erziehung und seiner Erbanlagen gesehen.
Jesus Christus hat im Anschluß an die Zehn Gebote und über sie hinaus eine Vertiefung des Schuldbewußtseins bewirkt. Die Zehn Gebote haben nicht nur die Taten des Menschen, sondern auch seine Worte im Blick.
"Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten."
Dementsprechend lehrt Jesus: "Was zum Mund hineingeht, das macht den Menschen nicht unrein; sondern was aus dem Mund herauskommt, das macht den Menschen unrein." (Matthäus 15, 11)
Die Zehn Gebote haben über Taten hinaus, auch innere Beweggründe im Blick. Sie betreffen nicht nur das Stehlen (siebentes Gebot), sondern schon das Habenwollen (neuntes und zehntes Gebot). Jesus hat im Zusammenhang mit dem fünften und sechsten Gebot auf das Gewicht erheblich verstärkt, das das menschliche "Innenleben" vor Gott hat.
"Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: 'Du sollst nicht töten-; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig." (Matthäus 5, 21f.) Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen.Ich aber sage euch: "Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen." (Matthäus 5, 27f.)
Durch das Jesusgebet werden wir daran erinnert, daß wir als Gottesleugner, Brudermörder und Selbstzerstörer mit unserem Hochmut, unserer Trägheit und unserem Lügen auf das Erbarmen Jesu angewiesen sind. Jesus Christus ist nicht umsonst am Kreuz gestorben, sondern als Opfer für unsere Sünden.
Fazit
Ich meine, daß das Wesen der christlichen Meditation nicht ohne das
Jesusgebet bestimmt werden kann. Dabei wird deutlich, daß es in ihr
um die Verbindung mit dem Sohn Gottes, unserem Heiland und Erlöser,
geht. Es ist hilfreich, zu sich selbst zu finden und in die Stille einzukehren. Dies geschieht nicht, um mit sich dort allein zu bleiben, sondern um
so ein fruchtbares Stück Ackerland für das Samenkorn des
göttlichen Wortes zu werden.
Jesus Christus ist nicht ein verborgener Bestandteil meiner Seele ("Christusnatur"), den ich mit einer bestimmten Technik entfalten kann. Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, der GOTT UNTER UNS, war eine Gestalt unserer Geschichte. Jetzt lebt und regiert er außerhalb von mir zur Rechten Gottes. Er will mich durch sein Wort in der Hl. Schrift und der Predigt und durch die Sakramente in seiner Gemeinde erreichen. In ihrer Mitte ist der Platz der christlichen Meditation. Das ist ihr wahrer Rang und ihre Würde. Sie stellt keinen eigenen Heilsweg dar, sondern vertieft das Werk, das Jesus Christus durch Wort und Sakrament an mir tun will und tut.
Die Mittelpunktstellung Jesu Christi wird in unserer Meditationsgruppe durch das Christuslicht zum Ausdruck gebracht, zu dem hingewandt die Teilnehmer Platz nehmen. Sie werden dadurch zu einem Jüngerkreis zusammengeschlossen. Die Verbindung zu der betenden Kirche wird durch die Morgenhore (Stundengebet) hergestellt, die den Abschluß der geistlichen Übung bildet. Sie enthält einen Psalm, der gregorianisch gesungen wird, einen Hymnus, das Vaterunser und den Segen.
Pfr. Christian J. Hövermann, 48,
ist Pfarrer an der
"Kirche zum Heilsbronnen" in BerlinSchöneberg