"Wegen des Grundsatzes der religiös-weltanschaulichen Neutralität darf der Staat eine antragstellende Religionsgemeinschaft nicht nach ihrem Glauben, sondern nur nach ihrem Verhalten beurteilen": ob diese Schlüsselaussage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde der Zeugen Jehovas gegen die Versagung des Körperschaftsstatus in einem neuen Verfahrensdurchlauf überhaupt noch korrigiert werden kann, wie viele Kommentatoren erhoffen, muß bezweifelt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat das Urteil in dieser Sache zum Anlass genommen, eine tiefgreifende religionspolitische und unsere gesamte Kultur verändernde Entscheidung zu treffen, die sich in ihrem Profil freilich schon lange abzeichnete: das bestehende Staatskirchenrecht ist noch nie etwas anderes gewesen als eine aufgrund der Natur der Sache zugegebenermaßen labile Angelegenheit der Interpretation. "Es steht und fällt mit seinen Interpreten" (Isensee).
Es ging deshalb am 19. Dezember 2000 in Karlsruhe um die Grundrichtung der Rechtspolitik in allen künftigen Religionsentscheidungen unserer Obergerichte, die darin aktuell auf die Begriffe gebracht wurde. Unübersehbar fällt dem Beobachter die auffällig wiederholte Beschwörung der einseitigen Religions-Neutralität des Staates ins Auge: Körperschaftsrechte sind "ein Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit". Sie sind kein religionspolitisches Mittel des Staates selbst, der sich durch Religionsfragen bzw. Wertfragen gar nicht mehr berühren lassen und seine Legitimation in allen Entscheidungen auch nicht mehr auf (die christliche) Religion gründen will. Die Verfassungshüter haben das auch sie disziplinierende Joch der Religion kategorial abzuschütteln versucht. Die bis in Details übernommene Vorlage für dieses Urteil hat schon vor Jahren der emeritierte Münchener Staats- und Kirchenrechtler Dietrich Pirson geliefert (Religiöse Minderheiten nach der Rechtsordnung der BRD, in: J. Neumann/ M.W. Fischer, Toleranz und Repression, 1987, 99-117): religiöse Motivierung ist nur noch ein Grundrecht, das lediglich im Zusammenhang mit der Etablierung einer Staatsverfassung gewährleistet wird. Religion hat danach mit hoheitlichen Fragen im Prinzip nichts mehr zu tun und deshalb "... kann ein freiheitlicher Staat zwar keine limitierenden Anforderungen an die religiösen Überzeugungen stellen, wohl aber an das aus solchen Überzeugungen fließende Verhalten". Das Religionsverständnis der Verfassung ist mit dieser Denkrichtung theoretisch zwar weiterhin auf die "Anforderung einer minimalen Objektivierbarkeit der religiösen Motivierung" angewiesen. Aber praktisch wird es wie in den USA kaum mehr möglich sein, eine vorausgesetzte "Konnexität von Glauben und Verhalten" in allen Fällen zweifelsfrei zu identifizieren und nachvollziehbar zu machen, daß dieses und jenes "Verhalten" tatsächlich wenigstens auch aus Religion geschieht oder nicht geschieht (vgl. zu den Folgen Maunz/ Dürig, Grundgesetz-Kommentar 39f).
Der Willkür die Tür geöffnet
Der politischen Willkür in Sachen Religion ist damit auch bei uns Tür und Tor geöffnet. Staat und politische Klasse versuchen mit dieser Urteilsrichtung sich auch die Kirchen schlicht zu unterwerfen. Wer oder was hindert nun bei anderen Versuchen eine nur noch als Deckmantel eines primären Gewinnstrebens dienende, berechnet geheuchelte Behauptung religiöser Motivation zur Verfolgung "religiös mittelbarer Ziele" wie Wirtschaftsmacht und Kapitalerwerb? Man vergesse nicht die Tatsache, daß auch das in diesem Verfahren meistkritisierte "Verhalten", die für die Gruppenkohäsion der Zeugen Jehovas konstitutive Verweigerung der Bluttransfusion, vom Bundesverfassungsgericht schon seit langem unter den Schutz der Religionsfreiheit gestellt ist (BverfGE 33,32;). Die Wiederholung des Anerkennungsverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht wird den Zeugen Jehovas also zweifellos den Sieg bringen. Und damit wird eine schon seit der Weimarer Zeit in Deutschland wie in den USA selbst wegen ihrer aggressiven antikirchlichen Propaganda und ihrem provozierend selbstgerechten Auftreten gegenüber Staat und Gesellschaft mit Recht öffentlich kritisierte apokalyptische Sekte mit den das Gemeinwesen des Grundgesetzes immer noch tragenden christlichen Kirchen gleichgestellt. Was die PR-Hilfstruppen der Zeugen Jehovas mit ihrem Streben nach den wirtschaftlichen Vorteilen des Körperschaftsstatus erreichten (wollten), war eine Herausnahme aller Kirchen-Religion aus öffentlichen Belangen "in gleicher Weise zuungunsten christlicher Glaubensverwirklichung wie zuungunsten religiöser Minderheiten" (Pirson). Damit ist nicht nur eine besondere deutsche Rechtskultur aufgehoben. Etatistische Selbstüberschätzung - der Staat macht sich in spezifischer Weise selbst zur "Kirche" - hat in tragischer Weise auf die Müllhalde der Geschichte geworfen, was der Staat des Grundgesetzes auch den Kirchen immer noch verdankt.
Reduktion auf Utilitarismus
Ursächlich erscheint in diesem Karlsruher Spruch der Vollzug der in der politischen Klasse längst zur dominanten Weltanschauung gewordenen Reduktion der Staatsphilosophie auf einen populären und vordergründig immer eingängigen, aus dem angloamerikanischen Staatsdenken wohlbekannten Utilitarismus. Dieser begreift das Religiöse nur noch als ein gesellschaftliches Verhalten unter anderen, dessen Inhalte nicht nur auf ein metaphysisches Minimum reduziert, sondern im modernen Utilitarismus sogar völlig gleichgültig sind. Der moderne, scheinbar autonome Mensch mit individuellen Interessen und Handlungsmöglichkeiten versagt sich die sein Glücksstreben hindernden Einengungen durch Tradition, Religion und Metaphysik und macht das gesellschaftliche Faktum zum Götzen: gerechtfertigt ist, was funktioniert. Die im 19. Jahrhundert im angelsächsischen Raum entwickelte utilitaristische Rechtskultur und Ethik ist vor allem als US-amerikanische Leitkultur selbst zu einer Ideologie geworden, die Glück primär hedonistisch definiert und damit den säkularen Charakter der Moderne widerspiegelt. Recht und Moral, auf die alle verpflichtet werden sollen, kann nun auch in der Perspektive unseres Verfassungsgerichts nur noch von diesseitigen Bedürfnissen und Interessen her bestimmt werden, so wie es Mill, der Klassiker des Utilitarismus definiert: "Der einzige Teil seines Verhaltens, für den ein Mensch der Gesellschaft verantwortlich ist, ist der Teil, der andere betrifft". Daß ein von diesem Grundsatz bestimmtes Gemeinwesen in der Rechtsanwendung das Religiöse schlicht verliert, entscheidende gesellschaftliche Kritikpotentiale stillegen und dann durchaus auch ein totalitäres Regime in Gang halten oder auch erst in Gang bringen kann, ist offenkundig: Jede religiös-moralische Ableitung, ja schon die begrifflich-kritische Klarheit stört, weil die tatsächlichen Kriterien des Handelns und Urteilens, wie in Karlsruhe nun für alle Obergerichte vorgeschrieben, durch stets perspektivisch steuerbare "empirische Prüfung" ausschließlich aus der Lebenswirklichkeit genommen werden, wo Macht und Magie der PR in der Medienlandschaft, wie die Erfahrung zeigt, im Blick auf die öffentliche Meinung oft genug mitbestimmend geworden ist.
Die Entfernung von Religion aus relevanten politischen Zusammenhängen
Nicht wenige Intellektuelle in Deutschland haben freilich die so schon seit langem schwelende rechtskulturelle Herausforderung durch den Utilitarismus begriffen und suchen nach neuen geistigen Modellen der "Assimilation von Lebenssachverhalt und Norm", die auch prinzipielle Interventionen des Staates aus moralischen und religiösen Gründen inhaltlich plausibel beschreiben können. Die staatsrechtsphilosophische Programmschrift "Negativer Utilitarismus" des Münchener Staatsrechtslehrers Arthur Kaufmann von 1994 war ein, wie ich sehe, hier erster, von Juristen wie Theologen noch zu wenig beachteter, auch für das Staat-Religion-Kirche Verhältnis interessanter Versuch, ein Problem zu lösen, für das unsere europäische Kultur offensichtlich doch noch mehr Substanz bereithält als ein neuer, aus der angloamerikanischen Denkwelt kopierter, scheinbar nur der empirischen Lebenswelt verpflichteter Utilitarismus, der unter Religionsfreiheit hauptsächlich versteht, die Religion aus allen relevanten politischen Zusammenhängen zu entfernen. Vergessen wir nicht: Auch eine Demokratie lebt nicht nur davon, daß ihre Bürger/innen sich in ihr verhalten, sondern am meisten und zuletzt deshalb, daß sie in irgendeiner Weise mit mehr oder weniger religiösen Gründen auch an die Demokratie glauben.
Pfr. Dr. Richard Ziegert, Ludwigshafen, ist der Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Ev. Kirche der Pfalz.
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