Sektenbericht der Französischen Nationalversammlung

von Emanuelle Kaufmann

  1. Neuer Sonnentempler-Mord
  2. Der Parlamentsausschuß und sein Bericht
  3. Die Reaktion auf den Sektenbericht

Am 10. Januar 1996 wurde der Bericht einer Enquete-Kommission der Französischen Nationalversammlung "Les sectes en France" herausgegeben.

Neuer Sonnentempler-Mord

Der Parlamentsbericht hätte wahrscheinlich nicht so viele Schlagzeilen in Presse, Radio und Fernsehen gemacht, wären nicht kurz vor Weihnachten die verkohlten Leichen von sechzehn Mitgliedern des OTS (Sonnentemplerordens) in einer sehr einsamen Waldlichtung des zerklüfteten Voralpenplateaus Vercors (zwischen Grenoble und Rhonetal) gefunden worden. Darunter befanden sich drei Kinder und zwei französische Polizisten, deren Dienstwaffen in der Nähe lagen. Seit mehreren Tagen waren sie als vermißt gemeldet, doch erst am 23. Dezember wurden sie entdeckt. Bei der ersten Katastrophe im Oktober 1994 waren zwar auch Franzosen unter den Opfern. Luc Jouret, ein Belgier, war schon lange in Frankreich als Arzt tätig und benutzte seinen Titel, um Anhänger zu gewinnen. Der Franzose Di Mambro war der wirkliche Chef des Unternehmens. Aber das Drama hatte sich hauptsächlich in der (immerhin ganz nahen) Schweiz und in Quebec abgespielt. Viele Opfer waren auch Franzosen. Zuständig waren die Schweizer Behörden, Justiz und Polizei. Man munkelt, sie seien bei den Ermittlungen ziemlich langsam gewesen. Jedenfalls waren die z.T. niedergebrannten Häuser, wo die ersten "Übergänge" ("Transits") nach Sirius inszeniert worden waren, gar nicht oder nicht gründlich durchsucht worden. Noch Monate später konnte sich jeder holen, was ihn interessierte. So fanden zwei französische Fernsehjournalisten u.a. mehrere Tonbandkassetten mit Telefongesprächen zwischen OTS-Mitgliedern, kurz vor den ersten (Selbst)morden aufgenommen. (Der OTS bespitzelte seine Mitglieder!) Auszüge davon wurden bei einer Fernsehsendung am 21.03.96 vorgespielt (2. Fernsehen, "Envoy special"). Darin wurde die "Reise nach Sirius" diskutiert. Nicht alle schienen begeistert zu sein.

Jetzt aber war es im "Hexagon" geschehen. Der Staatsanwalt in Grenoble hat sofort eine Ermittlung wegen Mord, Beihilfe zum Mord und krimineller Vereinigung eingeleitet. In einem demokratischen Land ist es nicht leicht, Verbrechen vorzubeugen. Zwar war eine ganze Anzahl von OTS-Mitgliedern der Polizei bekannt, aber lange nicht alle. Man kann jedoch nicht jeden unbescholtenen Bürger von einem Polizisten bewachen lassen. Jetzt gibt es im Rahmen einer gerichtlichen Ermittlung mehr Möglichkeiten. So wurden in der dritten Märzwoche, kurz vor dem Vollmond nach der FrühlingsTag-und-Nachtgleiche, ca. vierzig Mitglieder des OTS festgenommen und verhört; einige blieben ein paar Tage in Haft und wurden dann freigelassen. In diese Woche fiel übrigens auch der Todestag des letzten Großmeisters des (echten) Templerordens, Jacques de Molay, der am 19. März 1314 unter König Philipp dem Schönen in Paris auf dem Scheiterhaufen starb. Aber diesmal geschah an dem markanten Datum nichts.

Der Parlamentsausschuß und sein Bericht

Der Ausschuß, bestehend aus 33 Abgeordneten, war Ende Juni 1995 eingesetzt worden, durch ein einstimmiges Votum der Nationalversammlung. Er bestand aus Mitgliedern aus jeder Partei nach dem Proporz. Er hatte sechs Monate Zeit, sich zu informieren, eine Synthese und Vorschläge vorzulegen. Es wäre unmöglich gewesen, in der kurzen Zeit das Sektenphänomen in allen seinen Dimensionen darzustellen es hätte Jahre beansprucht und eine Enzyklopädie produziert. Dennoch ist es erstaunlich, wie sich die Abgeordneten, die ja keine Spezialisten waren, schnell und gründlich informierten, und wieviel an Reflexion, Analyse und Synthese in die 126 Seiten des Berichtes gepackt wurde, der - eine Rarität - sogar pünktlich erschien. Alle verfügbaren Quellen wurden benutzt, viele Fachleute herangezogen und angehört: Mediziner und Juristen, Kirchenmänner, Soziologen, Psychiater, Verwaltungsbeamte, Ex-Mitglieder, und auch die gegenwärtigen Leiter und Sprecher der Sekten selbst. (Zu dem Wort "Sekten": der Ausschuß war sich wohl bewußt, daß das Wort anfechtbar ist. Doch da es jetzt in der französischen Sprachgemeinschaft ohne weiteres verstanden wird - als "destruktiver Kult" - wurde es im Bericht benutzt, obwohl "Sekte" kein juristischer Begriff ist.) Fast alle Ministerien wurden angezapft, mit mehr oder weniger Erfolg. Am bereitwilligsten zur Zusammenarbeit waren Außenamt, Sozial-, Familienministerium und Gesundheitsministerium, aber am ergiebigsten das Innenministerium, dessen "Direktion für allgemeine Information" ("Renseignements ge_[ne_[raux") über eine große Masse von Information verfügt, die im ganzen Land gesammelt und über die "Prefekten" jedes Departements an das Innenministerium geleitet wird.

Der Ausschuß war sich sofort bewußt, daß das Aussagen für die Zeugen gefährlich werden konnte; deshalb wurden die Sitzungen, die Namen der Angehörten und der Inhalt ihrer Aussagen, sowie die Diskussionen im Ausschuß streng geheim gehalten. Die Abgeordneten hatten schnell gemerkt, was für häßliche Gepflogenheiten einige Sekten haben. Trotzdem konnte sich eine der größten Sektenorganisationen den Bericht vor dem Erscheinen verschaffen. Wie zu erwarten, wurden die Ausschußmitglieder mit ungebetenen Postsendungen, Bergen von Sektenpublikationen überschüttet. Es kamen auch anonyme Telefonanrufe und sogar zwei Todesdrohungen kurz vor dem Abschluß des Berichtes.

Trotzdem ist er ausgewogen, objektiv und genauso entfernt von "Antisektenparanoia" wie von Naivität. Er ist pragmatisch, nicht theoretisch. Er beschreibt zwar einige der Theorien verschiedener Gruppen, kritisiert sie aber nicht, denn er betont die volle Glaubensfreiheit jedes Bürgers. Es geht aber um die Praktiken der Gruppen, sofern sie schädlich und gesetzwidrig sind. Für die angeführten Zahlen würde ich die Hand nicht ins Feuer legen. Die Sekten geben entweder gar keine Mitgliederzahlen an, oder sie sind stark übertrieben (um Publikum und Behörden zu imponieren und auch um die Moral der Mitglieder zu stärken) oder auch untertrieben, wenn man als kleine, ungefährliche, zu Unrecht "verfolgte Minderheit" erscheinen will. Auch sind einige Gruppen gar nicht erwähnt, wenn sie seit einiger Zeit kein Aufsehen erregt haben. Aber man muß schon sehr voreingenommen sein, um die Akkuratesse des Ganzen zu bestreiten. Nach der Darstellung der Situation kommt der Ausschuß zu praktischen Vorschlägen:

1. Offensichtlich kann der Staat die Entwicklung eines Phänomens, "das die Züge einer echten Plage trägt", nicht einfach passiv zulassen. Das wäre nicht nur "unverantwortlich den Bürgern gegenüber, die aktuelle oder potentielle Opfer sind, sondern auch gefährlich für die demokratischen Grundsätze, die das Fundament unserer Republik sind."

2. Spezifische "Antisektengesetze" sind nicht der richtige Weg, gefährlichen Organisationen das Handwerk zu legen, schon weil es keine juristische Definition einer "Sekte" gibt. Vielmehr soll die bestehende Gesetzgebung auf allen Gebieten systematisch ausgeschöpft werden. Es hat sich erwiesen, daß die Gesetze bis jetzt sehr selten, selbst in Fällen grober Delikte von seiten der Sekten, angewendet wurden. Dies habe viele Gründe, z.B. Unwissenheit über ihre wahre Natur (machtund geldhungrige Führer und Gruppen stellen sich gern als "Opfer religiöser Intoleranz, Minderheitsverfolgung" u.s.w. hin, wenn sie verklagt werden). Auch gibt es verhältnismäßig wenige Klagen, denn die Geschädigten haben Angst vor Repressalien, oder sie schämen sich einfach, so naiv gewesen zu sein. Auch massiver Druck von seiten reicher und einflußreicher Sekten wird erwähnt. Geringfügige Ergänzungen zu den bestehenden Gesetzen mögen angebracht sein, aber nicht bevor alle vorhandenen Mittel erschöpft sind, Sekten zur Einhaltung der Gesetze zu zwingen. Erwähnt werden: unbezahlte Arbeit, Nichtentrichtung der Pflichtbeiträge an Krankenkassen und sonstige Sozialversicherungen; Steuerhinterziehung, unethische Einflußnahme bis zu totaler Abhängigkeit, gesetzwidrige Ausübung der Medizin, Verweigerung ärztlicher (und anderer) Pflege, u.s.w.

3. Es sollte ein "Observatorium" eingerichtet werden, d.h. eine Gruppe von Personen, die die Entwicklung auf dem Gebiet der "Sekten" laufend beobachten und dem Premier-Minister berichten sollte. (Am 7. Mai wurde dann auch im Ministerrat die Einrichtung des vorgeschlagenen "Observatoriums" beschlossen. Vorsitzender ist der Premierminister selbst. Die Namen der Mitglieder sind noch nicht bekannt. Bleibt abzuwarten, was getan oder unterlassen wird.)

4. Am dringendsten, schließt der Bericht, ist Information: an allen höheren Schulen, aber auch im Curriculum der Juristen, Mediziner, Sozialberufe, Lehrer. Die bestehenden Vereine leisten unersetzliche Arbeit auf dem Gebiet der Datensammlung, der Information, der Beratung, doch muß klar sein, daß diese Aufgabe Pflicht der Regierung ist, von der nichts sie entbinden kann. Eine (im Gesetz von 1901 über e.V.s enthaltene, aber sehr lax gehandhabte finanzielle Kontrolle der e.V.s ist notwendig und soll systematisch durchgeführt werden; wenn der Jahresetat eines Vereins Fr 500 000 übersteigt (etwa DM 150 000,-). Dies würde die große Menge harmloser lokaler Vereine (Angler, Sportler, Bridgespieler u.dgl.) gar nicht stören. Erwähnt wird auch die notwendige internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet, da die großen Sektenkonzerne ja übernational sind.

Die Reaktion auf den Sektenbericht

Wie zu erwarten war, fanden die einen den Bericht zu militant, die anderen zu lahm. Interessant war ein Kolloquium einiger französischer Religionssoziologen. Auszüge der Beiträge erschienen in den Pariser Zeitungen "Le Monde" und "Liberation". Die Beiträge sollen in absehbarer Zeit im Druck erscheinen.

Ein italienischer Jurist und Religionssoziologe beteichnete den Bericht als ein "soziologisches Mururoa" (auf der Atollinsel Mururoa haben die letzten unterirdischen Atombombenversuche Frankreichs stattgefunden). Was damit gemeint ist, ist unklar; vielleicht würde der Kontext Aufschluß geben. Der Gebrauch des Wortes "Sekte" wurde kritisiert, obwohl der Bericht selbst den Gebrauch des unwissenschaftlichen, aber allgemein verständlichen Ausdrucks eigens begründet hatte. Der Bericht sei ein Beispiel von "Penseé unique", "die nicht anerkennen will, daß wir in einer multireligiösen Gesellschaft leben".

Eine Teilnehmerin meinte, die Forscher seien "Opfer eines intellektuellen Terrorismus" geworden. Ein Professor (Protestant, Historiker des Protestantismus in Frankreich), der schon lange und oft die Selbstdarstellung der Scientology als harmlose, verfolgte "Religion" vertritt, warf dem parlamentarischen Ausschuß vor, keine "Experten" (Akademiker, Soziologen oder Historiker) angehört zu haben. Woher er das hat, ist unklar, denn die Namen wurden streng geheim gehalten. Aber Akademiker waren dabei. (Vielleicht er nicht).

Ein anderer Vorwurf: der OTS (Sonnentemplerorden) sei nicht erwähnt. Das war er sehr wohl, an zwei Stellen.

Hier und auch sonst hat man manchmal den Eindruck, daß die gelehrten Herrschaften gar keine Zeit haben, die Texte zu lesen, die sie be- und verurteilen. Ein Teilnehmer äußerte: in Frankreich seien Katholizismus - früher Staatsreligion und auch nach der Trennung von Staat und Kirchen (1905) dominierende Religion, wenn auch ebensowenig staatlich "anerkannt" wie jede andere - und "Laizität" (eben dieser Grundsatz der Neutralität des Staates) dabei, auf Kosten der "Neuen Religiösen Bewegungen" Frieden zu schließen. Als Beweis dafür wird angeführt: die sog. "Antisektenvereine" würden unter ihren Mitgliedern sowohl Katholiken (und sogar Priester!), als auch Freimaurer zählen!

Ein alter Hut wurde auch noch ausgekramt: "Nach den Maßstäben des Berichtes müßten alle Klöster geschlossen werden". Wie eine sonst angesehene Soziologin so etwas von sich geben kann, ist verwunderlich: hat sie je Benediktiner oder Dominikaner an den Straßenecken erlebt, die junge Leute zu einer Tasse Kaffee und einer interessanten Diskussion einluden (ohne sich als Ordensleute zu erkennen zu geben?). Hat sie je "Persönlichkeitstests" in ihrem Briefkasten gefunden, die sie, mit ihrem Namen und ihrer Adresse versehen, an eine Adresse schicken sollte, die in Wirklichkeit die eines Ordens war? Als Religionssoziologin müßte sie doch wissen, daß die Kriterien für einen Klostereintritt heutzutage recht streng sind: man wird nicht nur nicht angeworben, sondern eher abgeschreckt. Nicht nur ist eine abgeschlossene Berufsausbildung Bedingung - auch dann wird man auf eine lange und harte Probe gestellt. Postulat, Noviziat dauern Jahre, und auch die ersten Gelübde sind nur auf Zeit. Aber jeder von uns neigt nun mal dazu, bei seinen Vorurteilen zu bleiben. Wir erkennen nicht gern an, daß wir uns in dem einen oder anderen Punkt geirrt haben; noch weniger, daß wir hinters Licht geführt wurden. Akademiker, Fachgelehrte, sollten sich da besonders in Acht nehmen. Wir erkennen nicht gern an, daß wir uns in dem einen oder anderen Punkt geirrt haben; noch weniger, daß wir hinters Licht geführt wurden.