Die Toronto-Bewegung
Kriterien und Informationen zur Beurteilung des "Toronto-Segens"
von Andrea Strübind
- Geschichte
- Bemerkenswerte Kennzeichen
- Segens-Übertragung
- Deutung der Phänomene durch Betroffenen
- Angeführte "biblische" Begründung der
Toronto-Phänomene
- Theologische Bewertung des Toronto-Segens
- Das Wort Gottes
- Die Wirkung des Geistes
- Zur Rede von einer neuen Geistesausgießung
- Der Heilig Geist führt zur Gemeinschaft
- Soziologische und kirchengeschichtliche Einordnung
- Segens-Tourismus
- Ambivalenz der Phänomene
- Medizinische Deutung
- Fazit
- Amerkungen
"Wer über die Lehre Christi hinausgeht und nicht bei ihr bleibt, der
hat Gott nicht; wer bei der Lehre bleibt, der hat den Vater und den Sohn."
(2. Joh 9)
Seit Anfang 1994 treten in charismatischen Gottesdiensten spezielle
Phänomene auf, die nach einer bis Anfang 1996 zur Vineyard-Bewegung
gehörenden Gemeinde in Toronto, in der diese Kennzeichen zuerst bekannt
wurden, unter dem Namen "Toronto-Segen" zusammengefaßt werden. Ein
weiterer Zweig dieses "Aufbruchs" entstammt der neo-charismatischen Bewegung
in Argentinien. Als Wegbereiter des Toronto-Segens werden die
einflußreichen charismatischen Prediger Benny Hinn (US), Claudio
Freidzon (Argentinien) und Rodney Howard Browne (Südafrika) angesehen.
Hinn und Browne sind Vertreter der auch in charismatischen Kreisen
umstrittenen "Wort-des-Glaubens-Theologie" (vgl. BERLINER DIALOG 1 95). Ausgangspunkt war
die Übertragung dieses Segens auf den Gründer der Vineyard
Christian Fellowship in St. Louis, Randy Clark (USA), der
anläßlich einer Evangelisation eines südafrikanischen
Evangelisten, in deren Verlauf ungewöhnliche Manifestationen auftraten,
angeblich vom Geist berührt wurde. Er nahm den "Segen" mit in seine
eigene Gemeinde, von wo aus er auch auf andere Gemeinden übergriff. Die
Gemeinde in Toronto entwickelte sich in der Folgezeit regelrecht zu einer
Art Wallfahrtsort für Tausende von charismatischen Leitern und
Pastoren, die dort eine "Salbung"
übertragen bekommen, um diese für ihre eigenen Gemeinden mitnehmen
zu können. Auch aus der Bundesrepublik machen sich wöchentlich
Gruppen von Mitarbeitern und Pastoren auf den Weg nach Kanada.
Nach einer
"Übertragung" durch ein Pastorenehepaar aus London traten auch in
Europa die Phänomene des Toronto-Segens auf. Ein weiteres Zentrum wurde
die Holy Trinity Brompton Gemeinde in London. Auch hierzulande werden in
bestimmten Gemeinden im Rahmen von Anbetungsgottesdiensten die Wirkungen des
TorontoSegens mittels Handauflegung durch die Leiter erfahren. In Berlin
traten z. B. durch Vermittlung des angereisten Freidzon in der Gemeinde auf
dem Weg (Wolfhard Margies) dieselben Phänomene auf. Auf dem
Kongreß "Xund '94" in Bern, auf dem die Heilung im Mittelpunkt stehen
sollte, demonstrierte John Wimber die Wirkung des Segens an einzelnen
Teilnehmern, in dem er sie aufstehen ließ und sich anschließend
die spezifischen Phänomene des Segens an ihnen zeigten, wobei die
Betroffenen umfielen. In der Basileia Gemeinde in Bern, einem weiteren
Zentrum des Toronto-Segens, traten die Phänomene nach der Rückkehr
des Leitungskreises aus Toronto so massenhaft auf, daß der
Gottesdienst zusammenbrach und die Mitarbeiter aufgrund der eigenen
körperlichen Manifestationen in der darauf folgenden Woche
arbeitsunfähig waren. Weitere Zentren sind in Frankfurt am Main und
Lüdenscheid.
Im November 1994 hielten 40 Repräsentanten charismatischer
Organisationen und Gemeinden bei einem Treffen in Niedenstein bei Kassel in
einer Erklärung fest, daß sie den Toronto-Segen als Wirkung des
Heiligen Geistes deuten. Zu den Unterzeichnern zählte neben einigen
umstrittenen Repräsentanten der neo-charismatischen Bewegung - wie
Wolfhard Margies ("Gemeinde auf dem Weg"), Berthold Becker
("Fürbitte für Deutschland") und Walter Heidenreich
("Jesusmarsch") - auch Heiner Christian Rust (Pastor einer
Ev.-freikirchlichen Gemeinde in Hannover). Die Zahl der deutschen Gemeinden,
in denen die Phänomene des Toronto-Segens auftreten, werden derzeit auf
200-400 geschätzt. Am 1. und 2. Dezember 1994 trafen sich 400 Pastoren
und Mitarbeiter im Christlichen Zentrum in Frankfurt unter der Thematik
dieses Segens. Die Veranstalter rechneten mit einer Multiplikation der
Phänomene durch die Teilnahme an dieser Veranstaltung, da die Wirkungen
in die Gemeinden "mitgenommen" werden könnten. Dabei wurde auf
ähnliche Folgewirkungen in Großbritannien hingewiesen.
- Lach- und Weinkrämpfe
- Ausstoßen emphatischer Laute (Brüllen, Schreien, Knurren,
Stöhnen)
- Krampfartiges Zucken und Zittern am ganzen Leib
- Umfallen ("Ruhen im Geist")
- Tranceartiger Bewußtseinszustand (Ähnlichkeiten mit Trunkenheit)
- Hüpfen und Tanzen
- Überhitzungen des Körpers
- Lähmungen einzelner Körperteile
- Rollbewegungen auf dem Boden
- Schmerzen
Der Toronto-Segen wird nach Angaben der davon Betroffenen in Toronto von
angereisten Leitern empfangen und in die je eigene Gemeinde "importiert"
oder durch reisende Mitglieder der Vineyard-Bewegung vermittelt bzw.
übertragen. Einige Leiter sprechen davon, daß der Segen so
ansteckend sei, daß er selbst gegen den Willen des "Trägers"
übermittelt werde. Handauflegung und Gebet sind daher für den
Segensempfang nicht obligatorisch. Die Gegenwart von bereits entsprechend
Gesegneten, von Teilnehmern in Gottesdiensten mit den bekannten
Phänomenen und deren Zeugnisse sind ausreichend, um den Segen auf
andere übertragen zu können. Auch an Gottesdiensten teilnehmende
Nicht-Christen können die Phänomene des Toronto-Segens aufweisen.
Diese Erscheinungen treten während des Gottesdienstes auf, etwa beim
Singen, Beten, Segnen oder in einer Phase der Stille. Auch außerhalb
des Gottesdienstes werden diese Wirkungen erlebt. Selbst durch
Zeitungsartikel, die über den Toronto-Segen berichten, sollen die
entsprechenden Effekte ausgelöst worden sein. In der Regel wird der
Segen jedoch in einem bestimmten Teil gegen Ende des Anbetungsgottesdienstes
gespendet, indem für die einzelnen Teilnehmer gebetet wird. Der Pastor
bzw. der Leiter und andere Mitarbeiter gehen während eines
längeren Segnungsteils (in Toronto ca. 2-3 Stunden) durch den Raum und
beten anhaltend für die Anwesenden. Unter Handauflegung/Berührung
wird um Füllung mit dem Heiligen Geist, um Verdoppelung der Kraft und
die Zunahme der Segenswirkung gebetet. Es werden keine konkreten
Gebetsanliegen genannt. Davon zu unterscheiden ist die Dramaturgie von
Massenveranstaltungen. Hier zeigt sich die Praxis schneller, drängender
Gebete durch viele Mitarbeiter unter z.T. wedelnden Handbewegungen, wobei
die Betroffenen angeschrien und durch Gruppendruck suggestiv
beeinflußt werden (wie einige selbst später zugaben).
Die auftretenden Phänomene werden von den Betroffenen und den
involvierten Theologen in der Regel als Begegnungen mit dem Geist Gottes
aufgefaßt. So wird gesagt, die Erfahrungen führten zu einer neuen
Liebe zu Christus und zu seiner Gemeinde, einer größeren
Wertschätzung der Bibel und einer neuen Freude am Gebet. Menschen
würden körperlich und seelisch geheilt und gereinigt.
Seelsorgerliche Prozesse würden intensiviert und beschleunigt. Bekannte
Leiter sprechen davon, daß sie eine "romantische Liebesbeziehung" mit
Christus erlebten. Eine neue machtvolle Ausgießung des Heiligen
Geistes finde in den Versammlungen statt. Eine Zeit der Erfrischung und
Stärkung für die Gemeinde Jesu sei angebrochen. Herausragend sei
die neue Intensität und Quantität der Erfahrungen mit dem Heiligen
Geist. Damit ist die Lehre verbunden, wonach Menschen immer wieder neu mit
dem Heiligen Geist getränkt werden müßten. Die Ereignisse
werden aufgrund von Visionen führender Leiter als Zeichen einer
beginnenden Erweckung unter endzeitlicher Perspektive gedeutet sowie als
neue heilsgeschichtliche Epoche, als neues, anderes Wirken Gottes, als
Zeitalter des Heiligen Geistes. In Toronto selbst wird der Segen als eine
erste Welle des Wirkens Gottes gedeutet, die eine Erfrischung für die
Christen sei. Die Gläubigen sollen dadurch für die weiteren
heilsgeschichtlichen Ereignisse vorbereitet und gestärkt werden. In
einer zweiten Phase sollen dann Zeichen und Wunder geschehen, um diejenigen
zurückzubringen, die nicht mehr mit Christus gingen. Schließlich
breche eine Zeit an, in der Menschen in großer Zahl zum Glauben an
Christus kommen würden. Der TorontoSegen sei nicht bereits als
Erweckung zu bezeichnen, sondern als eine Art "Erfrischungsbewegung" zur
Mobilisierung der Gemeinden für die vor ihnen liegende Erweckung.
Der Toronto-Segen als besondere "Missionsstrategie Gottes" stellt eine
weitere Interpretationsvariante dar. Es wird gesagt, Gott könne die von
der Aufklärung geprägten Menschen nur noch durch
ungewöhnliche Wirkungen erreichen. So sei der Segen Anzeichen für
eine große Ausgießung des Heiligen Geistes. Zum Teil wird ein
Aufbruch erwartet, bei dem vor allem Kinder vom Heiligen Geist ergriffen
werden, wie in Visionen (angeblich) vorausgesehen wurde. Gott nehme einen
neuen Anlauf, um sein Wirken zu zeigen. Ein Nicht-Ergriffenwerden vom Geist,
d. h. das Ausbleiben von Phänomenen kann schnell als Zeichen der
mangelnden Öffnung gegenüber Gott gedeutet werden. Die von den
Gottesdienstteilnehmern oft als lächerlich empfundenen
Äußerungen der Betroffenen werden damit erklärt, daß
Gott Humor habe und sich vielleicht humorvolle Dinge ausdenke. Gleichzeitig
fungiere der Segen als eine Kontrolle Gottes, mit dessen Hilfe er die
Bereitschaft prüfe, sich um seiner Ehre willen zum Narren zu machen.
Zu den wenigen Bibelstellen, die von den Anhängern der Bewegung zur
Legitimierung der Phänomene genannt werden, gehören: Die
Gottesbegegnung des Propheten Daniel, der auf sein Angesicht fällt (Dan
10,9. 11. 16-19), das Damaskuserlebnis des Paulus (Apg 9,1-9), das
Offenbarungserlebnis des Johannes (Offb 1,17) und die Verzückung Sauls
durch den Heiligen Geist (1. Sam 19). Daraus ergebe sich, daß die
Begegnung mit Gott zum Verlust der Körperkontrolle führen
könne. Als Massenphänomene tauchten diese Manifestationen jedoch
im neutestamentlichen Gottesdienst nicht auf. Auch wird das Pfingstereignis
als Prototyp der Segens-Wirkungen gedeutet. Damals empfanden Umstehende die
vom Geist ergriffenen Apostel als "Betrunkene". Allerdings wird im
Zusammenhang dieser Bibelstelle das Sprachenwunder beschrieben, wonach die
zugereisten Festpilger die Apostel in ihrer Muttersprache reden hörten,
während die Ortsansässigen zu eher despektierlichen Deutungen
kamen. Durch die Predigt der Apostel, nicht durch etwaige äußere
Phänomene, kamen viele Menschen zum Glauben. Der Verlust der
Körperkontrolle wird im Zusammenhang mit Pfingsten nicht erwähnt.
Als weiterer Beleg werden Aussagen aus den Abschiedsreden Jesu
angeführt. Dort kündigte Jesu weitere Offenbarungen des Geistes
über die Heilsgeschichte an (Joh 16,12-14). Damit habe er eine
Wirkungsart des Heiligen Geistes gemeint, die über die in der Bibel
bezeugte hinausgeht.1) Das krampfartige "Lachen" wird mit Hilfe von 1. Petr
1,8 erklärt ("Ihn habt ihr nicht gesehen und habt ihn doch lieb. . .
darum werdet ihr mit unaussprechlicher und herrlicher Freude jubeln").
1. Das Wort Gottes
In der in Kirchen und Freikirchen umstrittenen Frage nach dem Toronto-Segen
ist es notwendig, auf das Gesamtzeugnis der Schrift zu hören. Diese
Prämisse halte ich gerade hinsichtlich unserer Fragestellung für
besonders wichtig. Denn es kann hier nicht um den religiösen Zeitgeist
oder konkret darum gehen, ob die Erweckung (endlich) auch in kirchlichen und
freikirchlichen Reihen Raum greift. Vielmehr gilt es zu prüfen, ob der
Toronto-Segen und die damit verbundenen äußeren Phänomene
einschließlich der angeblich inneren Wirkungen mit der biblischen
Überlieferung übereinstimmen bzw. hermeneutisch
sachgemäß von den entsprechenden Aussagen des AT und NT
abgeleitet werden können.
Maßstab zur Prüfung der Geister
können nicht die Erfahrungen, Sehnsüchte und Gefühle
einzelner sein, sondern nur die Heilige Schrift. Jedes bezeugte
Geisteswirken muß in einer nachvollziehbaren Analogie zu dem
geoffenbarten Wort Gottes stehen. In der Bibel ist jedoch im Zusammenhang
mit dem Heiligen Geist nirgends die Rede von massenweisem Umfallen,
tierischen Lauten, Schreien, Gelächter und Verlust der Selbstkontrolle.
Gottesbegegnungen, bei denen die Betroffenen zumeist aus Ehrfurcht oder
Furcht zu Boden fallen, bleiben im Blick auf das Ganze der biblischen
Überlieferung Einzelereignisse. Es gibt keine Berichte, wonach ganze
Gruppen innerhalb der urchristlichen Gemeinde davon erfaßt wurden.
Wenn die körperliche Reaktion von Propheten und Aposteln beschrieben
wird, stehen Ehrfurchtsbezeugungen vor der Heiligkeit Gottes eindeutig im
Vordergrund. Von besonderen Glücksgefühlen oder inneren
Friedenserfahrungen ist nicht die Rede, vielmehr überwiegt die
Erfahrung von Angst und eigener Schuldhaftigkeit (Jes 6,1ff).
Im Zusammenhang gottesdienstlicher Geschehnisse werden die
Toronto-Phänomene an keiner Stelle beschrieben (auch Apg 2 kann nicht
für diese Phänomene in Anspruch genommen werden).
Anhänger der "Segens-Bewegung" behaupten angesichts dieses
Sachverhalts, daß der Heilige Geist gegenwärtig in Bereiche
hineinführe, die jenseits der Bibel stünden. Die meisten Leiter
geben offen zu, daß biblische Aussagen überschritten werden.
Andererseits ist man bemüht, durch - oftmals skurille
- Zusammenstellungen von Bibelstellen - die Phänomene biblisch zu verankern.
Die Proskynese (Niederwerfung) vor Gottes Heiligkeit (vgl. Ez 3,23; Mt 17,6)
wird bedenkenlos mit dem "Ruhen im Geist" gleichgesetzt, was exegetisch
nicht zu überzeugen vermag. Das Umfallen der Gegner Jesu (Joh 18,6) und
die Offenbarungserzählungen der Vätergeschichten werden rigoros im
Sinne der o. g. Erfahrungen umgedeutet.
Wenn alle Bibelstellen, in denen das Wort "Freude" vorkommt, aufgezählt
werden, um die Lachkrämpfe in Folge des TorontoSegens als biblisch zu
erweisen, so verrät dies exegetische Naivität. Gleiches gilt
für die mit Fleiß betriebene Konkordanzarbeit zum Lexem
"Zittern". Der Hinweis auf Kohelet (Predigerbuch) , der eine Zeit für
das Lachen kennt (Pred 3,4) und somit die neuartigen Lachanfälle
rechtfertige, weist auf die theologische Inkompetenz einiger Leiter hin.
Dies führt bis hin zu der spekulativen Behauptung, daß Gott
ebenso "emotional" sei wie der nach seinem Bilde geschaffene Mensch (diese
Ableitung ist ebenso stichhaltig wie die Behauptung, Gott sei fehlbar, weil
der Mensch als Sünder sein Ebenbild trage!).
Das Postulat, Gott wirke heute anders als in der Schrift
bezeugt, halte ich für die entscheidende Gefahr, da diese theologische
Weichenstellung subjektivistischer Willkür Vorschub leistet. Der
Hinweis auf Joh 16,1214, wonach Jesus den Jüngern ein weiteres Wirken
des Geistes in Aussicht stelle, das über das in der Schrift
geoffenbarte hinausgehe, ist zudem eine klare Fehldeutung.2) Jesus spricht in
diesem Zusammenhang nicht von außergewöhnlichen Wirkungen des
Geistes, sondern von verbalen Mitteilungen über den Heilsplan Gottes,
die durch den Geist nach seiner Erhöhung geoffenbart und verkündet
werden sollten. (Der Bezug auf das noch zu offenbarende "Viele" öffnet
der Indifferenz in hermeneutischen Fragen Tor und Tür.) Mit der
Behauptung, wonach der Heilige Geist nun in Bereiche hineinführt, die
über die Bibel hinausgingen, bzw. eine Wirkungsweise des Geistes erlebt
werde, die nicht in der Bibel bezeugt ist, wird der Boden reformatorischer
Glaubensüberzeugung ebenso verlassen, wie durch die Preisgabe des uns
"von außen" (extra nos) zugesagten Wortes, das durch innere
Selbstvergewisserungen ersetzt wird. Zugleich wird die Bedeutung der
Heiligen Schrift als Grundlage für Lehre, Leben und Dienst in Frage
gestellt.
Das vielfältige neutestamentliche Zeugnis über den Heiligen Geist
ist darin stimmig, daß der Geist im Gegensatz zu den Mächten
dieser Welt (1. Kor 12,2) Freiheit bewirkt und nicht in neue Zwänge
führt. Der Verlust der Selbstkontrolle ist gerade kein Merkmal für
den Heiligen Geist, im Gegenteil (1. Kor 14,32f). Eine gut bezeugte Frucht
des Geistes ist vielmehr die Selbstbeherrschung (Gal 5,22; 2. Petr 1,6).
"Rationale" Gaben, wie nüchternes Urteilen und Erkenntnis des Willens
Gottes, werden in der Bibel besonders hervorgehoben (Röm 12,2; Kol
1,9f. - vgl. Jes 11,1-6). Wer um den Geist bittet, bittet zugleich um den
Geist der Besonnenheit (2. Tim 1,7). Immer wieder begegnet der Aufruf zur
Nüchternheit, zur Prüfung und zur Selbstkontrolle (Apg 26,25;
Röm 12,3; 1. Tim 2,9; 2,15; 3,2; Tit 1,8; 2,2-6; 12; 1. Petr 4,7).
Keineswegs ist eine neue, fremdartige Geisterfahrung notwendig, damit der
Christ der Erfüllung mit dem Heiligen Geist gewiß wird. Wer
Christus bekennt, hat den durch den Geist präsenten Christus in der
ganzen Fülle (Gal 2,20). Der Heilige Geist wirkt im Blick auf das
Gesamtzeugnis der Schrift zwar als Urheber der Freude, nicht aber der
ekstatischen Hemmungslosigkeit.
Die Wirkung des Toronto-Segens führt dagegen zum Verlust der
Selbstkontrolle. Menschen sind unter dem Eindruck dieser Phänomene z.T.
nicht mehr in der Lage, sich (entgegen ihrem Willen) zu erheben oder ihr
krampfartiges Lachen einzustellen. Die Gefahr der Manipulation und Fixierung
auf einzelne Leiter, die den Geist "freisetzen" können, liegt auf der
Hand. Die enthusiastischen Phänomene tragen eher zur Verunsicherung und
Entmündigung des Menschen als zu seiner geistlichen Reife bei. Die
fundamentalen Wirkungen des Heiligen Geistes lassen sich jedoch mit der
Trias von 1. Kor 13 zusammenfassen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Der Geist wirkt
den Glauben, schließt uns Gottes Wort auf und führt dadurch zur
Erkenntnis Gottes (1. Kor 2,4f; Eph 1,13-14; Gal 3,14). Der Geist wirkt
Liebe zu Gott, zu seiner Gemeinde und zum Nächsten (Röm 5,5). Der
Geist wirkt Hoffnung auf die Zukunft der Erlösung (Röm 8,11).
Diese geistgewirkte Hoffnung gilt für das individuelle Leben wie auch
für die universale Schöpfung. An diesen neutestamentlich bezeugten
Wirkungen des Geistes müssen die ambivalenten "Früchte" des
Toronto-Segens gemessen werden.
Die ausführlichen Bemerkungen des Paulus zum Einsatz von Geistesgaben
im Gottesdienst und seine Zurückhaltung gegenüber ekstatischen
Phänomenen sind immer wieder analysiert worden (vgl. 1. Kor 12. 14).
Der Apostel verlangt Ehrbarkeit und Ordentlichkeit im Gottesdienst (1. Kor
14,40). Die Wirkung des gottesdienstlichen Geschehens auf Nichtchristen ist
für Paulus von großer Bedeutung (1. Kor 14,23). Im Sinne der
missionarischen Unanstößigkeit kämpft er gegen die extremen
Charismatiker seiner Zeit für einen geordneten und erstaunlich
"vernünftigen" Gottesdienst. Denn Gott ist nicht ein Gott der
Unordnung, sondern des Friedens (1. Kor 14,33. 40). Paulus lehnt eine
zentrale Bedeutung ekstatischer Erlebnisse für den Gemeindeaufbau und
das Glaubensleben des einzelnen ab (1. Kor 12). Auch aus missionarischer
Verantwortung warnt er vor der Überbetonung dieser enthusiastischen
Phänomene (1. Kor 14).
In den veröffentlichten Berichten über den Toronto-Segen und in
weiteren Verlautbarungen der neo-charismatischen Bewegung (vgl. "Marsch
für Jesus") ist wiederholt davon die Rede, daß eine neue
große Geistausgießung bevorstehe bzw. der einzelne Christ
ständig neu mit dem Heiligen Geist getränkt werden müsse. Das
NT sieht jedoch in Jesus Christus die alttestamentlichen Prophezeiungen
über den "Geistträger" erfüllt. Ebenso deutet es die
verheißene Geistausgießung auf alle Menschen mit dem
Pfingstgeschehen. Durch Jesus Christus und sein Versöhnungswerk kommt
der Heilige Geist über alle, die an ihn glauben. Alle Glieder der
Gemeinde Jesu Christi haben daher Teil am Erfülltsein durch den
Heiligen Geist. Geistesgaben sind in diesem Zusammenhang nicht Grade einer
verschiedenen Teilhabe am Geist, sondern verschiedene Ausprägungen
desselben Geistes (1. Kor 12,4). Die Phänomene des Toronto-Segens
können demnach nicht als zusätzliche Geisterfüllung
bezeichnet werden, die anderen Gemeindeglieder fehle. Es findet sich im NT
kein Hinweis auf eine endzeitliche, neuerliche und neuartige
Geistausgießung, die über das Pfingstereignis hinausgeht. Die
Bibel prognostiziert für die Endzeit vielmehr einen weltweiten Abfall
vom Glauben und Verführung. Ausdrücklich wird vor falscher
Prophetie sowie falschen Zeichen, Wundern und Heilsbringern gewarnt (Mt
7,1523; Mt 24,4-14; 2. Thess 2,9-12; Offb 13; 1. Joh 4,1. 6; 2. Kor 11).
Das Wirken des Heiligen Geistes wird im NT (und AT) vorrangig
als Geschehen der Vergemeinschaftung verstanden. Durch den Geist werden die
Zugehörigkeit zu Christus und die Gliedschaft an seinem Leib bewirkt
(Röm 8,14). Für die geistgewirkte Verbundenheit der Glieder der
Gemeinde mit Christus und untereinander sind alle Unterschiede des
Geschlechts, der Herkunft, der Nation, der Rasse und des sozialen Standes
hinfällig geworden (Gal 3,28). Die Betonung von besonderen Gaben des
Geistes bzw. einer besonderen "Salbung" kann zur Gefahr für die Einheit
der Gemeinde werden, wenn Elitebewußtsein und geistliches Stufendenken
um sich greifen. Diese im Urchristentum latente Gefahr wurde bereits von den
Aposteln mit aller Entschiedenheit bekämpft. Der Toronto-Segen stiftet
in der Christenheit zur Zeit eher Verwirrung und Streit und vermehrt
Tendenzen zur Spaltung und Distanzierung. Aufmerken läßt der in
den Medien bezeugte Umgang mit "Gegnern" oder Kritikern des Toronto-Segens.
Sie werden im Einzelfall durch gezielte Ausgrenzung zur Trennung von der
Gemeinde gedrängt. Die in der Presse aufgegriffenen prophetischen
Todesdrohungen (B. Bahr, Singen) verweisen aufgrund der Analogien zum
islamischen Fundamentalismus auf eine bedenkliche Entwicklung.
Die seelsorgerlichen Probleme sind ebenso evident. Es kommt zu
Enttäuschungen bei denjenigen, die trotz aller Bemühung nicht die
o. g. Manifestationen erleben. Zudem ist die Gefahr eines
Überlegenheitsbewußtseins ("geistlicher Hochmut") bei den
"Gesegneten" nicht von der Hand zu weisen. Entgegen dem neutestamentlichen
Zeugnis führt der angeblich "geistgewirkte" Toronto-Segen nicht zur
Gemeinschaft, sondern zur Vereinzelung. Der einzelne Gläubige erlebt
eine überragende Transzendenzerfahrung, die ihn von anderen Christen
und Gemeindegliedern unterscheidet. Der Toronto-Segen ist daher kein
Gemeinschaftserlebnis, noch vermittelt er ein Gemeinschaftsgefühl,
sondern dient vornehmlich der "Zurüstung" einzelner. Paulus kritisiert
die Überbewertung der ekstatischen Gaben in der korinthischen Gemeinde,
die lediglich einzelne erbauen, mit dem Hinweis darauf, daß das Wirken
des Geistes stets auf die Auferbauung der Gemeinde zielt. Das neben der
Christusbezogenheit wichtigste Kriterium für das Wirken des Heiligen
Geistes ist, daß es "die Verbundenheit" aller mit Christus und
untereinander nicht in Frage stellt, sondern stärkt (W. Joest).
Religionswissenschaftler und Soziologen stimmen darin überein,
daß in unserer Gesellschaft gegenwärtig vermehrt
Transzendenzerfahrungen zur Glaubensvergewisserung gesucht werden. Sie
diagnostizieren eine offensichtliche Anpassung der neocharismatischen
Bewegung an Trends der religiösen Alternativkultur. Die auftretenden
Phänomene erinnern zudem an Ausdrucksformen der frühen
Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts, aber auch der beginnenden
Pfingstbewegung. Sie selbst sind daher nicht neu, wohl aber ihr
massenhaftes, unkontrolliertes Auftreten, das durch die verantwortlichen
Leiter nicht mehr eingeschränkt wird, sondern selbst in den
Extremformen als der besondere "Segen" angesehen wird. In der
Erwekkungsbewegung wurden diese Phänomene jedoch nicht zu einem festen
und ritualisierten Bestandteil der Gottesdienste. Sie galten nicht als
reguläre Geisterfahrung. Namhafte Vertreter der Erweckungsbewegung
integrierten diese Phänomene nicht gezielt in ihre Missionsstrategie
bzw. ihre Versammlungsvorbereitungen, um der von ihnen erkannten Gefahr von
Spaltungen, Elitebewußtsein und theologischen Irrwegen keinen Vorschub
zu leisten.
Mit dem Toronto-Segen verbindet sich eine dem kultischen Denken verhaftete
Anschauung, wonach Gottes Geist bzw. Gegenwart an bestimmte Orte gebunden
ist. Diesem Denken korrespondiert das Bedürfnis nach Sichtbarund
Greifbarwerden Gottes an besonders gesegneten Orten mittels Segensund
Vollmachtsübertragung. Die verbreitete Aussage, wonach der TorontoSegen
an speziellen Orten durch eigens dafür gesegnete Leiter geradezu
"anstekkungsartig" weitergegeben werde, macht die Begegnung mit dem Heiligen
Geist zu einem quasi magischen Geschehen, das im Widerspruch zum freien
Wirken des Geistes in der Bibel steht. Besonders problematisch sind die
Wirkungen an Nicht-Christen sowie durch materielle Medien (z. B.
Zeitungsberichte über den Toronto-Segen).
Gleichartige Erfahrungen des Überwältigwerdens und Kontaktgewinns
mit göttlicher Kraft durch Kontrollverlust über den eigenen
Körper und Intellekt finden sich auch in anderen Religionen und
Therapien. Die Verwechselbarkeit der Phänomene sollte zur Vorsicht
mahnen. Ekstase und Enthusiasmus sind, wie die Bibel kritisch urteilt, immer
mehrdeutig. Erst durch die theologische Deutung werden diese Phänomene
als Wirken des Heiligen Geistes verstanden. Es steht in Frage, ob es sich
dabei wirklich um eine Gottesbegegnung oder Begegnungen mit dem eigenen
Unterbewußten (Reinhard Hempelmann) handelt. In Gottesdiensten und
Kongressen kann die Faszination der äußeren Manifestationen auch
von den Leitern, die vorwiegend die inneren Wirkungen betonen, nicht
geleugnet werden. Es fällt schwer, neben gegenwärtig erfahrenen
Gefühlen die längerfristigen "Früchte des Segens"
nachzuweisen. Heilungen, die nicht im Vordergrund stehen sollen,
ließen sich ebenfalls erst nach längerer Zeit beweisen. Der
Toronto-Segen wird von den Betroffenen darüber hinaus nicht immer als
Bereicherung bzw. Freude erlebt. Seelsorger berichten, daß die
Ratsuchenden auch negative Erlebnisse,
Ängste (Schlafstörungen, Depression) und Verunsicherung im Glauben
durch die äußeren Manifestationen erleben.
Mediziner und Psychologen (Streßund Hypnoseforschung) begegnen
ekstatischen Phänomenen in der neo-charismatischen Bewegung mit
durchaus ernstzunehmenden "rationalen" Deutungen. Eine Beurteilung aus dem
medizinischen Bereich soll hier kurz angeführt werden. In
Streßsituationen werden im menschlichen Körper sog. Endorphine
ausgeschüttet. Diese körpereigenen "Drogen" haben ähnliche
Wirkungen wie Opiate, wodurch es auch zum Verlust der Körperkontrolle
kommen kann. Durch Beeinflussung der Gefühle mittels Suggestion
können diese biochemischen Prozesse ausgelöst werden. Diesselben
physischen und psychischen Phänomene lassen sich auch in anderen
Religionen, Therapien und Kulten aufweisen.
Nach den bisherigen Recherchen, der Prüfung vor dem Gesamtzeugnis der
Schrift und der Wirkung auf die Gemeinschaft der christlichen Gemeinden kann
der TorontoSegen m. E. nicht als Wirkung des Heiligen Geistes verstanden
werden.
1) Diese Interpretation des johanneischen Parakleten zeigt
Affinitäten zur Lehre der von der Alten Kirche als häretisch
beurteilten Montanisten im 2. Jahrhundert n. Chr. , denen die
neocharismatische Bewegung auch phänomenologisch in manchem sehr
ähnlich ist (vgl. Anm. 2).
2) Vgl. die Ausführungen von H. C. Rust
in DIE GEMEINDE 46/1994, S. 6, der sich damit den Ansichten des Montanismus
nähert (vgl. Anm. 1): "In diesem Wort mag eine biblische Verankerung
dafür zu finden sein, daß es Wirkungsweisen des Heiligen Geistes
gibt, die uns in der Heiligen Schrift nur ansatzweise (sic!) berichtet
werden, heute aber eine größere Ausbreitung finden."
Dr. theol. Andrea Strübind 33,
ist Pastorin in einer Ev.-freikirchlichen Gemeinde (Baptisten) in
München. Bis 1995 war sie Referentin für den Bereich der
Freikirchen im Ökumenisch-Missionarischen Institut Berlin, einer
Einrichtung des Ökumenischen Rates Berlin, der Berliner ACK. Der
vorliegende Text basiert auf ihrer Ausarbeitung für die Sitzung der
Bundesleitung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten)
BEFG im Februar 1995.