Aum Shinri-Kyo Fortschritts-Optimismus wird zu Endzeit-Terrorismus.

von Thomas Gandow

Inhalt

  1. Post festum: Schreckliche Wahrheiten
  2. "Authentischer Buddhismus"
  3. Dalai Lama an denjenigen, den es angeht
  4. Druck auf die Tokioter Stadtverwaltung
  5. Krasse Änderung oder massive Täuschung der Bürgen?
  6. "Verwandlung" einer New-Age-Gruppe
  7. Der Shambala-Plan zur Rettung der Welt
  8. Im Kampf gegen die Weltverschwörung
  9. Weltretter werden bedroht
  10. Was passiert, wenn die Voraussagen scheitern
  11. Kriegsverhinderung und Kriegserklärung
  12. Von der Kriegsverhinderung zum letzten Gefecht:
    "Armageddon"
  13. Anmerkungen

Hatte die Öffentlichkeit sich bisher mit der Erklärung zu beruhigen versucht, gewaltsame Entwicklungen in Sekten und Gruppen richteten sich ausschließlich nach innen, gegen die eigenen Mitglieder, müssen wir jetzt feststellen, daß auch Unbeteiligte geschädigt werden, ja daß sie zum Angriffsziel werden1.) Kidnapping und "Verschwindenlassen" von Kritikern, Entführung und "Zuführung" mißliebiger Personen, Verfolgung und Gefangennahme ausgetretener Mitglieder, Errichtung großer chemischer Kombinate und Fabriken zur Herstellung von Wundermitteln und Wunderwaffen, aber auch von Schnellfeuergewehren, "Liquidierungskampagnen", Vernichtungsfeldzüge: Was bisher zum Stil und Handwerkszeug totalitärer Regimes gehörte, die einen ganzen Staatsapparat zur Verwirklichung ihrer gewaltigen Pläne zur Verfügung hatten, wird nun auch bei bestimmten religiösen Gruppen und Sekten sichtbar.

Post festum: Schreckliche Wahrheiten

Heute geben uns die Zeitungen ein schreckenerregendes Bild der Wahrheits-Sekte und erzählen uns die Geschichte von Asahara als dem Schwindler, Quacksalber und Halbkriminellen von seiner Schulzeit an.

Betrug und Gewalt haben nach allem, was wir heute wissen, schon vor der Gründung von AUM Shinri-Kyo geherrscht. Aber als Shoko Asahara seine Bewegung 1989 in Tokio staatlich registrieren lassen wollte, als er durch massiven Druck die staatliche Anerkennung als religiöse Organisation erhielt, da gaben höchste Autoritäten des Buddhismus gute Beurteilungen und Empfehlungen für diese staatliche Anerkennung und Registrierung und für das Gerichtsverfahren ab.

"Authentischer Buddhismus"

Shoko Asahara gibt nicht nur selbst an, er sei vom Dalai Lama und von Kalu Rinpoche von der Kagyudpa-Tradition initiert2), sondern er behauptete in seiner weitverbreiteten Schrift "Supreme Initiation" sogar, der Dalai Lama habe ihn im Februar 1987 persönlich beauftragt, den Buddhismus in Japan wiederherzustellen. Nach bisher unwidersprochener Mitteilung von Asahara sagte der Dalai Lama zu ihm:

"Lieber Freund, sieh dir den Buddhismus im heutigen Japan an. Er ist zu Zeremonien degeneriert und hat die eigentliche Wahrheit der Lehre verloren. Wenn das so weitergeht, wird der Buddhismus in Japan verschwinden. Irgendwas muß jetzt getan werden, und du solltest den wirklichen Buddhismus dort verbreiten. Du kannst das gut. Wenn du dies tust, wäre ich sehr erfreut und es würde mir in meiner Mission helfen." Der Dalai Lama habe noch hinzugefügt: "Du kannst das gut machen, weil du ein Boddhi-chitta (BuddhaBewußtsein) hast..."3) Der Dalai Lama trat dieser Inanspruchnahme keineswegs entgegen. Nachdem Asahara das Vorstehende im Sommer 1987 veröffentlicht hatte, und bereits mit seinen besten Verbindungen zum Dalai Lama geworben hatte, schrieb dieser ihm 1989 sogar noch eine ausdrückliche Empfehlung, die Asahara bei den Behörden in Tokio vorlegen konnte.

Dalai Lama an denjenigen, den es angeht

"An denjenigen, den es angeht:

AUM strebt nach meiner Kenntnis an, das öffentliche Bewußtsein durch religiöse und soziale Aktivitäten zu fördern.

Neben dem Angebot intensiver Meditationsanleitung praktizieren die AUM-Mitglieder auch die Traditionen des Mahayana-Buddhismus.

AUM hat auch großzügige Spenden bereitgestellt für unsere buddhistische Exil-Gemeinschaft, insbesondere für Mönch-Studenten, die kürzlich aus Tibet hier eingetroffen sind. Die Spenden waren sehr nützlich und werden von uns sehr geschätzt. 26. Mai 1989"

Übersetzung: Th. Gandow

Noch mehr Unterstützung und direkte Empfehlung, ja Einmischung in einen japanischen kommunalen Verwaltungsakt bedeutete das offizielle Schreiben von Generalsekretär Kalman Yeshi vom "Rat für religiöse und kulturelle Angelegenheiten seiner Heiligkeit des Dalai Lama" mit Datum vom 25. Mai 1989:

"Rat für religiöse und kulturelle Angelegenheiten seiner Heiligkeit des Dalai Lama"

"An denjenigen, den es angeht.

AUM Shinri-Kyo ist eine östliche religiöse Organisation in Japan, die unter der geistlichen Führerschaft von Meister Shoko Asahara steht und arbeitet und aus über 6000 Mitgliedern und zwölf Zweigorganisationen innerhalb und außerhalb Japans besteht.

Meister Asahara ist ein kompetenter religiöser Lehrer und Yoga-Lehrer und ein erfahrener Meditationsausübender.

AUM strebt nach unserem besten Wissen an, die öffentliche Wohlfahrt zu fördern durch verschiedene religiöse und soziale Aktivitäten; z.B. durch Unterricht über die buddhistischen Lehren und über Yoga, durch die Organisierung von Seminaren und durch das Angebot von Anleitung in fortgeschrittener Meditation sowie ethischen Übungen. Vor allem beabsichtigt AUM, die wertvollen lebenden Traditionen des Mahayana Buddhismus zu erwerben um die wahre Lehre des Dharma in Japan wiederherzustellen und weiterzugeben.

Als grundlegende buddhistische Praxis hat AUM großzügige Spenden für unsere buddhistischen Gemeinschaften im Exil gemacht. Wir sind sehr dankbar für die freundliche Unterstützung für unsere Kultur und unsere bedürftigen Gemeinschaften.

Angesichts seiner schätzenswerten Ziele und Aktivitäten ist es unbedingt zu empfehlen (it stands highly recommendable), daß AUM Shinri-kyo ihr wohlverdienter steuerbefreiter Status und die gebührende Anerkennung durch die japanische Regierung gewährt wird.

Alle nötige Unterstützung und Zusammenarbeit der beteiligten Behörden in dieser Angelegenheit wird von uns hoch geschätzt werden."

Übersetzung: Thomas Gandow

Druck auf die Tokioter Stadtverwaltung

Es war nicht nur das Schreiben des Dalai Lama, das zur schließlichen offiziellen Registrierung von AUM Shinri-Kyo in Japans Hauptstadt Tokio führte. Weil die Stadtverwaltung die Organisation nicht als religiöse Vereinigung anerkennen wollte, übte AUM zugleich erheblichen Druck aus. Über 100 Anhänger machten ein Go-in bei der zuständigen Behörde. Die mit der Sache befaßten Beamten wurden nicht nur tags im Büro aufgesucht, sondern auch mit ständigen Anrufen nachts zu Hause am Privattelefon belästigt. Schließlich erklagte sich AUM Shinri-Kyo im August die Registrierung. Immerhin formierte sich bereits im Oktober 1989 auch die "AUM Shinri-Kyo OpferVereinigung", eine Art Elterninitiative.

Krasse Änderung oder massive Täuschung der Bürgen?

Angenommen, was in den "Zeugnissen" aus den Schreibstuben des Dalai Lama steht, war zum damaligen Zeitpunkt wahr und zutreffend - wie konnte sich die AUM-Gruppe in so kurzer Zeit vollständig ändern?

Angenommen aber, daß dies nicht zutreffend war, wie konnten geistliche Führungspersonen wie der Dalai Lama und seine Mannschaft derartig getäuscht werden? Und was motivierte sie, eine derart massive Empfehlung und spirituelle Bürgschaft für eine recht neu aufgetauchte Gruppe auszusprechen?

Diese Fragen müssen, was Details betrifft, noch unbeantwortet bleiben. Vielleicht sind diese Fragen auch zu naiv und unrealistisch, weil sie so oder so auf eine zu einfache Wahrheit hinzielen.

Warum aber soll die AUM Shinri-Kyo nicht tatsächlich als eine am echten Mahayana-Buddhismus orientierte Seelenrettungs- und Weltveränderungsbewegung aufgetreten sein und zugleich auch von bösen Mitteln Gebrauch gemacht haben - vielleicht ganz selbstlos zur Erreichung der edlen Ziele?

Hintergründe und Verbindungen der AUM Shinri-Kyo müssen noch weiter erforscht werden. Die folgenden Ausführungen können daher erst als Anregung zu weiterer Untersuchung verstanden werden.

"Verwandlung" einer New-Age-Gruppe

Erst kürzlich hatten wir einen teilweise vergleichbaren Fall in Europa und Kanada. Eine völlig harmlos erscheinende New-Age-Gruppe, der Sonnentempel des Luc Jouret, verwandelte sich in eine kämpfende Truppe, die bereit war, in ihrem letzten Kampf als "Vertreter einer höheren Gerechtigkeit" bis zum Tod zu gehen und "Verräter" mitzunehmen.

Der Sonnentempel begann und erschien aber lange als eine bloße New-Age- und Lebensreform-Gruppe. Natürlich waren diese Pseudotempler auch "Rosenkreuzer". Aber waren sie nicht vor allem einfach eine Lobby-Gruppe für das sanfte "Wassermannzeitalter"?

Reform-Bauernhöfe, Alternativ-Medizin, eine Bio-Brot-Bäckerei, Umweltschutz, das waren die Hauptpunkte ihrer Aktivitäten.

Sogar Management-Training für ein neues, ethisches Denken, "wahres Christentum" und ähnliches waren die Themen dieser Gruppe. (Näheres haben wir im BERLINER DIALOG Nr. 1 dargestellt und dokumentiert.)4) Aber im inneren Zirkel praktizierte diese Gruppe, wie jetzt alle wissen, schon damals ein faschistisches, rücksichtsloses Power-System, fühlten sich geführt von der "weißen" Loge des Sirius.

Aussteiger und betroffene Angehörige hatten bereits früher darauf hingewiesen, aber man hatte ihnen nicht genug Gehör geschenkt. Es klang zu verbittert und zu bizarr, was sie erzählten...

Der Shambala-Plan zur Rettung der Welt

AUM Shinri-Kyo wollte ebenfalls diese Welt bessern und retten und versprach als seine drei "Hauptsäulen":

  1. Freiheit von Krankheit
  2. Glück in dieser Welt
  3. Selbstverwirklichung und Erleuchtung.

Auch AUM Shinri kämpfte also für das Gute, auf der individuellen und auf der universellen Ebene. Für das Überleben der Menschheit, für eine neue, bessere Weltordnung, für ein friedliches Zusammenleben in den projektierten AUMLotos-Dörfern. Man wollte "diese Welt zu einem Shambala (Utopia) machen". Der "Shambala-Plan" Asaharas sollte

"ein Schritt sein, unsere eine und einzige Erde zu retten. Dieser Plan schließt die Schaffung von sieben Hauptquartieren über Japan verteilt und die Errichtung eines Meditationszentrums in jeder größeren Stadt vor. Die reine, erleuchtende Energie dieser Heiligtümer wird die Umgebung durchdringen und das ganze Land wird durch das Licht der Weisheit erleuchtet werden. Der Plan schließt auch die Errichtung von Lotus-Dörfern ein, wo Menschen dazu hingeführt werden, ihr Leben auf der Grundlage der Wahrheit zu führen. Als Vorläufer hat AUM bereits ein Hauptquartier am Fuße des Fuji-san, eine Shambhala-Kommune am Berg Aso und das AUM-Shinri-Kyo -Hospital errichtet. In Kürze werden auch die Wahrheitsakademie, eine Bildungseinrichtung, sowie eine Nahrungsmittelfabrik folgen".5) Man glaubte, AUM Shinri-Kyo müsse nur genug Leute bis zum Zustand der Erleuchtung bringen um Naturkatastrophen, zum Beispiel einen Ausbruch des Fuji-san zu verhindern oder auch um die Menschheit vor Katastrophen, die von Menschen verursacht werden können zu schützen, insbesondere einem 3. Weltkrieg oder einen Atomkrieg. Solche Katastrophen könnten gestoppt werden, wenn 25 % der Weltbevölkerung Anhänger würden.

Im Kampf gegen die Weltverschwörung

Möglicherweise glaubten die Mitglieder der Bewegung sogar, die letzten endgültigen Kämpfer für Gerechtigkeit und Fortschritt zu sein. Die japanische AUM Shinri-Sekte sah sich nämlich als einziger ernsthafter Gegner einer Verschwörung von USA, Freimaurern, jüdischen Organisationen und Geheimdienst, die sich aufgemacht hätten, japanische Lebensart, ja sogar das Denkvermögen der Japaner durch Hamburger, Chips (statt Reis), Cola und Comics zu unterminieren.

Mit allen Mitteln wollte man sich dieser Verschwörung, die selbst den Tenno, den japanischen Kaiser zur Marionette gemacht habe, entgegenstellen. Und man bereitete sich nicht nur mit Gedankenexperimenten vor.

Darum unternahm Asahara mit seiner Gruppe allerhand Anstrengungen, um sich gegen diese Gefahren stark zu machen. Die Liste der Aktivitäten ist lang und bizarr:

Kampfsport und Unterwassermeditation, EEG-Meditation, Gen-Austausch durch Bluttrinken, Gas-Produktion, Dauerberieselung durch Videovorträge des Gurus in Kabinen, die völligen Abschluß von der Außenwelt boten, elektrische Meditationshelme, aber auch Verteilaktionen und demonstrative Auftritte eines in Rußland angeworbenen klassischen Orchesters sollten zur Entwicklung höherer Fähigkeiten beitragen.

Da die gesteckten Ziele nicht allein auf religiösem Wege erreicht werden konnten, beschloß man, auch politisch aktiv zu werden. Deshalb gründete AUM Shinri-Kyo im September 1989 sogar eine eigene politische Partei um die Zukunft zu sichern und die Welt zu verbessern. Die Partei hieß Shinri-to (Wahrheitspartei) und nahm im Februar 1990 vergeblich an den japanischen Parlamentswahlen teil.

Weltretter werden bedroht

Auch eine "höhere Moral" sollte entwikkelt werden. Dazu gehörte sogar die Entwicklung eines eigenen internen Strafgesetzbuches mit 36 Artikeln, das schwere Strafen, bis hin zur Todesstrafe für alle möglichen, angeblich gegen die AUM Shinri-Kyo gerichteten Taten vorsah.

Man fühlte sich auch selbst bedroht. Ein Jahr lang sprach der Guru immer wieder von Sarin und Giftgasanschlägen. Als eine Bürgerinitiative sich über die aus der Chemiefabrik ausströmenden giftigen Dämpfe beschwerte, behauptete man, man sei selbst schon vergeblich von den bösen Mächten angegriffen worden. Man habe aber eine Maschine entwickelt, Giftgas zu neutralisieren und empfahl sich als Rettungshelfer.

Ist es völlig abwegig, sich vorzustellen, daß man sich mit spektakulären Aktionen als Retter empfehlen wollte? Ist der wahnhaft geglaubte Feind mit seinen Gefahren nicht sichtbar, kann man ihn nicht durch terroristische Aktionen zwingen, die Maske fallen zu lassen? Und wie soll man beweisen, daß man in der Lage ist, im Falle der Gefahr Führung und Rettung anzubieten anders als durch das Provozieren dieser Gefahren?

Was passiert, wenn die Voraussagen scheitern

Manchmal haben wir über "Jehovas Zeugen" geschmunzelt, weil sie zu offensichtlich und bereitwillig ihre Ideologie ändern, ihre Bücher oder sogar ihre eigenen Organisationsstrukturen, und das immer dann, wenn der vorausgesagte Weltuntergangstermin nicht stimmte.

Der amerikanische Sozialpsychologe L. Festinger hat mit seiner "Theorie der kognitiven Dissonanz"6) ein Erklärungsmodell dafür angeboten, wie eine religiöse Gruppe reagiert, wenn ihre Prophezeiungen, insbesondere ihre Weltende- und Untergangsprophezeiungen durch die Wirklichkeit widerlegt werden. Niemand hält es aus, wenn die Realität offensichtlich seinen festen Überzeugungen, seinem Wissen, seinem Glauben, seinen Wünschen widerspricht, wenn also die "mitgebrachten" Kognitionen und die konkreten Wahrnehmungen nicht übereinstimmen, also dissonant sind.

Festingers Theorie beschreibt nun, daß Übereinstimmung (Konsonanz) wieder hergestellt werden kann entweder durch Anpassung der Kognitionen, also der Ideologie oder des Glaubenssystems an die neue Lage, oder durch verändernde Anpassung des Verhaltens oder durch Passendmachen der Umwelt.

  1. "Berichtigtes Verständnis"
    Festinger, der seine Theorie an einer kleinen Weltuntergangssekte gewonnen hat 7), beschrieb es als typisch und zu erwarten für religiöse Gruppen, daß sie es vorziehen, um Dissonanzen zu beseitigen, die eigenen Kognitionen zu verändern, ggf. zu verstärken, auf einander abzustimmen und sich so vor der Ent-Täuschung zu schützen. Genau das ist der Weg, den Jehovas Zeugen normalerweise gegangen sind: neue Lehren aufzustellen, alte Lehren fallen zu lassen oder sogar direkt eine Lehre durch eine andere zu ersetzen nach dem Motto "Die Wahrheit ist immer die Wahrheit geblieben, wenn auch unser Verständnis von Zeit zu Zeit berichtigt werden mußte". 8)

  2. "Die Welt ist unser noch nicht würdig"
    Ich vermute, an das Modell von Festinger angelehnt, daß esoterische Gruppen eher ihr Verhalten und ihr Verhältnis zur Umwelt verändern, um Spannung und Dissonanz zu reduzieren, als ihre Lehre zu modifizieren; sie haben sowieso vor allem ein "Vermittlungsproblem" und stellen daher in ihrer eigenen "Arbeit" mehr auf Verhaltensänderung durch Initiation, durch Einweihung und Einübung ab als daß sie auf Umstimmung durch Information setzen. Sie scheinen also eher dazu zu neigen, ihr Verhalten zu verändern, die Ent-Täuschung als solche zu akzeptieren und deshalb z.B. die betreffende Gegend zu verlassen, und auszuwandern usw.; selbst kollektiver Mord oder Selbstmord, angeordnet durch einen Führer, der verspricht, daß die Gruppe reinkarnieren und sich an einem besseren, höheren Platz wieder treffen wird, wo man sich, neu verkörpert, wieder an das Werk der Menschheitsverbesserung machen könne, könnte solch eine verhaltensbezogene Dissonanzreduzierung sein. Jedenfalls handelten so der "Volkstempel" in Guyana, und erst kürzlich Luc Jourets Sonnentempel:

    Als die Welt nicht den Einsichten der Sonnentempler folgte, da schüttelten sie den irdischen Staub von ihren Füßen und legten die Verantwortung für diese Welt nieder, da die Menschheit das Recht weiter zu leben eben verwirkt habe und daher auch nicht mehr würdig sei, Rettung und Hilfe durch den Sonnentempel zu empfangen.

    Man verließ die Erde durch ein leuchtendes demonstratives Fanal, überließ die Erde ihrem grausamen Schicksal und deklarierte:

    "- daß wir uns weigern an einem System teilzunehmen, das von dieser dekadenten Menschheit eingesetzt wurde; (...)

    Mit einer unergründlichen Liebe, mit einer unvergleichlichen Freude und ohne jedes Bedauern, verlassen wir diese Welt.

    Menschen, weint nicht über unseren Abgang, aber weint lieber über Euren. Der unsere ist beneidenswerter als Eurer."9)

    (Übrigens könnte auch der individuelle Weg des klassischen Sektenausstiegs zum Abbau der Spannungen zwischen Ideologie und Wirklichkeit führen.)

  3. "Es kömmt darauf an, die Welt zu verändern"
    Schließlich bleibt noch ein dritter Weg übrig, wenn Interpretationen, Voraussagen und Programme fehlgeschlagen sind, und wenn die durch die Theorie vorausgesagten automatischen Veränderungen nicht eintreten wollen: Es ist eigentlich eher der Weg (totalitärer) politischer Gruppen, nicht die politische Theorie oder die Gruppe, sondern die Umwelt zu verändern.

    Wenn die eigenen Voraussagen und Pläne fehlschlagen, wenn es den versprochenen Erfolg nicht gibt, und auch nicht das prophezeite Chaos, dann muß eben die Welt entsprechend der Ideologie verändert werden, das Strafgericht provoziert, der Zusammenbruch vom Zaun gebrochen werden. Diese Art von Umgang mit der Wirklichkeit und ihren Widersprüchen: eher die Welt zu ändern anstatt die eigenen Konzepte und Ideologien, nicht etwa das Zerrbild der Wirklichkeit, das man sich gemacht hat zu überprüfen und zu verändern, sondern die Welt notfalls mit Gewalt dem Wahn anzupassen, hat vornehme Paten. Man begnügt sich nicht mit dem Meditieren über die Welt und dem Interpretieren der Welt: "Es kömmt darauf an, sie zu verändern" proklamierte auch Marx und setze den Menschen auf den Thron der Entscheidung über die Welt. "Klärung", "Befreiung", Rettung um jeden Preis, und wenn es auf Kosten der Opfer geht, kann so gerechtfertigt werden.

    Sehr bekannt ist das Lied: "He's got the whole world in his hand" - Gott hat die ganze Welt in seiner Hand. Das gibt dem Menschen die Frist und Möglichkeit, sein Apfelbäumchen zu pflanzen und zu wirken, solange die Erde steht.

Aber man versetze sich in die Lage eines Gurus - vielleicht des inkarnierten Shiva Shoko Asahara - dann hätte man die ganze Welt selbst in der Hand - mit aller Verantwortung, aber auch mit aller Möglichkeit der Zerstörung.

Kriegsverhinderung und Kriegserklärung

1987 äußerte sich Asahara in ausdrücklicher Form einer Voraussage optimistisch über die Möglichkeit, einen Atomkrieg zu verhindern:

"...wenn AUM 1993 nicht wenigstens zwei Zweigorganisationen in jedem Land hat, was meint ihr wohl, wird passieren? Japan wird sich wiederbewaffnen 1993. Dann wird mit Sicherheit ein Atomkrieg zwischen 1999 und 2003 ausbrechen. Ich, Asahara, habe den Ausbruch eines Atomkrieges hiermit das erstemal erwähnt. Wir haben nur noch 15 Jahre Zeit.

Aber ich glaube, daß wir bis dahin Zweigorganisationen in jedem Land haben werden. ... Wenn wir das erreichen, dann können wir einen Atomkrieg verhindern. ... Der Grund dafür ist: Wenn der Führer einer Zweigorganisation in jedem Land sich durch Yoga vollendet hat, ist er ein Buddha..."10)

Die Erde müsse auch als Trainingsplatz bewahrt werden:

"Wir brauchen einen Raum oder Platz, um uns viele Male reinkarnieren zu können und auf dem Weg der Wahrheit Fortschritte machen zu können".11)

In dem Maße, wie sich AUM über die Welt ausbreite, könne Frieden und Sicherheit garantiert werden:

"Was denkt ihr, warum ich sagen kann, daß Schlachten aufhören werden. Wenn ein Land viele Anhänger der Lehre der Wahrheit hat, wird es keine internen Konflikte mehr haben und wird auch vermeiden, mit fremden Ländern Krieg zu führen. In dem Maße, wie solche Länder zunehmen, wird die Erde immer friedvoller und sicherer. Daher kann ich euch versichern, daß es keine Schlachten mehr geben wird. Nur AUM kann das möglich machen, weil es ein hervorragendes Trainingssystem hat. ... Wenn es sich über die ganze Welt verbreitet, können wir den 3. Weltkrieg mit Sicherheit verhindern. Ich garantiere dies." 12)

Der Plan, die Welt entsprechend der eigenen Aufgabenliste und Zeittafel zu retten, scheiterte jedoch an verschiedenen Faktoren.

Nach der totalen Niederlage der Wahrheits-Partei bei den Wahlen im Frühjahr 1990 - Asahara selbst erhielt nur 1782 Stimmen - wurde z.B. in der AUM -Zeitung "Bote der höchsten Weisheit" behauptet, Asahara habe verloren, weil der Wahlausschuß seine Stimmen habe verschwinden lassen. Nun scheint man gemeint zu haben, andere Saiten aufziehen zu müssen.

Im Mai 1990 veröffentlichte Asaharas Frau, Tomoko Matzumoto, in dem Magazin "Shinri no Me" ("Wahrheitsknospen") eine "Kriegserklärung". Darin hieß es u.a., von jetzt an werde man mit Gegnern anders umspringen. Dies betraf schwankende Kantonisten in den eigenen Reihen, aber auch Kritiker von außen.

Mit kleinen Gruppen ging man zu unsicheren Kandidaten und erzwang ihr "shukke", ihren Auszug von zu Hause. Aber ebenso drang man auch auf ehemalige Anhänger ein, zwang sie, Entschuldigungsbriefe zu schreiben usw. Höhepunkt bildete die Entführung des Rechtsanwalts Sakamoto.

Von der Kriegsverhinderung zum letzten Gefecht:
"Armageddon"

Im Mai 1990 hieß es dann, u.a. zur Begründung, warum mehr Anhänger "shukke" machen sollten und als Mönche und Nonnen in die Kommunen ziehen sollten:

"Meiner Meinung nach hat entsprechend dem Gesetz des Universums das Reich der Begierden (von denen die Erde ein Teil ist - Red.), bereits begonnen, wieder zu seiner ursprünglichen Form zurückzukehren, dahin wo alles anfing. In Kürze bewegen wir uns in Richtung Armageddon." 13)

Anzeichen seien die Unruhen im mittleren Osten, die Wiederkunft des Haleyschen Kometen, häufige UFO-Sichtungen, die Demokratisierung der UdSSR und die Vereinigung Europas. Mit großer Wahrscheinlichkeit liegt hier noch keine inhaltliche Verwendung des Begriffs "Armageddon" im Sinne einer Anknüpfung an biblische Bedeutungen vor. (Asahara fing nach eigenem Bekunden erst später an, sich mit der Bibel und der christlichen Tradition zu befassen). "Armageddon" bezeichnet hier vermutlich "lediglich" den "Kampf bis zum Tod" bzw. eine letzte Entscheidungsschlacht. Nach diesem "Armageddon" werde die menschliche Gesellschaft zweigeteilt sein - bestimmt für Himmel und Hölle.

"Deshalb sage ich immer, wir müssen daran denken, wie wir uns selbst schützen können, uns selbst kontrollieren können. Wir müssen daran denken, was wir tun müssen um nach Abhasvara (den Himmel von Licht und Ton) oder sogar ins Nirvana zu kommen, und damit beginnen, uns vorzubereiten. Ich habe daher beschlossen, nach dem Seminar auf der Ishigaki-Insel eine Unterkunft für 1.5u00 2000 Leute zu bauen. Atomkrieg, bakteriologische Waffen, chemische Waffen, egal welche Waffen uns angreifen werden, wir müssen uns selbst schützen und einen Platz sichern für unser Werk." 14)

"Es macht mir nichts aus, ob ihr sterbt, überlebt oder krank werdet wenn Armageddon passiert. Was zählt ist, in welchem Zustand ihr dann sein solltet, ihr würdet dieses Leben mit klarem und wachem Verstand verlassen, in einem Stadium möglichst nahe an der Erleuchtung.15)

Wenige Zeilen nach diesen nach irdischen Begriffen resignativen Worten, die nur noch eine geistige Rettung versprechen, kann es aber wieder sehr konkret, diesseitig und kämpferisch heißen:

"Laßt es mich nochmals wiederholen. Wir wissen nicht, was wir mit dieser Gesellschaft machen sollen, mit dieser unserer Welt. Aber es ist wahr, daß diese kleine Gruppe wächst, daß sie eine Macht wird. Diese Macht wird wachsen um uns zu schützen; wenn wir unsere Kräfte zusammentun, werden wir die Macht haben, uns selbst zu schützen. Das ist es, was wir jetzt tun. Wie ich schon erwähnte, werden wir bald einen Schutzraum für 1500 bis 2.000 Leute haben. Ich versuche auch, an einer anderen Stelle ein Stück Land von 150.000 m2 zu bekommen. Wir werden dort eine von unseren Kommunen haben auf diesem Grundstück mit einem besseren Atomschutzbunker und anderen Schutzmöglichkeiten."16)

Tatsächlich lebten zuletzt (1994/95) von den angeblich 10.000 Anhängern in Japan etwa 1000 in den Kommunen der Gruppe.17)

Es wurden nicht nur gewaltige Fabriken errichtet, die alle möglichen Chemikalien, sondern auch Waffen produzieren konnten - und z.T. bereits produziert haben, sondern die AUM-Bewegung errichtete eine Parallelstruktur zum Staat mit zwölf eigenen Ministerien. Der japanische Innenminister Hiromu Nonaka bezeichnete diese Organisation als eine Art Schattenstaat. Angeblich soll die AUM Shinri-Kyo ursprünglich für November den Beginn eines Stadtguerillakrieges geplant haben. Von Beobachtern wird vermutet, daß man damit die japanische Gesellschaft durcheinanderbringen wollte und eine Voraussage Asaharas erfüllen wollte, daß 1995 ein Wendepunkt in Richtung auf eine Entscheidungsschlacht 1997 sein werde.

In einem Interview Ende Mai sagte der Innenminister sogar, wenn die massiven polizeilichen Maßnahmen und Durchsuchungen, die am 22. März begannen, bis Oktober verschoben worden wären, "wäre die Existenz der japanischen Nation auf der Kippe gewesen".


Pfr. Thomas Gandow,
49, Berlin, ist Kirchlicher Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen in Berlin-Brandenburg. Sein Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages beim Skaade-Seminar 1995 in Aarhus, Dänemark "Outburst of Occult Authoritarianism - Seminar on the revival of authoritarian and occult movements and their challenge to the Christian churches and the classical religions".

Für diese Ausarbeitung benutzte Materialien: div. AUM Shinri-Kyo-Literatur; Informationen des japanischen Rechtsanwaltsteams; Interview mit Herrn Wakatake, Bonn, am 17.4.1995

Anmerkungen

1) Bei dem Attentat auf die Tokioter U-Bahn am 20. März waren durch Giftgas (Sarin) 12 Menschen getötet und mehr als 5000 verletzt worden. Inzwischen erklärten verhaftete Mitglieder von AUM Shinrikyo, Mitglieder der AUM Shinrikyo hätten diesen Anschlag ausgeführt und bereits 1994 einen Giftgasanschlag in Matsumoto, bei dem sieben Menschen getötet wurden.

2) "Ich empfing eine Initiation von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama. Ich empfing auch eine Initiation von dem verstorbenen Kalu Rinpoche, dem höchsten Meditationsmeister der Kagyü-Tradition" Shoko Asahara: Lecture 3. The True Religion. Practice of Altruism, S. 47 (gehalten am 19.2.1989 bei der Eröffnung des AUM Kanazawa-Zentrums) in: Shoko Asahara: The Teachings of the Truth, Vol. 2, Translated and Edited by AUM Translation Committee, Shizuoka, Japan 1992.

3) Shoko Asahara: "Supreme Initiation. An Empirical Spiritual Science for the Supreme Truth, Translated from the Japanese by Jaya Prasad Nepal and Yoshitaka Aoki; Edited by Fumhiro Joyu, AUM USA Co., Ltd, New York 1988 (Originally published in Japanese as "Shoko Asahara: Initiation", Tokyo 1987), S. 10

4) Vgl.: Berliner Dialog Nr. 1, S. 25 ff.

5) AUM Shinrikyo - Die Tür zur höchsten Wahrheit, Hg.: AUM SHINRIKYO, 381-1 Hotana, Fujinomiyashi, Shizuoka 418-01, Japan, November 1991, S. 11

6) L. Festinger: A Theory of cognitive dissonance, Stanford 1957; ders.: Theorie der kognitiven Dissonanz, hrsg von M. Irle, V. Möntmann, Bern, Stuttgart, Wien 1978

7) Vgl. L. Festinger, J. Riecken, S. Schachter: When Prophecy fails, Minneapolis 1956

8) 1879-1979, Seit 100 Jahren auf der Wacht in: Der Wachtturm 13/1979, S. 29

9) aus: "Letzte Botschaft" in: Dokumente der Sonnentemplerlehre, Berliner Dialog Nr. 1, S. 29 f.

10) Shoko Asahara: "Supreme Initiation. An Empirical Spiritual Science for the Supreme Truth, Translatetd from the Japanese by Jaya Prasad Nepal and Yoshitaka Aoki; Edited by Fumhiro Joyu, AUM USA Co., Ltd, New York 1988 (Originally published in Japanese as "Shoko Asahara: Initiation", Tokyo 1987), The Sixth Speech. Prediction and Salvation, S. 87 f.

11) a.a.O. S. 91

12) a.a.O. S. 92

13) Shoko Asahara: Lecture 7. Heading for the Catastrophe. The Path the Practicioners Should take. S. 103 (gehalten am 11. Mai 1990 im Wakayama-Zentrum) in: Shoko Asahara: The Teachings of the Truth, Vol. 2, Translated and Edited by AUM Translation Committee, Shizuoka, Japan 1992.

14) a.a.O. S. 103 f.

15) a.a.O. S. 104

16) a.a.O. S. 105

17) Der Deutschland-Resident von AUM Shinri-Kyo gab freilich im April 1995 den Bestand von 1700 Mönchen und Nonnen in den Wohngemeinschaften an. In Rußland habe man immerhin schon 300 Mönchen und Nonnen. Um die Welt zu retten und Japan nach der zu erwartenden Katastrophe wieder aufzubauen, benötige man aber langfristig 40.000 bis 50.000 Vollzeitmitglieder, bislang habe man aber erst 10.000 Mitglieder in Japan - sicherlich eher eine gewünschte Zahl wie auch die durch die Presse und die AUM -Verlautbarungen geisternde Zahl von 30.000 russischen Anhängern.


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