Einführung
Mit neuen Veröffentlichungen und Verteilkampagnen versucht die
Wachtturmgesellschaft, unter ausdrücklicher Berufung auf 1. Petrus
3,15 in den apologetischen Dialog mit der Außenwelt zu kommen.
Wer und wie Jehovas Zeugen "wirklich" sind, möchte eine neue Broschüre "Jehovas Zeugen - Menschen aus der Nachbarschaft. Wer sind sie?" aufzeigen.
Bietet die neueste Broschüre neben der anscheinend dringend nötigen "Verteidigung und Abwehr" auch Ansatzpunkte für ein echtes Gespräch mit Jehovas Zeugen in Deutschland?
Auf die einleitende, großgedruckte Behauptung über Jehovas Zeugen kommt es den für dieses Heft Verantwortlichen anscheinend am meisten an: "Sie unterscheiden sich zumeist kaum von deutschen Durchschnittsbürgern. Ihnen liegt viel an angenehmen Wohnverhältnissen, an einer redlichen Arbeit und einer glücklichen Zukunft für ihre Kinder" (S. 3)
Phantastischer Notendurchschnitt
Zumindest in einem unterscheiden sich Jehovas Zeugen allerdings drastisch
von deutschen Durchschnittsbürgern, denn ihre Kinder haben traumhafte,
nur überdurchschnittliche Schulnoten: "Daher bringen 65,9 Prozent ihrer
Kinder sehr gute oder gute und weitere 34,1 Prozent befriedigende Noten nach
Hause." (S. 31) Auch aus anderen Bereichen des Lebens der "Zeugen" werden
positive, überdurchschnittliche Zahlen gemeldet.
Mit dem Heft sollen erste Ergebnisse einer 1994 von der deutschen Organisation durchgeführten Befragung unter Jehovas Zeugen vorgestellt werden. 145.958 der deutschen Zugehörigen zu Jehovas Zeugen sollen sich an der Umfrage mit einem sehr ausführlichen Fragebogen, der mehrfache zusätzliche detaillierte Anleitung erforderte, beteiligt haben.
Einige Ergebnisse der Umfrage lassen auf einen zunehmenden inneren Druck zur *) Anpassung schließen, so z.B. die Mitteilung, daß bei immerhin 36,4 % die Zugehörigkeit vor dem 14. Lebensjahr - also doch wohl in einer JZ-Familie begann (S. 8)oder die in einer Grafik versteckte Mitteilung, daß mehr als 85 % der Mitglieder bereits mehr als 19 Jahre zur Organisation gehören (S. 9).
Verteidigung alter Praktiken und Lehren
Mehrfach wird in der Broschüre das Gespräch mit Kritikern
abgelehnt, da diese teils unabsichtlich, zum Teil aber auch böswillig
Jehovas Zeugen "schlechtzumachen und ihre Tätigkeit zu stören"
versuchen würden (S. 29). Erklären wolle man aber gern den eigenen
Standpunkt (S. 3 f., S. 29). Deshalb setzen die Herausgeber neben die
Darstellung der eigenen "Normalität" auch eine Auseinandersetzung mit
oft gehörter Kritik und häufigen Fragen.
Dazu gehören Fragen nach der eigenen, umstrittenen Bibelübersetzung (S. 11) der Wachtturmorganisation, die abgewiesen werden u.a. mit Hinweis auf andere, freie Übertragungen, wie z.B. die "Gute Nachricht"; die Frage nach der Gleichschaltung der Argumentation: Alle Jehovas Zeugen erzählen immer wieder die gleichen Dinge - Erklärung: "genauso, wie Musiker in einem Orchester unter der Leitung eines Dirigenten harmonisch zusammenspielen, predigen Jehovas Zeugen übereinstimmend die Botschaft" (S. 12 f.) - kein Wort hier allerdings über die entsprechende, notwendige "Probenarbeit", bei der Fragen und Antworten aus dem "Königreichsdienst" und anderen Anleitungsblättern tatsächlich wie eine Partitur einstudiert werden, kein Wort auch von den Redevorlagen, die alle Einzelheiten einer Ansprache in WachtturmVersammlungen vorgeben; fehlende Diakonie und Sozialarbeit wird unter der Überschrift "Für die Seinigen sorgen" mit der behaupteten Fürsorge für die eigenen "betagten Mitgläubigen" entschuldigt (S. 15) .
Sechs Seiten sind allein dem Dauerthema Bluttransfusion gewidmet ( S. 20 - 25).
Ein Krankenhauskomitee im idealtypischen Einsatz. Während zwei "Zeugen" darauf achten sollen, daß der Patient auf der Intensivstation keine Bluttransfusion erhält, versuchen zwei weitere JZ-Funktionäre wie beim Haustürverkauf den Arzt vom Standpunkt der JZ zu überzeugen.
(Fundstelle: Jehovas Zeugen, Menschen aus der Nachbarschaft. Wer sind sie, S. 20, Beleg: Archiv Gandow)
Das gestellte Foto illustriert das Festhalten der Organisation an der Praxis, im Ernstfall mit einem "Krankenhauskomitee" im Krankenhaus aufzutreten um der "völlig persönlichen Entscheidung des einzelnen", eine Transfusion abzulehnen, den nötigen organisatorischen Nachdruck zu verleihen ; wie auf dem Bild zu sehen ist, soll solch ein Komitee freilich keine Krankenhausseelsorge betreiben, sondern scheint vor allem die Funktion zu haben, den Arzt von einer Bluttransfusion abzuhalten.
Sind "Jehovas Zeugen" Holocaust-Opfer?
Einen wichtigen Stellenwert in der heutigen Selbstdarstellung der Jehovas
Zeugen nimmt die Verfolgung der Anhänger der Wachtturmgesellschaft
durch die Hitlerdiktatur ein. In der Broschüre heißt es sogar:
"Man erwähnt Jehovas Zeugen oft in Verbindung mit dem Holocaust, denn
auch sie wurden im Dritten Reich heftig verfolgt. Tatsache ist, daß
sie zu den ersten gehörten, die in Konzentrationslager eingewiesen
wurden" (S. 3, vgl. auch 4-5 und 16-19).
Tatsächlich wurden die Ernsten Bibelforscher von den Nationalsozialisten verfolgt. Viele von ihnen litten in den KZs. Aber zur Wahrheit gehört auch: Der damalige Zweigdiener Erich Frost verriet seine Untergebenen und deren Treffpunkte und überstand die Nazizeit ziemlich ungeschoren im Vergleich zu den von ihm Verratenen (vgl. Der Spiegel 30/1961), den kleinen und treuen Verbreitern des Wachtturms. Und dennoch wurde Frost nach 1945 zunächst sogar als "Widerstandskämpfer" im Amt bestätigt.
Kein Wort auch über die ursprünglichen Ergebenheitsadressen der Wachtturmführung an den "Sehr verehrten Herrn Reichskanzler" Adolf Hitler. In einem Brief wurde sogar die "völlige Übereinstimmung mit den gleichlaufenden Zielen der nationalen Regierung des Deutschen Reiches" betont. Schließlich hat "sich das Präsidium unserer Gesellschaft in den letzten Monaten (1. Halbjahr 1933) nicht nur geweigert, an der Greuelpropaganda gegen Deutschland teilzunehmen, sondern hat sogar dagegen Stellung genommen, wie dies auch in der beigefügten Erklärung unterstrichen wird durch den Hinweis, daß die Kreise, welche diese Greuelpropaganda in Amerika leiten (Geschäftsjuden und Katholiken) dort auch die rigorosesten Verfolger der Arbeit unserer Gesellschaft und ihres Präsidiums sind." - Die Berührung der damaligen Führung der WTG zum Holocaust besteht vor allem darin, daß antisemitische Klischees der damaligen Zeit von der Führung der WTG aufgegriffen und benutzt wurden. Diese zumindest als "widersprüchlich" zu bezeichnende Haltung der Führung der Wachtturmgesellschaft zur Hitlerdiktatur muß aus Achtung vor den Opfern, auch aus den Reihen der "Ernsten Bibelforscher", kritisiert werden - wenn nicht von den heutigen Verantwortlichen der WTG selbst, dann von all denen, die ein offenes Gespräch mit Jehovas Zeugen führen wollen.
Kein Drohen mit dem Weltuntergang, aber eine gereinigte
Erde
Einerseits wird eingangs behauptet: "Jehovas Zeugen sind keineswegs
,Propheten der Angst-, die ihren Mitmenschen mit dem Weltuntergang drohen".
Sieben Zeilen später heißt es dann aber: "Ist es nicht ein
herzerfreuender Gedanke, daß bald die Zeit kommt, in der es nur gute
Menschen auf der Erde gibt?" (S. 7).
Wie dieser Zustand herbeigeführt werden soll, und was aus den "anderen" Menschen werden soll, wird nicht erwähnt. Das Wort Harmageddon taucht in dem ganzen Heft nicht auf.
Das Kreuz mit der Körperschaft
Die Broschüre steht eingestandenermaßen im Zusammenhang mit dem
Bestreben der Wachtturmorganisation, in Deutschland den Status einer
"Körperschaft des Öffentlichen Rechts" zu erlangen ( S. 28). So
soll die Broschüre sicherlich wie die vorangegangene Umfrage vor allem
auch das Selbstbild der Mitglieder dieser Organisation in eine neuerdings
erwünschte Bahn lenken.
Im Bestreben, in den Genuß der entsprechenden Privilegien zu kommen, möchte man als staatstragende Körperschaft gewertet werden. Bei der Sommerveranstaltung 1995 in der Berliner Waldbühne wehten z.B. die deutsche, die Berliner und sogar die Europafahne über den zum Kongress Versammelten "Jehovas Zeugen". Bloßer Zufall?
In diesem Zusammenhang ist in der Broschüre der Jehovas Zeugen zum ersten Mal seit langem in positivem Zusammenhang sogar ein Kreuz zu sehen:
Das Bundesverdienstkreuz am Bande, das im Oktober 1994 an eine Angehörige der Jehovas Zeugen für zwanzigjährige Pflege eines Behinderten verliehen wurde.
(Fundstelle: Jehovas Zeugen, Menschen aus der Nachbarschaft. Wer sind sie? S. 5,
Beleg: Archiv Gandow.
Es ist "hin und wieder notwendig, einige Ansichten zu
korrigieren"
Noch steht im Impressum jeder "Erwachet"-Zeitschrift "Vor allem aber
stärkt diese Zeitschrift das Vertrauen zum Schöpfer, der
verheißen hat, noch zu Lebzeiten der Generation, die die Ereignisse
des Jahres 1914 erlebt hat, eine neue Welt zu schaffen, in der Frieden und
Sicherheit herrschen werden." (Hervorhebung Red.)
Wird es der Führung der WachtturmOrganisation gelingen, diese ihre eigene konkrete Behauptung über die Generation von 1914: "Millionen jetzt lebender Menschen werden nicht sterben" auszulöschen mit einer Argumentation wie der folgenden: "Jehovas Zeugen erwarten sehnlich die Offenbarung Jesu (Hervorhebung im Original), die die Beseitigung des Bösen mit sich bringen und bessere Zustände auf der Erde nach sich ziehen wird. In Verbindung damit wurde manchmal auf Daten hingewiesen, die sich später als unkorrekt herausstellten. Das macht die Zeugen aber nicht zu falschen Propheten, denn sie haben sich nie angemaßt, unfehlbare Voraussagen ,im Namen Jehovas- zu machen (5. Mose 18:20-22)." (ebenda)
Ist das ein Schritt in die Richtung, das Datum 1914 mindestens zu relativieren? Man wird abwarten müssen, und alle 14 Tage im "Erwachet" nachschauen müssen, ob "der Satz" noch dasteht.
Man wird auch zuwarten müssen, ob es vielleicht zu neuen Abspaltungen kommt oder ob durch weitere straffe Führung Selbstbildkorrekturen durch Umfragen, Wendungen und Lehrveränderungen bruchlos möglich sind, einschließlich Anpassung der Organisation an die gesellschaftliche Wirklichkeit.
Jedenfalls zeigt die Broschüre für ernsthafte Fragestellungen an Jehovas Zeugen einige Ansatzpunkte auf, die bei dem einen oder anderen Jehovas Zeugen ein Nachdenken beginnen lassen können. y
Pfr. Thomas Gandow, 49,
ist Provinzialpfarrer für Sekten- und Weltanschauungsfragen in
Berlin-Brandenburg und Herausgeber des BERLINER DIALOG.
Jerry R. Bergmann:
Jehovas Zeugen und das Problem der seelischen Gesundheit.
Münchener Texte und Analysen zur religiösen Situation,
München 1994, 84 S., ISBN 3-583-50207-8, DM 6,50
F. W. Haack:
Jehovas Zeugen, 15., von Thomas Gandow erweiterte und
überarbeitete Auflage, München 1994, 88 S., 6,50 DM,
ISBN 3-583-50608-1
(hier auf den S. 25-27 ist auch der WTGBrief an Hitler dokumentiert)