Ich schloß mich einer Politsekte an, in der ich sechzehn Jahre lang wie gefesselt und gebannt verharrte. Ich zog fort von meiner Familie, meinen kleinen Geschwistern, verließ Hamburg, hauste mit zwei "Genossen" in einer Dachbodenkammer oberhalb einer Hannoveraner Puddingfabrik. Wir hatten kaum Geld zum Leben und vor allem keine Zeit zum Lesen. Stück für Stück verlor ich die Kontrolle über mein Leben und meine Zeit, ließ meinen Tagesablauf von früh morgens bis spät in die Nacht von anderen "einteilen", nahm es hin, daß mein Studium immer stärker litt.
Und dann kam es noch schlimmer: Langsam veränderte ich mich, ganz langsam, aber stetig. Offene Gehirnwäsche, wie sie Kriegsgefangene erlebt haben, fand nicht statt. Und dennoch: Ich änderte meine Überzeugungen, machte den Schwenk vom Sozialismus zur Propagierung einer "Arbeiter-Industrie-Allianz" und schließlich zu konservativen Werten, zu einer immer rechtslastigeren Ideologie mit. Innerlich trennte ich mich von dem liebsten Schriftsteller meiner Jugend, Bert Brecht, dessen Gedichte ich einst spontan in den großen Schulpausen Schülern und Lehrern vorgetragen hatte. Unreflektiert machte ich die Verketzerung Erich Frieds mit. Gedichte, Dramen und Romane las ich erst wieder, als die "Partei" dazu grünes Licht gab, und auch da lange nur die parteigenehmen. Das war Friedrich Schiller, dann kam lange nichts, dann kam wieder Friedrich Schiller. Doch zu unserem großen Glück war auch Heinrich Heine "genehm".
Was ist das für eine Partei, daß sie auf mich als junge Abiturientin eine solche Fesselung ausüben konnte? Was war geschehen?
Ich war hineingerissen und beflügelt vom Strudel der 68er Bewegung. Büffeln fürs Abitur und familiäre Verpflichtungen reichten mir nicht. Ich sehnte mich nach mehr. Ich suchte eine linke Organisation, die international arbeitete, in und mit der ich Verantwortung übernehmen könnte.
Die LaRouche-Partei
Da traf ich an der Hamburger Universität auf die Organisation des
Amerikaners Lyndon LaRouche. Sie nannte sich damals International Caucus of
Labor Committees (ICLC). Ein halbes Jahr später ging in Deutschland
daraus die EAP hervor. Anders als die mir von der Universität bekannten
Initiativen behaupteten die Mitglieder des ICLC, weltweit zu operieren, und
ein Programm für die ganze Welt zu besitzen. Eine neue gerechte
Weltwirtschaftsordnung, soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit für
alle Menschen unserer Erde gelte es zu verwirklichen, so verkündeten
sie. Fasziniert besuchte ich ihre öffentlichen Veranstaltungen in
Hamburg, die in den ersten Monaten noch in den Räumen der Evangelischen
Studentengemeinde stattfanden. Und ich erklärte mich bereit zu
"Rekrutierungsgesprächen". Hier saß ich zwei
Führungsmitgliedern gegenüber, die feierlich-ernst
verkündeten, die Alternative in den nächsten zwei Jahren sei
weltweiter Sozialismus oder weltweiter Faschismus. Uns bleibe nicht viel
Zeit. Sie, die Organisation, operiere auf drei Kontinenten, habe ein
weltweites Informationsnetzwerk aufgebaut. Binnen Minuten könne man
eine Information weltweit verbreiten. Keine andere sozialistische
Organisation verfüge über diese Schlagkraft. Doch der Einzelne
müsse sich der Sache voll und ganz verschreiben.
Wir seien Kader. Das war das Leitmotiv interner Mitgliederschulungen, die folgten. Manche Mitglieder schleppten noch ein "Beiboot" mit sich herum, in das sie notfalls abspringen könnten, ihr Studium, ihre Familie, Hobbys, Interessen. Wir sollten unser Beiboot fahren lassen.
Warum man nicht austreten kann
Heute, zwanzig Jahre später, halte ich das, was damals mit mir und
meinen "Parteigenossen" vorgegangen ist, für Verhaltens- und
Gedankenmodifikation. Damals entrüstete ich mich, wenn mir jemand
sagte: "Ihr seid ja wohl gehirngewaschen." Und ich amüsierte mich
über die Spekulationen in den Medien, ob CIA oder KGB hinter dem
Netzwerk LaRouches stünden. Jeder Angriff gegen "meine Organisation"
trieb mich nur fester in ihre Arme und verfestigte meinen Glauben, sie
müsse wichtig sein.
Zweimal versuchte ich den Austritt -- und scheiterte. Mein Studium war mir lieb und wichtig. Ich litt unter den täglichen Angriffen gegen "Akademismus" und gegen Intellektuelle. Ich wollte mehr sein als ein Multiplikator der Gedanken anderer, der Gedanken LaRouches und seiner Ehefrau Helga Zepp-LaRouche. Ich wollte zu denen gehören, die selbst die Programme entwickelten. Doch mein Glaube an die Ehrlichkeit der verkündeten hehren Ziele, allen voran die neue gerechte Weltwirtschaftsordnung, war noch unerschüttert. So trieb mich ein Gefühl der Schuld und inneren Leere zurück in die Arme des LaRouche-Ladens. Dennoch schwor ich mir 1980, mich niemals wieder als Verkäufer der Parteiliteratur einsetzen zu lassen. Und ich wollte auch niemanden mehr rekrutieren, da ich niemandem ein Leben zumuten wollte, wie wir es führten.
Dennoch verharrte ich weitere zehn Jahre in LaRouches Organisation. Die Arbeit in der Zentralredaktion machte mein Leben erträglicher. Doch wenn ich heute an die Struktur und Funktionsweise unserer "Redaktion" denke, frage ich mich: Muß es so oder ähnlich nicht auch im Stalinismus gewesen sein?
Der Austritt
1990 schaffte ich endlich den Austritt, beim dritten Anlauf und
engültig. Mein Mann, der mit mir den schwierigen Schritt in den
Neubeginn wagte, hatte einen schweren Unfall, der ihn monatelang
arbeitsunfähig machte. Wir hatten zwei kleine Kinder. Der älteste
war zwei Jahre alt, das jüngste noch ein Säugling. Die Feindschaft
innerhalb der Organisation gegen Kinder war mir unerträglich geworden.
Loyale Kader sollten keine Kinder haben, einige ließen sich zur
Abtreibung überreden. Gleichzeitig propagierte die "Partei", Abtreibung
sei Mord. (Damals hieß die Partei übrigens "Patrioten für
Deutschland", 1991 veränderte sie ihren Namen wieder einmal, in
"Bürgerrechtsbewegung Solidarität".)
Mir gingen die Augen auf: Waren am Ende die großen hehren Ziele nur Zweckpropaganda? Und die Mitglieder belogen und betrogen? Die Heiligkeit des menschlichen Lebens. Für uns galt sie nicht! Und was war mit den anderen großen Zielen? Der neuen Weltwirtschaftsordnung? Mich durchfuhr ein Schauer, als ich erkannte, daß sie mit solch illustren Gestalten wie Nicolae Ceaucescu und Saddam Hussein verwirklicht werden sollte. Lyndon LaRouche hatte Saddam Hussein seit Anbeginn propagandistisch unterstützt, seit 1974. Die Massaker an den Kurden hatten "wir" verharmlost, hatten Saddam Hussein über zwei Jahrzehnte die Treue gehalten. Wo waren wir gelandet?! Wo war ich gelandet?! Hatte ich das gewollt?
Es war ein großer Glücksfall, daß wir in der europäischen Zentrale mehrere waren, die gleichzeitig zu zweifeln anfingen, und daß wir offen miteinander sprechen konnten. Die Hälfte der deutschsprachigen Redaktion verließ 1990 LaRouches Organisation, und mit meinem Mann auch jeder zweite Programmierer. In endlosen Gesprächen gemeinsam den Dingen auf den Grund gehen zu können war sehr hilfreich für den großen Schritt heraus aus einer vermeintlichen "geistigen Heimat", die uns bis in alle Lebensbereiche hinein erfaßt hatte.
Das Leben "danach"
Und was kam dann? Familiäre Verpflichtungen, zwei Kleinkinder,
hätten mich ausfüllen können. Doch ich hatte niemals Hausfrau
sein wollen. Ich begriff, daß ich nie etwas anderes gewollt hatte, als
zu schreiben. Frei, unzensiert zu schreiben. Und ich begriff auch, daß
das, was ich erlebt hatte, so ungeheuerlich war, daß ich darüber
nicht zur Tagesordnung übergehen konnte. So entstand mein
autobiographisches Buch . In schonungsloser Offenheit und authentisch
zeichnete ich ein Bild von dem, was vorgefallen war. Damit möchte ich
nicht nur dazu beitragen, aufzuklären, sondern auch allzu glatte
Vereinfachungen umstoßen: Nicht jedes Sektenmitglied ist labil,
unselbständig, ängstlich. Politsekten rekrutieren mitten unter den
engagiertesten, unabhängigsten, verantwortungsbewußtesten, sozial
sensibelsten Menschen um uns herum. Hier liegt die Bedrohung für unsere
Gesellschaft!
Aglaja Beyes-Corleis, 40,
war von 1974 bis 1990 Mitglied der Organisation LaRouches. Die letzten zehn
Jahre arbeitete sie dort in der europäischen Zentralredaktion. Nachdem
sie die Strukturen der Politsekte durchschaute, schrieb sie über ihre
Erfahrungen ein Buch (siehe Literaturhinweis). Sie lebt heute mit ihrem Mann
und ihren beiden Kindern als freie Autorin in Wiesbaden, hält
Vorträge und Lesungen und ist Mitglied im Verband deutscher
Schriftsteller (VS).
Literaturhinweis:
Aglaja Beyes-Corleis hat ihren Weg ausführlich in ihrem Buch
geschildert:
Beyes-Corleis, Aglaja:
Verirrt - Mein Leben in einer radikalen Politorganisation,
Herder/Spektrum, Freiburg im Breisgau 1994