Das Beten des Messias
Das Christentum ist eine geschichtlich-messianische, keine meditative
Religion. Jesus ist der Christus, der Messias Israels und der Kirche, er war
kein "Guru". Das heißt, er hat keinen von seiner geschichtlichen
Person ablösbaren Heilsweg vorgetragen. Nach christlicher
Überzeugung wird das Heil durch den menschgewordenen, gekreuzigten und
auferstandenen Heiland gewirkt und im Glauben angenommen: "Wenn du mit
deinem Munde bekennst, daß Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen
glaubst, daß ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du
gerettet." (Römer 10,9) Zu diesem Glauben kommt man durch das Wort. Um
in diesem Glauben zu bleiben und zu wachsen, dient auch die christliche
Meditation.
Das Christentum ist keine meditative Religion, aber es enthält meditative Elemente: Jesus Christus war kein selbstbewußter Tat- und Leistungsmensch. Er wußte sich ganz von Gott getragen. Immer wieder zog er sich aus der Öffentlichkeit in die Stille zurück, um Zwiesprache mit dem Vater zu halten. "Und am Morgen, noch vor Tage, stand er auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort." (Mk 1,35f; siehe auch Mk. 6,46; 14,35-41, Lukas 6,12; 9,18.28). Was Jesus tat, ist auch für seine Gemeinde maßgeblich. Vielleicht betete er in der Weise der Väter murmelnd die Schrift bedenkend. Daran schließt sich die christliche Meditation an, die in der christlichen Frömmigkeit einen uralten angestammten Platz hat. Schon das Wort "Meditation" zeigt an, daß es sich nicht um ein Selbstgespräch, sondern um eine Form des Gebetes handelt.
Der Begriff Meditation geht auf meditari zurück, die lateinische Übersetzung der hebräischen Vokabel hagah; sie bedeutet, wie wir schon sahen, ein wiederholendes, betendes Sagen von Schriftworten mit leiser Stimme.
Geistliche Übungen
In den geistlichen Übungen der mittelalterlichen Mönche gibt es
vier Abschnitte: - die Schriftlesung (lectio), - die Betrachtung
(meditatio), - das (liturgische) Gebet (oratio) und - die Beschauung
(contemplatio) Diese vier Abschnitte bilden keinen starren Ablauf, sondern
können miteinander nach der einen oder anderen Seite verschmelzen. Wir
kommen dann zu den heutzutage üblichen Meditationsformen: 1. Der
Schriftmeditation (auch: "geistliche Schriftlesung", "Predigtmeditation"):
Der Ausgangspunkt ist die Schriftlesung. Ihr widmet sich die besinnliche
Betrachtung, die schließlich zum Gebet führt. Das ist die
Grundform der gegenständlichen Meditation. (Schriftlesung, Betrachtung,
Gebet) 2. Der Gebetsmeditation (auch: "inneres Gebet", "Herzensgebet",
"Jesusgebet"): Lesung, Betrachtung und Beschauung sind zur Anbetung
verschmolzen. Das zunächst wortlose, tiefe Atmen wird an ein Wort der
Heiligen Schrift gebunden, das als inneres Gebet stets wiederholt wird. An
dieser Form orientieren sich die Geistlichen
Übungen in unserer Gemeinde. (Lesung/Betrachtung, Gebet, Beschauung) 3.
Der Einigungsmeditation (auch "mystischer Weg", "Kontemplation"):
Betrachtung und (inneres) Gebet sind auf eine Gipfelerfahrung (Schau Gottes) ausgerichtet. (Betrachtung, Gebet, Beschauung) Das Verständnis von christlicher Meditation hängt von dem Zusammenhang ab, in dem die Betrachtung steht. In Form 1 ist sie eine Art des reflektierenden, gegenstandsgebundenen Denkens, in den Formen 2 und 3 ist die eine Art des gedankenlosen, nichtgegenständlichen inneren Betens. Seit dem Erscheinen der "Geistlichen Übungen" des Ignatius von Loyola im Jahre 1540 verbanden sich Begriff und Sache für Jahrhunderte mit diesem Werk und der von ihm inspirierten Exerzitienbewegung. Im Protestantismus war es zum Bruch mit der spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraxis gekommen, weil sie in die grassierende Werkgerechtigkeit eingebunden war. Immerhin steht Martin Luthers Umgang mit der Heiligen Schrift der Schriftenmeditation erheblich näher als der neuzeitlichen historisch-kritischen Schriftauslegung.
Heutzutage sind Geistliche Übungen nicht mehr auf die ignatianische Spiritualität und die römisch-katholische Kirche beschränkt. Sie sind in einem guten Sinne überkonfessionell geworden. In der Kirche von England entstand eine Retraitebewegung, die in skandinavisch- lutherische Kirchen hinein ausstrahlte. Auch im reformierten Protestantismus Frankreichs kam es zu Aufbrüchen, aus denen z.B. die Communaute de Taize hervorging. In der Evangelischen Kirche Deutschlands sind Geistliche Übungen vor allem durch die Evangelische Michaelsbruderschaft bekannt geworden. Sammelpunkte für geistliche Übungen sind Häuser der Einkehr, die z.T. von Kommunitäten getragen sind, z.B. aus dem Umkreis der Michaelsbruderschaft.
Meditation außerhalb der Kirche
Dietrich Bonhoeffers Prognose, daß wir einem religionslosen Zeitalter
entgegengehen, hat sich als falsch erwiesen. 1970 begann in Westdeutschland
ein Meditationsboom. Besonders in den großen Städten und ihrem
Umland gibt es heutzutage ein reichhaltiges weltliches oder religiöses
Meditationsangebot. Psychologen und Ärzte bieten Meditation aus
therapeutischen Gründen an. Die asiatischen Hochreligionen mit ihren
Meditationswegen (Yoga, Zen) sind in unserem Land meist in vornehmer
Zurückhaltung vertreten. Spirituelle Schulen, die z.T. aus ihnen
hervorgegangen sind, werben dagegen offensiv, z.B. mit Plakaten für
Meditation. Neue Jugendreligionen geben Anlaß zur Besorgnis. Der
christliche Umgang mit dem weltlichen oder religiösen Meditieren
außerhalb der Kirche sollte genauso weltoffen sein wie der Umgang mit
dem weltlichen Denken sonst. Kennenlernen schadet nicht, sondern bereichert.
Aber: Nicht alles, was man kennenlernt, ist mit dem christlichen Glauben
vereinbar: "Prüfet alles, und das Gute behaltet" (1. Thess. 5,21).
Aus christlicher Sicht ergibt sich folgende Perspektive: Entspannungsübungen Die Psychosomatik betrachtet Meditation als eine natürliche, d.h. nicht-medikamentöse Entspannungstechnik, über die der Körper verfügt und die er aus Gesundheitsgründen nutzen sollte. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, den inneren Kontakt mit sich selbst zu finden, Angst und Streß abzubauen. Meditation ist eine Weise der Selbstverwirklichung. Sie wird gepflegt im Rahmen einer "neuen Innerlichkeit" und Leiberfahrung, die zur Zeit im Trend liegen. Denn sie bilden ein Gegengewicht zu einem Denken, das nur auf das Materielle aus ist.
Religiöse Meditationen verschiedener Richtungen
Das religiöse Meditieren läßt sich nicht auf einen Nenner
bringen. Kennzeichnend ist, daß sich das Selbst über sich hinaus
öffnet. Die psychologisch-immanente Erfahrung wird überschritten
hin zur Erfahrung des Göttlichen. Meditierend entsteht ein Gefühl
schlechthiniger Abhängigkeit, das Bewußtsein, "Gott" in sich zu
tragen oder in "Gott" zu versinken. "Gott" gilt nicht als Du, sondern als
unpersönliche, alles umfassende Seinswirklichkeit. Er ist der
geheimnisvolle Einheitspunkt alles Wirklichen. Gotteserfahrung bedeutet
Verschmelzung zur Einheit. Da menschliche Begriffe vor "Gott" versagen, ist
die angemessene Haltung ihm gegenüber das Schweigen.
Christliche Meditation
Die christliche Meditation deutet die Meditationserfahrungen im Lichte der
Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Das Meditieren dient der Einübung
ins Hören auf Gottes Wort, insofern der Selbstverleugnung. GOTT
ÜBER UNS ist der Vater Jesu Christi, kein unbestimmtes und
unbestimmbares Es, sondern ein Du, das sich definitiv äußert.
Christliche Gotteserfahrung ist dialogisch. Jesus Christus, der GOTT UNTER
UNS, ist in die Geschichte eingegangen, um uns zu erlösen. Durch die
Taufe sind wir in Christus und er ist in uns eingepflanzt, so daß wir
ihn als GOTT IN UNS entdecken können. Es geht nicht darum, Gott in mir
- abseits von seinem Wort, den Sakramenten und der Gemeinde - zu suchen,
sondern sich ihm auszuliefern, damit er mir begegnen kann. Auch das ewige
Heil hebt das Gegenüber von Gott und Mensch, von Schöpfer und
(neuer) Schöpfung nicht auf.
Pfr. Christian J. Hövermann, 48, ist Pfarrer an der "Kirche zum Heilsbronnen" in Berlin-Schöneberg