STANDPUNKTE

Sekteninvasion, Religionsfreiheit und die Aufgaben von Kirchen

von Thomas Gandow
Das, was die Presse "drohende Sekteninvasion" genannt hat, hat in den letzten fünf Jahren überall im Osten stattgefunden. Auf Grund der Warnungen und Aktivitäten einiger kirchlicher Beauftragter da und dort nicht gleich mit dem ganz großen Erfolg ...

Aber immerhin: Während sich "im Westen" mit Unterstützung von Politikern Bürgerinitiativen gründeten z.B. gegen die Ansiedlung von Scientology in Wohngegenden oder auf dem flachen Lande, während die Bundesregierung die kritische Informationsarbeit unterstützte und vor einigen Gruppen wie z.B. der TMBewegung (laut Bundesverwaltungsgericht mit Recht und Pflicht) warnte, gab es "im Osten" Deutschlands zunächst staatliche Förderung aus "Aufschwung Ost"- Mitteln oder aus ABM-Mitteln und sogar offizielle TM-Sendungen im damals noch existierenden (Ost-)Deutschen Fernsehfunk (DFF).

Nun wird es auch offenkundig: Es geht den "Jugendreligionen", "Psycho-Kulten" und ähnlichen Extremgruppen in Osteuropa nicht um das schnelle Geld, sondern um den langfristigen Landgewinn; nicht um die Gewinnung von Massen neuer Mitglieder, sondern um die Rekrutierung einsatzfähiger Kader; nicht um arbeitslose Jugendliche, sondern um gezielte Einflußmöglichkeit.

Was ist die Anwerbung eines Schulmädchens gegen die Verführung eines Fernsehredakteurs? Und was ist die Rekrutierung eines einzelnen Arbeitslosen durch einen Psychokult gegen die Subventionierung einer Scientologen-Aktivität durch das Arbeitsamt, eine staatliche Behörde, mit Millionenbeträgen?

Es ist nun einmal so: Innerhalb der in den "Neuen Bundesländern" und in Osteuropa offen florierenden multireligivsen Szene ebenso wie in der "Lebensberatungsszene" betätigten sich unseriöse Gruppen, die ihre Hintergründe und Praktiken gern im Dunkeln lassen wollen.

Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit überhaupt sind erneut in Gefahr, wenn Gruppen mit totalitären Ansprüchen unwidersprochen vertreten können, was sie für Ethik halten und als allgemeine Regeln durchsetzen wollen.

Wenn z.B. Scientology als Ethik definiert:

  1. "Gegenabsichten entfernen, ist das erreicht,
  2. Fremdabsichten entfernen."

Wer solche Gruppen auch nur indirekt fördert, unterstützt letztlich sehr direkt deren Ziele. Sie steuern totalitäre Gesellschaftskonzepte an, in denen die Herrschaft einer erleuchteten Elite oder einer neuen Rasse von Übermenschen gelten soll und in der das Unrecht bemäntelt wird mit den hohen Zielen und dem bekannten "Aber wir lieben euch doch alle".

Politische Umsetzungen solcher Ideologien, in denen die hohen Ideale alle Mittel rechtfertigen, aber auch Massen(selbst)mordaktionen zeigen, wohin die Ausblendung und Unterdrückung von Kritik, der Verzicht auf freies Denken und die Gleichgültigkeit der Außenwelt gegenüber sich absolut setzenden Gruppen führen können.

Der religiöse Pluralismus nach jahrelanger Einparteiendiktatur erfordert Information und Aufklärung. Hier liegt die Verantwortung von Schulen und Bildungseinrichtungen: Information zu ermöglichen und bereitzustellen.

Verantwortung haben aber auch die seriösen Religionsgemeinschaften, mit offenem Visier und in gemeinsamer Verantwortung für die gemeinsame Gesellschaft die jetzt gewonnene Religionsfreiheit inhaltlich auszufüllen und gegen ihren Mißbrauch zu verteidigen.

Angesichts der jetzt nicht mehr übersehbaren Informations- und Hilflosigkeit staatlicher Stellen in den "Neuen Bundesländern" Deutschlands und den Ländern Osteuropas dürfen sich gerade die Kirchen nicht aus ihrer Verantwortung für die religiöse Bildung und Information zurückziehen. Es ist ja nur ein schwacher Trost, daß kirchlich gebundene junge Menschen z.Zt. von den Werbern der Jugendreligionen nicht erreicht werden (im Gegensatz zu jungen Leuten, die jetzt erst einmal mit ihren Orientierungsfragen neu anfangen, weil ihre bisherigen Organisationen und Strukturen zusammengebrochen sind).

Auch und gerade weil die Kirchen zur Zeit und zum Teil noch nicht "selbst" betroffen sind, können und müssen sie in besonderer Weise öffentlich helfen, raten und informieren. Die Kirchen schulden unserer Gesellschaft auf Grund ihres Auftrages (Matthäus 5,15) eine "apologetische Diakonie" (F. W. Haack). Zum Beispiel: Hilfe in den Auseinandersetzungen mit Gruppen, die Religion zur Durchsetzung von Macht-Ideologien mißbrauchen.

Von den Kirchen in der multireligiösen Gegenwart ist aber auch Grundsätzliches verlangt: Die Stimme der Kirche muß auf dem Großmarkt der Wahrheiten, auf dem modernen Areopag, auf dem Gebiet der religiösen Fragen wieder deutlicher zu hören sein. Sie hat das Evangelium, die Botschaft der Befreiung von irdischen und religiösen Irrwegen und Zwängen zu bringen. Nur dadurch wird langfristig auch all das, was sie (als Kirche doch auf Grund ihrer religiösen Botschaft) sonst alles zu Fragen der Welt zu sagen hat, nicht bedeu- tungslos erscheinen, sondern begründet bleiben.

Bild: Thomas Gandow, 48, Provinzialpfarrer für Sekten und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, erforscht seit 1978 im Auftrag seiner Kirche die Szene der Neuen Religionen, Sekten und Weltanschauungsbewegungen und ist Spezialist für die Mun-Bewegung mit ihrer "Vereinigungskirche".