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BERLINER DIALOG 20, 1-2000 Trinitatis

BÜCHER & MEDIEN

Abwärts in den Himmel
Leider kein Märchen
Für den Berliner Dialog gelesen von Lisa Lech

Anne-Grethe Dahms: Abwärts in den Himmel; Sauerländer Verlag, Aarau-Frankfurt a.M.-Salzburg, 1998
Dies ist die Geschichte eines Mädchens, das mit knapp sechs Jahren lernen muß, jemand Neues zu sein und ein gänzlich anderes Leben als andere Kinder zu führen.
Gitte wartet auf ihren 6. Geburtstag. Nebenan sind neue Leute eingezogen. Der 6. Geburtstag wird wie jedes Jahr aufs Herrlichste gefeiert. Der Vater - ein Seemann - kommt von der See heim und schenkt Gitte einen Hund - Dingo!
Aber dies sollte der letzte Geburtstag sein, den Gitte wie von jeher gewohnt feiern konnte, denn als Gitte das neue Nachbarsmädchen Ruth zum Geburtstagstortenessen und Spielen einladen will, erfährt Gitte auf recht drastische Art, daß die Nachbarsfamilie nicht so wie andere ist.

Nachbarn ohne Geburtstag
Kurz darauf lernt Gittes Mutter diese neuen Nachbarn intensiver kennen, beginnt reges Interesse für deren Religion zu entwickeln und nennt sie alsbald "ihre neuen Freunde".
Als Freundin und Spielkameradin wird Gitte nunmehr an Ruth von nebenan "angehängt". Gitte wird von ihr zu sogenannten "Bibelstudien" mitgenommen. Vom Besuch der Sonntagsschule ist sie befreit, dafür muß sie mit ihrer Mutter zu verschiedenen Zusammenkünften, auf die sie noch vorbereitet werden muß.
Ihr Umgang mit den Schulkameraden wird schon dadurch eingeschränkt, daß ihr nunmehr verboten wird, Geburtstag, Ostern, Weihnachten und Partys zu feiern.
Eine neue Lehre wird ihr vermittelt, die sie in furchtbare Ängste stürzt: Eine "neue Welt" soll bald beginnen, bei der jeder, der die neue Lehre angenommen hat, gerettet wird, alle anderen aber auf grausame Art sterben werden. Ihr Vater, ihre Oma und Bekannte sowie Klassenkameraden wollen nicht in die neue Welt, was bedeutet, daß sie alle "bei lebendigem Leibe verfaulen" werden.
Der Familienzusammenhalt zerfällt, da auch der Vater mit dieser neuen Lehre nichts anfangen kann und will. Kontinuierlich verändert sich Gittes Leben, ohne daß jemand etwas dagegen machen kann. Von Ängsten gepeinigt und unter Überwachung sucht sie ihren eigenen Weg zu finden, indem sie vordergründig, allerdings ziemlich lustlos, versucht, den neuen Ansprüchen ihrer Mutter und der neuen Religion zu genügen. Hinter deren Rücken allerdings, vor allem in der Schule, bemüht sie sich, sich den anderen Kindern anzupassen und mit ihnen einen Teil "normales Leben" zu finden.
Nach Jahren schließlich eskaliert die Situation, als Gitte jemanden in der Organisation kennenlernt, mit dem sie sich ein gemeinsames Leben in der "neuen Welt" vorstellen kann.
Wie wird sie sich letztendlich entscheiden?

Wie selbst erlebt ...
Leider ist diese Geschichte kein Märchen, sondern eine Erzählung, die sich an wahren Geschehnissen orientiert. Ich, als ehemalige Zeugin Jehovas, hatte oftmals genau solche Erlebnisse, wie beschrieben oder ich konnte solche Geschehnisse in nächster Umgebung beobachten.
Für mich war es geradezu unheimlich, durch den Roman von Anne-Grethe Dahms in die Gefühlswelt eines Kindes hineingezogen zu werden, das die gleichen Gefühle wie ich sie kannte, durchleben muß.
Sehr intensiv und einfühlsam erzählt, zieht dieses Buch einen gleich in seinen Bann, bis man es schließlich nicht mehr aus der Hand legen kann.
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Poimenisches Mode-Design
Manfred Josuttis Entwurf einer "energetischen Seelsorge"
und seine Bedeutung für die Apologetik
Rezension von Mark Meinhard

Manfred Josuttis: Potentiale einer energetischen Seelsorge, Gütersloh 2000, 266 S., 58,- DM
"Man sollte alle paar Jahre einen Josuttis lesen, um zu wissen, was gerade 'dran' ist." Dieses Diktum eines Professors der Praktischen Theologie hat seine Wahrheitsmomente.
Manfred Josuttis (M.J.) war schon immer gut für provozierende Neuigkeiten und höchst interessant, wenn es darum ging, aktuelle Strömungen aufzunehmen und zu verarbeiten. Warum aber sollte nun dieses Buch in einer Zeitschrift wie dieser besprochen werden? Scheint es sich doch um eine Arbeit im poimenischen Bereich zu handeln [Poimenik = Lehre vom Hirtenamt; von der Seelsorge; von gr. poimen=Hirte] mit dem Anspruch, allen "die auf religiösen Praxisfeldern Menschen zu helfen versuchen [...] eine ungewöhnliche Fülle von Anstiftungen für eine neue, veränderte Praxis" zu bieten (so der Klappentext). Vorab: das leistet das Buch nicht - umsetzbare Ratschläge konkreter Natur fehlen fast gänzlich, die Hinweise aus der biblischen und kirchlichen Tradition wirken beliebig und z.T. aus der Luft gegriffen. Ebenso unbefriedigend läßt sich die Systematik des Werkes an: Fragen nach dem dahinterliegenden Gottesbild etwa oder der Struktur einer Christologie werden nicht beantwortet.
Über all dem steht der Ansatz einer "phänomenologischen" Betrachtung (nicht mit der Husserls zu verwechseln), die additiv (und nur für die eigene Argumentation affirmativ) Beispiele aus der religiösen Umwelt aneinanderreiht, um Josuttis Aussagen zu stützen. So gesehen, ein reichlich unausgegorenes Werk - für die praktische Seelsorge vor Ort nicht besonders hilfreich.

Den Zeitgeist eingefangen
Warum es Leserinnen und Leser des BD dennoch beachten sollten, läßt sich v.a. an zwei Punkten festmachen: kaum einem anderen, anerkannten Theologen gelingt es wie ihm, den gerade herrschenden religiösen Zeitgeist aufzugreifen und in sein System zu integrieren. Zum zweiten wagt es M.J. damit, unsere gängigen Denkmuster poimenischer und weltanschaulicher Art aufs empfindlichste anzufragen. Diesen Punkten soll hier knapp nachgegangen werden:

Göttliche Energien
In vier Hauptteile gegliedert geht Josuttis dem Ansatz der "energetischen Seelsorge" nach: beschäftigt sich Teil 1 (Entwicklungen) mit der (nötigen) Wende von der Psychologie hin zur Phänomenologie und der Wahrnehmung der "göttlichen Energien", erläutert Teil 2 (Bewegungen) die damit verbundenen (ebenfalls nötigen) Brüche unseres Verständnisses: etwa "vom Sinn zum Segen" oder "vom Theologen zum Geistlichen". Teil 3 (Räume) zeichnet diese Wandlungen in Ort, Zeit und Sprache nach. Schließlich möchte Teil 4 (Felder) Anwendungsbereiche dieser Erkenntnisse in ausgewählten Feldern (etwa "Schuld", "Krankheit", "Trauer" usw.) darstellen.
Im Wesentlichen läßt sich die Grundthese in Josuttis Ausführungen folgendermaßen zusammenfassen: Es gibt neben der kognitiven naturwissenschaftlichen und der intrapsychischen therapeutischen Wahrnehmung des Menschen und seiner Bezüge noch ein eigenes Gebiet der religiösen Wahrnehmung, nämlich das Gebiet des "Heiligen", welches durch Macht-Räume und Energien entscheidend in das Leben der Menschen wirkt.

Spirituelle Gymnastik
Der/die Geistliche der "energetischen Seelsorge" hat dies zu erkennen, muß mit diesen umgehen und darf als Medium in der Aktualisierung dieser göttlichen Felder Heil und Heilung bringen. Diese Aktualisierung geschieht im Grunde durch die Verwendung von Ritualen (incl. Gebet und Segen), die uns in der kirchlichen und biblischen Tradition begegnen.
Immer wieder erfolgt der Bezug auf den Kieler Philosophen H. Schmitz ("System der Philosophie"), der nicht müde wird, "Gefühle [als] überpersönliche, räumlich ergossene Atmosphären, die als ergreifende Mächte Subjekte durch affektives, leibliches Betroffensein heimsuchen" (S. 37) zu beschreiben.
Die Seelsorge wird zu einem "Kampf zwischen den Mächten" (vgl. S. 31), "spirituelle Gymnastik [für] Energiegewinn" (S. 113) wird nötig, der Geistliche, der lernen muß, mit "dem dritten Ohr zu hören, bzw. mit dem dritten Auge zu sehen" (vgl. S. 119) wird zu einem "Medium" mit "mystagogischer Kompetenz" (vgl. S. 117).

Rituale statt Therapien
Weil Seelsorge transkognitiv und transpersonal wird, muß versucht werden, den kirchlichen Riten, die durch "ihre Überrationalisierung ihre Kraft verloren haben" (vgl. S. 142f) ihre Macht wiederzugeben. So lösen die Rituale die Therapien ab: "In der Seelsorge werden Modelle der Psychotherapie repatriiert und radikalisiert" (S. 219). Die Anwendung bleibt schemenhaft: bei Angst heißt es beispielsweise "Die meditative Lektüre der Heiligen Schrift hat weltüberwindende, exorzistische und energetische Wirkung." (S. 203), bei Trauer helfen ebenfalls exorzistische Maßnahmen, denn "das psychologische Trauer-Modell verlängert, indem es auf die Vertreibung der Trauer verzichtet, die Abhängigkeit vom Verstorbenen." (S. 242). Diese Liste ließe sich beliebig verlängern.

Segen statt Sinn
Konsequent hält M.J. bei all dem die Absage an die cartesianische Subjekt-Objekt-Trennung bei: es wird "auf die cartesianische Illusion eines mündigen Menschen verzichtet" (S. 44), denn "jeder Mensch ist ein spannungsgeladenes Machtfeld, nicht zuletzt in jenem Bereich, den man traditionell Seele und neuzeitlich Psyche nennt." (ebd.) Auch die Betonung der Individualität und Identität fragt M.J. an: "Ein bewußtseinszentriertes Selbst stellt [...] auf jeden Fall eine Engführung da" (S. 90). Nicht anders steht es mit dem viel bemühten "Sinn": "In einer Welt, die von Sinnlosigkeit erfüllt ist, zieht nicht einfach Sinn, sondern Segen ein." (S. 104).
All dies sind ernstzunehmende, weil durchaus theologisch begründbare Anfragen an die Grundpfeiler etwa auch einer modernen apologetischen Arbeit: Wieweit ist die Aufgabe der Individualität nötig, um zum Heil zu gelangen? Wenn der Mensch in den Bereich Gottes gerät, wird dann nicht sein Selbst darin aufgehoben sein? Bleibt also etwa die Kritik am UL auf der Ebene der "Entindividualisierung" ihrer Mitglieder stehen, befindet sie sich damit zwar auf der Grundlage z.B. des Grundgesetzes des westlich-demokratischen Systems in Deutschland, hat aber noch keine theologische Fundierung erfahren.

Radikalisierter Mißstand
Dieser Mißstand erhält durch M.J. Ausführungen eine Radikalisierung: das Heilige als eigenständige Macht, die "externe Wirklichkeit des Heiligen" (S. 112) gerät wieder in den Blick und wird flankiert von eben all jenen Phänomenen, die bisher von Theologie und Kirche kritisch beäugt wurden: F.D. Goodmann wird mit ihrer Ekstase-Theorie (z.B. S. 33) bemüht, R. Sheldrakes "morphische Resonanz" spielt eine nicht unwesentliche Rolle (u.a. S. 38), Bergson, Mesmer und Yates können als Zeugen angeführt werden (S. 49). Die Resonanztherapie erhält über Reich, Lowen und Bischof (S. 50ff) ihren Platz, darüber auch eine Chakren-Theorie (S. 55).
Die transpersonale Ebene (interessanterweise ohne die Transpersonale Psychologie) wird mit S. Grof (u.a. S. 92) ins Feld geführt, Starhawk (S. 138) darf in neueren Werken zur Thematik ebenso wie der umstrittene B. Hellinger (S. 152) natürlich nicht fehlen. Schließlich runden Cowens/Monte mit ihrem Beitrag zur "Energieheilung" (S. 233) das Werk ab. Zeitreisen in die Zukunft (vgl. S. 130f), Auravisualisierungen (vgl. S. 140), Exorzismen (natürlich wird wieder Blumhardt bemüht - vgl. S. 41ff u.ö.) usw. werden ernsthaft erwogen, freilich "nicht in naiver Dämonologie, sondern moderner Phänomenologie".

Handreichung für spirituell Heimatlose
So wird sicherlich Josuttis Konzept eine hohe Zustimmung unter all denen finden, die sich "religiös" und "spirituell" in ihrer Großkirche nicht mehr heimisch fühlen. Seine Hinweise zum Ritual lassen eine scheinbar "einfachere" Handhabung seelsorglicher Situationen zu und fordern vom Geistlichen keine komplette Ausbildung mehr in therapeutischer Hinsicht. Statt dessen propagiert er die Öffnung nach außen, die Wahrnehmung jeglicher "religiöser Begebenheiten" und bietet damit zweierlei: zunächst die Möglichkeit, sich wieder als Vertreterin oder Vertreter eines Gesamtkonzepts der Wirklichkeit zu verstehen, welches nicht vor naturwissenschaftlicher oder therapeutischer Welterklärung (mangels Kompetenz) schweigen muß, sondern diese im Gegenteil noch souverän überschreiten kann. Zum anderen die "Rückgewinnung" verlorengegangener Gebiete, die heute z.T. durch Esoterik und "naiven Volksglauben" besetzt sind: hier kann der/die Geistliche wieder seinen/ihren legitimen Anspruch anmelden und schafft vielleicht sogar den Bezug zu so manchem - von der Kirche abgekehrtem - Gläubigen.

Energetische Arbeit
Die Deutung bleibt ambivalent: rationale Argumente verlieren hier ihre Gültigkeit: "Deshalb darf man sich [...] durch antireligiöse Äußerungen weder schockieren noch zur Diskussion über die Wahrheit von Religion provozieren lassen. In einer solchen Situation muß man die energetische Arbeit zunächst allein praktizieren." (S. 177), die bisher gültigen Maßstäbe werden zunehmend unsicherer und die neuen Weltanschauungstheorien immer salonfähiger. Man schreitet vorwärts, indem man das Rad zurückdreht!
Meines Erachtens ist es wichtig, sich mit solchen Entwürfen, wie sie M.J. beispielhaft vorlegt, auch in apologetischer Hinsicht zu beschäftigen. Denn sie tragen mehr vor als ein System oder einen Entwurf, sie plädieren für andere - so empfunden: neue (oder in der Neuzeit verschüttete alt-ehrwürdige) - Kriterien, sie sind immun gegen aufklärerische, psychologische oder humanistische Einwände. Dabei stützen sie sich dennoch auf den Glauben an Christus (im Fall Josuttis mit dem Wissen und der Breite einer theologischen Ausbildung!). Diese Verbindung ist immer mehr zu beobachten, sei es "am Dorf" oder "an der Uni", sei es bei "den Kirchenfernen" oder "im Pfarrhaus".
Christliche Apologetik braucht daher wieder eine theologische Ausrichtung und Reflexion - sie muß lernen, beschriebene Phänomene wieder ernst zu nehmen und in den Blick zu kriegen. Das wird auch das Zulassen etwa solcher Anfragen an die Individualität usw. beinhalten - die Diskussion muß offen geführt werden können, eine positive Begründung wird die rein juristische zu überschreiten lernen müssen.
Nur so wird es ihr gelingen, auch unter den "Gläubigen" "glaubhaft" zu bleiben und damit ihrem Anspruch aus 1 Petr. 3,15 (und 16) gerecht zu werden.

Mark Meinhard (28) studierte evang. Theologie in Erlangen, Greifswald, Berlin und Heidelberg und gehört seit 6 Jahren einer Arbeitsgruppe zum Thema
"Religiöse Bewegungen" an.

(Zuletzt veröffentlicht: "Sehnsucht nach Heil. Neben den Kirchen:
Neue Religiosität, Esoterik, Sekten und Psychogruppen in Erlangen. Neuausgabe 1999").
Zur Zeit ist er Vikar in Unteraltertheim (Dekanat Würzburg/Unterfranken).

Mark Meinhard


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