Tokio. (dpa/tlz) Beim zweiten Großeinsatz gegen die
Endzeit-Sekte Aum Shinrikyo (Höchste Wahrheit) hat[B die japanische
Polizei am Fuße heiligen Berges Fuji ein riesiges Chemikalienlager
entdeckt. Vier Substanzen davon können laut Experten zur Herstellung
des tödlichen Nervengases verwendet werden. Damit verdichteten sich
immer mehr Vermutungen über eine Verstrickung der Sekte und ihres
spurlos verschwundenen Führers Shoko Asahara in die heimtückischen
Giftgasanschläge in der U-Bahn von Toki Montag. Dabei waren zehn
Menschen getötet worden.
Nach einer Verfolgungsjagd in der Provinz Shiba südlich von Tokio nahm die
Polizei ferner einen Mann fest, der einen auf die Sekte zugelassenen Wagen
fuhr. In dem Fahrzeug fand die Polizei chemischen Substanzen und eine
Gasmaske. 1100 Polizisten durchkämmten im Dorf Kamikuishiki, wo rund
900 Sektenmitglieder leben, zuvor nicht durchsuchte Gebäude.
Giftexperten mußten der Polizei helfen
Die dabei entdeckten
Stoffe sind so giftig, daß die Aktion zwischenzeitig unterbrochen
wurde, um Fachleute zur Hilfe zu rufen. Sichergestellt wurden neun
Substanzen, darunter Isopropanal, Phosphorchlorid, Chloroform, Azeton,
Ethanol und Methylzyanid, das sich zur Verdünnung von Sarin eignet.
Spuren davon waren in einem U-Bahnwagen in Tokio nach dem Gasanschlag
gesichert worden. Die Sekte habe "möglicherweise chemische Experimente
im großen Stil durchgeführt", meinte Professor Hidenori Watanabe
von de Universität Tokio. Das Lager sehe nach einer Chemiefabrik aus,
sagte ein anderer Experte. Asahara hat in Predigten seinen Anhängern im
März un 1994 vorausgesagt, er werde wahrscheinlich "durch Giftgas wie
zum Beispiel Sarin" sterben. Dies geht aus Publikationen seiner Sekte
hervor.
Sie zitieren den 40jährigen auch mit den Worten: "Bei einem Notfall
hei&sz das Gesetz, seinen Gegner mit einem Schlag zu töten, zum
Beispiel in der Weise, wie Forschungen über Soman und Sarin im Zweiten
Weltkrieg gemacht wurden."
Offiziell hat die Polizei keine Zusammenhänge zu der Anschlagsserie
hergestellt. Aus Ermittlungskreisen wurde aber berichtet, Asahara und andere
Sektenmitglieder sollten wegen des Chemikalienfundes vernommen werden.
Asaharas Aufenthaltsort ist unbekannt. Ein Anwalt der Sekte sagte in einem
Rundfunkinterview, der Guru sei bereit zu sprechen. Er machte aber keine
Angaben über Ort und Zeit einer solchen Aussage.
"Dem Tod ohne Bedauern ins Gesicht sehen"
Asahara meldete sich am Donnerstag in einer in Tokio abgehörten
Radiosendung aus dem russischen Wladiwostok mit der Erklärung, die
Sekte habe kein Sarin hergestellt. Am Vortag hatte er ebenfalls in einer
Radiobotschaft aus Rußland seine Anhänger aufgefordert ihm bei
seine Erlösungsplan beizustehen. Dem Tod sollten sie ohne Bedauern ins
Gesicht sehen.
Russische Verbindungen der Sekte wurden von dr Nachrichenagentur ITAR-TASS
bestätigt. Danach traf Asahara 1992 unter andem den damaligen
Parlamentschef Ruslan Chasbulatow.
Die Zeitungen "Yomirui" und "Asahi" berichteten, die Polizei werde
möglich Verbindungen der Sekte zu drei ungeklärten
Sarin-Giftgasfällen umfass untersuchen. Im Juni 1994 waren in der
zentraljapanischen Stadt Matsumoto sieben Menschen durch das Nervengas ums
Leben gekommen. Kurz danach kam der Verdacht auf, die Sekte könne im
Kamikuishiki mit Sarin hantieren. Die Sekte steht auch weiter unter dem
Verdacht, austrittswillige Mitglieder mit Gewalt festzuhalten, ihnen Drogen
zu verabreichen und auf vor Entführungen nicht zurückzuschrecken.
Sekte verspricht mehr Leben Lebenssinn
Aus: -Westfalen-Blatt-23-03-95-
Die buddhistische japanische Sekte Aum Shinri Kyo (Erhabene Wahrheit) wurde
vor neun Jahren gegründet.Sie hat in Japan nach eigenen Angaben 10.000
Mitglieder und unterhält auch Niederlassungen in Bonn und in
Rußland, wo sie 30.000 Anhänger zählt. Dort strahlt Aum
Shinri Kyo seit 1993 täglich ein dreistünäiges
Fernsehprogramm in russischer Sprache aus. Nach Presseberichten ist die
Sekte extrem Öffentlichkeitsscheu und gewährt nicht einmal
Mitarbeitern der Stadtwerke Zutritt zu ihren Zentren zum Ablesen der
Zählerstände für Strom, Gas und Wasser. Die Sekte umwirbt
ihre Anhänger mit dem Versprechen, sie fänden mehr Erfüllung
und Lebenssinn beim Zusammenleben und gemeinsamen Meditieren in
Landkommunen. Der harte Kern der Sekte umfaßt etwa 800 Mitglieder, die
diese Lebensform auf abgelegenen Gehöften bereits praktizieren.
Die Gemeinschaft betreibt eine Computerfirma sowie Lebensmittelbetriebe und
mehrere Restaurants. 1990 kandidierte der bärtige Sektengründer
Shoko Asahara mit für das Parlament. Asahara, dem eine
guruähnliche Funktion innerhalb der Gruppe zukommt, vertritt eine
Endzeitlehre, nach der der Weltuntergang nahe bevorsteht. Er behauptet, er
habe die parapsychologische Fähigkeit, im Raum frei schweben zu
können. 1993 beklagten sich 100 Nachbarn des Anwesens von Aum Shinri
Kyo im Tokioter Stadtteil Koto mehrfach über Augenbrennen und
Brechreiz. Diese seien auf schädliche Emissionen
zurückzuführen, die auf den Liegenschaften der Sekte freigesetzt
würden.
Seit dem Gasangriff auf die Tokioter U-Bahn erscheinen dieses Beschwerden in
einem anderen Licht. Unmittelbar nach dem Anschlag veröffentlichte die
Sekte eine Erklärung, in der sie eine Verwicklung bestritt und die
Regierung beschuldigte, hinter der Tat zu stecken. Nun werde der Verdacht
auf Aum Shinri Kyo gelenkt, damit man sie besser unterdrücken
könne.
Japans Polizei stellt Giftstoffe sicher Razzia gegen Sekte: "Haltet euch
bereit zum Sterben". Die japanische Polizei hat bei der Suche nach den
Giftgasattentätern von Tokio in den Gebäuäen der Sekte Aum
Shinri Kyo 34 Behälter des giftigen Lösungsmittels Acetonitril
gefunden. Das Mittel mit Rückständen des Nervengases Sarin war
nach dem Anschlag auf Tokios U-Bahn-System in den Waggons gefunden worden.
Die Zahl der Anschlagopfer stieg auf zehn. Mehrere Sektenmitglieder wurden
festgenommen. Die Polizei hat bei der Durchsuchung 50 Menschen in
völlig unterernährtem und komaähnlichen Zustand entdeckt.
2.500 Polizeibeamte durchsuchten 25 Gebäude der Sekte in Tokio und in
dem Dorf Kamiku-Ishhiki. Unterstützt wurden sie dabei von einer
Armee-Einheit für chemische Kampfmittel. Den bärtigen
Anführer der Sekte, Shoko Asahara, der von sich behauptet, er
könne schweben, fand die Polizei nicht.
In ihrem 100 Kilometer westlich von Tokio gelegenen Hauptquartier
erklärte die Sekte, die Gründe für die Durchsuchung seien aus
den Fingern gesogen und Teil einer Verfolgungskampagne. Die Polizei sei
gewaltsam eingedrungen und habe die Forderung von Aum-Shinri-Kyo-Mitgliedern
mißachtet, die Durchsuchung überwachen zu dürfen. Aum Shinri
Kyo heißt soviel wie "höchste Wahrheit".
Dem zeitgleichen Anschlag auf fünf U-Bahnzüge vom Montag fielen
bis gestern zehn Menschen zum Opfer. Mehr als 5.500 Passagiere und
U-Bahnpersonal wurden verletzt. In 70 Fällen ist die Situation noch
kritisch. Die Polizei war im Zusammenhang mit einem Entführungsfall
auf die Sekte gestoßen. Der 69jährige Kiyoshi Kariya war am 28.
Februar zuletzt gesehen worden, als er in der Nähe seiner Wohnung von
vier Männern in einen Lieferwagen gedrängt wurde. Zu der Zeit
versuchte seine jüngere Schwester, sich von der Sekte zu lösen,
nachdem sie ihr Vermögen gespendet hatte. Shoko Asahara hat sich
über Rundfunk an seine Anhänger gewandt und sie aufgefordert, sich
auf den Tod vorzubereiten. Die buddhistische Aum-Sekte hat eine
Niederlassung in Deutschland. Von dem Haus im Bonner Stadtteil Endenich
wurde gestern die Täterschaft an dem Anschlag bestritten.
Außerdem wurde dementiert, daß in Japan ein Massenselbstmord von
Sektenmitgliedern geplant war. Am Nachmittag war das Haus verlassen.
Wahnsinn. Kommentar von Michael Kaiser
Kommentar Aus: -Westfalen-Blatt-23-03-1995-
Das Schlüsselwort zum Verständnis der Tat von Tokio - sofern es da
etwas zu verstehen gibt - ist Wahnsinn. Und zwar auf mehreren Ebenen. Sollte
sich bewahrheiten, daß eine Sekte die mörderischen Anschläge
verübt hat, so wäre dieser hinterhältige Anschlag auf das
Leben Unbeteiligter ein weiterer zweifelhafter Höhepunkt in einer Serie
von Massen(selbst)morden und anderen Wahnsinnstaten. Wenn es wirklich die
Anhänger der Sekte "AUM Shinri Kyo" waren, die bislang zehn Menschen
mit Giftgas getötet und an die 5.000 verletzt haben, so wäre es
angebracht, den Namen der Gruppe nicht mit "Erhabene Weisheit", sondern mit
"Gipfel des Irrsinns" zu übersetzen. Verblendet, der Welt
entrückt, letztlich wohl verrückt - nur aus einer solchen
Geisteshaltung heraus läßt sich ein derartiger Anschlag planen,
dessen "Sinn" sich Andersdenkenden wohl nie erschliessen wird. Doch etwas
ist anders in diesem Fall.
Anders als beim Massenselbstmord Guyanas in Jonestown im Dschungel Guyanas mit 925 Toten, anders als beim Feuertod von mehr als 80 Davidianern, die sich schwer bewaffnet im texanischen Waco verschanzt hatten, anders auch als beim Suizid der "Sonnentempler" in der Schweiz und Kanada. Hier richtete sich der zerstörerische Wahn der Sektierer nicht gegen sich selbst, sondern im vollen Bewußtsein der möglichen Auswirkungen auf Tausende nichtsahnender Menschen in einer Untergrundbahn.
Eine neue "Qualität" des Wahnsinns, eine neue "Qualität" des Terrors - an der auch andere, politisch motivierte Überzeugungstäter Geschmack finden könnten. Wahnsinn hat viele Gesichter. Und die Möglichkeiten, sich vor solchen Irrsinnsakten zu schützen, scheinen gering - es sei denn, man erschüfe eine globalen Überwachungsstaat a la Orwells 1984. Wahnsinn nicht zuletzt ist der Stoff, aus dem der Horror ist: Giftgas, unter allen grausamen Massentötungsmitteln vielleicht das schlimmste, als Ding an sich eine Ausgeburt kranken Denkens. Das Sarin, wie in Tokio "verwendet", nicht so einfach herzustellen ist, stellt keinen Trost dar. Es gibt andere, wenngleich unwesentlich weniger wirksame Stoffe, die in bald jedem Küchenlabor und vergleichsweise billig zu fabrizieren sind. Und es gib t die riesigen Lager chemischer und biologischer Kampfstoffe . im Osten wie im Westen. Alle reden von der Profileration, der unkontrollierten Verbreitung nuklearer, waffenfähiger Stoffe. Wer spricht über die Möglichkeit, daß etwa arme Dritte-Welt-Staaten sich des erpresserischen Potentials bedienen könnten, um sich gegen die tatsächliche oder vermeintliche Vorherrschaft der reichen Länder zu wehren? So hat die Tat von Tokio wenigstens ein Gutes: Sie erinnert an den flüssigen, gasförmigen, krabbelnden und strahlenden Wahnsinn, den es aus der Welt zu schaffen gilt. Aus: -Westfalen-Blatt-23-03-95-
Shinri Kyo. Sekte verspricht mehr Leben Lebenssinn.
Die buddhistische japanische Sekte Aum Shinri Kyo (Erhabene Wahrheit)
Aus: -Westfalen-Blatt-24-03-95-
Weitere Giftfunde bei Sekte Mehrere Hundertschaften der Polizei im Einsatz.
- Drei Tage nach dem Giftgasanschlag von Tokio hat sich der Verdacht gegen
die japanische Sekte Aum Shinri-Kyo (Letzte Wahrheit) erhärtet. Bei der
erneuten Durchsuchung eines Gebäudekomplexes in einem Dorf etwas 100
Kilometer westlich von Tokio stellte die Polizei gestern Chemikalien sicher,
die nach Ansicht von Experten die wichtigsten Bestandteile des Nervengases
Sarin sind. Dieses war bei dem Anschlag in der Tokioter U-Bahn benutzt
worden. In Hikone nahm die Polizei ein Sektenmitglied fest, in dessen Auto
eine Gasmaske und eine zunächst unbekannte Flüssigkeit
sichergestellt wurden. Mehrere Hundertschaften der Polizei durchsuchten am
zweiten Tag in Folge das Sekten-Zentrum im Dorf Kamiku Isshiki, wo sie auf
Behälter mit Sodiumfluorid und Phosphortrichlorid stießen. Beide
Chemikalien sind notwendig, um das tödliche Nervengift Sarin
herzustellen. Mit dem Fund sei die Wahrscheinlichkeit erheblich gestiegen,
daß die Sekte Sarin produziert oder dies zumindest beabsichtigt habe,
sagte der Chemie-Professor Hidenori Watanabe von der Universität Tokio.
Shinri Kyo Sekte verspricht mehr Leben
Lebenssinn Die buddhistische japanische Sekte Aum Shinri Kyo (Erhabene
Wahrheit)