Die Zeugen Jehovas: Kirche oder Sekte?

Präzedenzfall: Das Land Berlin klagt vor dem Oberverwaltungsgericht gegen eine Anerkennung der Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts

TAZ, 1.12.1995

Von Anita Kugler

Copyright © contrapress media GmbH

Berlin (taz) - Seit Februar 1991 ist für Jutta Birlenberg, Rentnerin in Leverkusen, nichts mehr so, wie es vorher war. "Du verdammtes Biest, du bist nicht mehr meine Mutter", hatte die einzige Tochter ihr entgegengeschleudert. Es war ein "Trennungsbefehl" auf Druck der Zeugen Jehovas ausgesprochen worden, in deren Sog die Tochter durch ihre Heirat geraten war.

Seit diesem Tag durfte Jutta Birlenberg auch nicht mehr ihre drei Enkel sehen. "Die Zeugen Jehovas", sagt sie, "sind keine harmlosen Wachtturm -Verkäufer, sondern eine totalitäre Sekte." Inzwischen hat sie den Selbsthilfeverein "Kinder in destruktiven Sekten" gegründet und Berge von Zeugenaussagen über die psychischen Folgen von Gruppenzwang, rigider Kontrolle und Erlösungswahn bei den sogenannten "Bibelforschern" gesammelt.

Nach Meinung des Berliner Senats gehört dieses Material auf den Tisch des 5. Senats des Oberverwaltungsgerichts. Denn in einem Revisionsverfahren müssen seit gestern fünf Richter entscheiden, ob die Zeugen Jehovas die rechtlichen Voraussetzungen für eine Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts im Land Berlin besitzen oder nicht. Es ist ein Präzendenzverfahren, nur möglich geworden durch die komplizierten Zusätze im deutsch-deutschen Einigungsvertrag. Dennoch hat das Verfahren eine sehr wichtige und grundsätzliche Bedeutung für die Relgionsgemeinschaft.

Eine Anerkennung bedeutet erhebliche Steuervorteile, zumal die Glaubensgemeinschaft plant, ihre deutsche Zentrale vom hessischen Selters nach Berlin-Karlshorst zu verlegen. Zudem würden sie eine Reihe von Privilegien erhalten, zum Beispiel das Recht, Seelsorger in die Gefängnisse zu schicken oder bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdete Schriften über Ordnung und Moral zu wachen.

In der ersten Instanz, im Oktober 1993, entschied das Gericht, daß die Glaubensgemeinschaft vom Berliner Senat anerkannt werden muß, da sie sowohl von der Anzahl ihrer Mitglieder in Deutschland (167.000) als auch von ihrer Geschichte her (in Deutschland seit 1897) auf "Dauer" angelegt ist.

Gegen diese Entscheidung hatte der Berliner Senat, vertreten durch die Kulturverwaltung und auf dringende Empfehlung der Kirchenreferenten aller Länder, Widerspruch eingelegt. Das Gericht dürfe nicht nur die formalen Voraussetzungen für eine Körperschaft prüfen, argumentierte ihr Justiziar, Dietrich Reupke, sondern vor allem, ob die Zeugen Jehovas überhaupt die "verfassungsrechlichen Normen" akzeptieren. "Es geht nicht an, daß sie die Privilegien des Staates in Anspruch nehmen, alle Pflichten, wie das aktive oder passive Wahlrecht, aber ablehnen." Die Glaubensgemeinschaft sei eine "Sekte", die ihre Mitglieder abhängig mache und sie der weltlichen Gemeinschaft entfremde. Kindern würde die höhere Schulbildung verwehrt, Bluttransfusionen verweigert, der Kontakt zu Andersgläubigen verhindert. "Sie zeigt das Bild eines totalitären Zwangssystems."

Bei Redaktionsschluß stand die Entscheidung des Gerichtes noch aus.


Sekte anerkannt

TAZ, 15.12.1995

Copyright © contrapress media GmbH

Zeugen Jehovas

Berlin (dpa) - Die Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas hat Anspruch auf die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Das entschied das Berliner Oberverwaltungsgericht. Damit müssen die Zeugen Jehovas mit den evangelischen und katholischen Kirchen gleichbehandelt werden. Die wegen ihrer Praktiken umstrittene Glaubensgemeinschaft hat somit das Recht, Kirchensteuern zu erheben, Seelsorger in Gefängnisse zu schicken und Vertreter in Rundfunkräte zu entsenden. Die Richter erklärten, daß die Voraussetzungen für die Anerkennung gegeben seien: die "Gewähr der Dauer" - denn sie sind seit fast 100 Jahren auf vereinsrechtlicher Basis tätig - und eine große Mitgliederschaft. Der Vertreter des Berliner Senats, gegen den die Zeugen Jehovas den Rechtsstreit ausgefochten hatten, kündigte eine intensive Prüfung des Urteils an, um eventuell in Revision zu gehen - vielleicht sogar bis vors Bundesverfassungsgericht.