Psychologische Hintergründe des Satanismus am Beispiel der Ereignisse in Sondershausen


  • AU: Müller, Winfried
  • TI: Psychologische Hintergründe des Satanismus am Beispiel der Ereignisse in Sondershausen
  • PP: Jena
  • PU: Religio
  • PY: 1994
    Andreas Flitner schrieb einmal über die Bedeutung der Erfahrung bei der Erziehung des Kindes: "Die Erfahrung ist aber stets die eigene, die sich der Norm unseres Kulturkreises und der Abfolge der Entwicklungsschritte zwar insofern nähert, als diese so etwas wie einen Rahmen üblicher Entwicklung abgeben; sie bleibt aber eine einzelne und einzigartige Erfahrung, die nur im eigenem Umgang mit diesem besonderen Kinde (und nie vollständig) zu verstehen ist." [Flitner, Andreas: Und Konrad sprach die Frau Mama... München 1990, S.125]

    Über den Satanismus bei Jugendlichen und dessen psychologische Hintergründe zu sprechen, kann man nicht tun, ohne auf die pädagogische Dimension und die leidvollen Erfahrungen für alle an diesem Prozeß beteiligten, einzugehen. Leid wird in mehreren Dimensionen erfahren und führt zu unterschiedlichen Auswirkungen. So erfährt ein Kind, welches im Elternhaus Opfer seelischer oder auch physischer Gewalt geworden ist, dessen Selbstwertbewußtsein durch seine Umgebung mißachtet wird, seine Existenz als leidvoll. Um überleben zu können, verdrängt das Kind diese Erfahrung, schiebt sie ins Unterbewußtsein. [vgl. hierzu die Forschungsergebnisse von Alice Miller]

    Das bedeutet aber auch, daß diese leidvollen Erfahrungen des Kindes, oft sogar des ganz kleinen Kindes, nicht einfach gelöscht sind, sondern im Denken dieser Person im Verlaufe seines Lebens eine, wenn auch unerkannte, Rolle spielen. Diese unerkannte Rolle der ins Unterbewußtsein verdrängten Persönlichkeitsmißachtung soll uns hier nun näher beschäftigen. Wenn ich also über Satanismus bei Jugendlichen spreche, dann möchte ich das weniger unter religionsgeschichtlichem, sondern unter religionspsychologischem Gesichtspunkt tun. Formen des Satanismus gibt es schon seit einigen Jahrhunderten, hier interessiert aber viel mehr die Frage, warum junge Menschen sich Kulten anschließen, die ihre Persönlichkeit und manchmal auch ihr Leben zerstören können. Wenn ich über die Ereignisse in Sondershausen spreche, dann weniger, um ein Kaleidoskop des Geschehens darzubieten, sondern mehr die Hintergründe der Entwicklungen verstehen zu lernen. Begeben Sie sich mit mir auf diese Reise!

    Sie wird anstrengend werden, wird Dimensionen eröffnen, vor denen Ihnen schaudert, und doch, bin ich der Meinung, ist es nötig, diesen Weg zu gehen, um diese Kultform als das zu verstehen, was sie ist, nämlich der Hilfeschrei einer gequälten und angstvollen jungen Seele, der Ruf nach Achtung der Persönlichkeit und menschlicher Wärme.

    Ich werde das am Beispiel von Originalaussagen Betroffener darstellen, ohne natürlich Namen zu nennen. Wir werden das Drama von Persönlichkeiten so kennenlernen, daß uns schaudert. Und doch bitte ich Sie, das vorgetragene nicht zu "b e"-urteilen, oder zu "v e r"-urteilen, sondern die Frage zu stellen, w o r a n l e i d e n diese jungen Menschen. Sie haben wahrscheinlich alle in der Presse im Frühsommer dieses Jahres von dem sogenannten Satanistenprozeß in Mühlhausen gehört in dessen Ergebnis drei junge Männer für schuldig befunden worden waren, einen Mitschüler ermordet zu haben. Die Umstände der Tat bekamen durch die Tatsache, daß die Täter Mitglieder einer satanistischen Gruppe in Sondershausen waren, eine besondere Aufmerksamkeit.

    Die Oeffentlichkeit witterte Sensationen und die Presse hohe Auflagen der Berichterstattung. Doch über dieser Berichterstattung stand immer wieder der unausgesprochene Gedanke: "Gottseidank, ich bin nicht so." Selten waren Stimmen der Nachdenklichkeit und des Verstehens zu hören. Gleichzeitig zeigte aber auch der Prozeßverlauf, wie problematisch es ist, Persönlichkeitsdeformationen (durch wen auch immer verursacht) mit juristischen Mitteln aufzuarbeiten. Kategorien von Schuld und Sühne oder von Täter und Opfer, ließen Fragen offen, obwohl natürlich die Tat zu einer Verurteilung führte und führen musste.

    Im Herbst 1992 wurde in einer Schülerzeitschrift eines Gymnasiums in Sondershausen ein Interview veröffentlicht, welches Lehrer, Eltern und Schüler in Ratlosigkeit führte, Abscheu und Furcht verursachte. Gleichzeitig erscholl die Frage danach, wie man solches verbieten oder unterbinden könne. Ich möchte hier an dieser Stelle ein ausführliches Zitat aus dieser Schülerzeitschrift bieten, dieses zur Grundlage eines Deutungsversuches individualer Tragik machen und Sie zu verstehenden Fragen anzuregen.

    "Neues aus / für die Gerüchteküche !

    Wer kennt sie nicht, die "Schrägen Vögel" aus der Elften?! Diejenigen, die anders sind als die Anderen. Diejenigen, über die gruselige Dinge er- zählt werden, so daß manchem ein Schauer über den Rücken läuft. Diejenigen, die alle in einen Topf geschmissen werden - als "die Idioten, die Spinner". Denn: Was denken sie wirklich? Was ist überhaupt wahr? Was machen sie? Ist ihre Art Show oder Ernst? Und was für Menschen sind sie eigentlich? "Kurz und Gut" führte deshalb ein Interview mit ******, das auf Wunsch ungekürzt, ohne Kommentare und ohne zusätzliches Bildmaterial abgedruckt wird.

    Ich hatte auf dem Erfurter Kirchentag im Juli 1992 einen Vortrag zum Thema "Sekten" zu halten. Während dieses Vortrages wurde ich von einem schwarz gekleideten Jugendlichen gefragt, was ich denn von Luzifer halte. Ich schaute mir den jungen Mann genauer an: Er war nicht nur schwarz angezogen, sondern trug alle Insignien des Satanskultes an sich.

    Sein Outfit entsprach genau dem Klischee der einschlägigen Regenbogenpresse. Und doch war dieser junge Mann irgendwie anders, es ging von ihm eine Faszination aus, die mich bewog, ihm die Gelegenheit zu geben, sich vor der Gemeinde zu äußern. Er kam nach vorn und legte ein Glaubensbekenntnis ab. Er sagte, er glaube an die Macht Luzifers, die Macht des Bösen und ihr würde er alles unterordnen und opfern. Die Gemeinde ragierte unwillig, teilweise verständnislos. Was war das bloß für einer? Opfer???

    Die Gemeinde fragte nach, doch es kam stereotyp immer nur das Bekenntnis, daß er Luzifer und dem Satan alles opfern würde. Er wurde während seines Statements von seinen Anhängern moralisch durch zustimmende Rufe unterstützt. Ich hatte keine Möglichkeit, mit ihm ins Gespräch zu kommen, ihn zu hinterfragen. Er ließ sich nicht in Frage stellen, von ihm ging die Faszination eines Fanatikers aus, der mit autoritärem Selbstbewußt- sein alle andere Meinung vom Tisch wischt. Nachdem er sein Glaubensbekenntnis zu Satan abgelegt hatte, ging er wieder zurück und verließ kurz darauf mit einigen seiner Anhänger die Kirche.

    Nachdem ich meinen Vortrag beendet hatte, versuchte ich mit einigen aus der Gruppe ins Gespräch zu kommen, Hintergründe zu erfragen. Denn ich hatte solch massiven Auftritt noch nie in der Praxis erlebt. Ein Pärchen aus der Szene unterhielt sich mit mir, antwortete auf meine Fragen. Sie sagten, N.N. sei zwar etwas extrem in seinen Ansichten, aber sie selbst würden auch mitmachen. Sie würden gemeinsam musizieren, hätten eine eigene Rockband, die toll sei, dort könnten sie sich so richtig ausleben, könnten Dinge fühlen, die sie noch nie gefühlt hätten.

    Ein dreiviertel Jahr nach diesem Erlebnis ermordeten drei aus dieser Gruppe einen Mitschüler. Wenn man das hier zitierte Dokument und mein Erlebnis aus dem Gesichts- punkt der Mordtat sieht, dann kann man schon Fragen stellen. Haben denn die Eltern, Erzieher, Lehrer, die Bekannten und Freunde alle geschlafen, daß sie nicht gesehen haben, was sich da zusammenbraut... ? Ich kann diese Fragen nicht beantworten, weiß auch nicht, warum alle ge- schwiegen haben. War es das Gefühl der Ohnmacht?

    Die jungen Leute stellten die Erwachsenenwelt, die ja immer für alles und jedes ein praktikables "Rezept" hat, grundsätzlich und total in Frage und das ging so weit, daß auch grundlegende Werte, die ein menschliches Zusammenleben überhaupt erst ermöglichen, in Frage gestellt und deren Maximen übertreten wurden. Ich habe mich nach dem Ereignis gefragt, wie ich denn hätte die Tat verhindern können. Auch auf diese Frage weiß ich keine Antwort... Ich habe nach der Tat Eltern aber auch Lehrer weinen sehen, konnte ihre Verzweiflung ahnen und stand trotzdem mit leeren Händen da. Welche Tragödie! Was für eine seelische Last!

    Schauen wir uns die Biografien der Täter an, dann fällt auf, daß sie alle aus sogenanntem guten Hause kommen, Kinder ehrbarer Leute sind und trotzdem müssen Traumata die Entwicklung der Kinder beeinflußt haben. Es ist hier nicht die Stelle, Biografien aufzuarbeiten, sondern ich will versuchen, am Beispiel ähnlichen Verhaltens Rückschlüsse auf mögliche Hintergründe zu ziehen. Diese werden die Tat zwar nicht ungeschehen machen können, aber vielleicht sensibilisiert uns das Geschehen in der Hinsicht, daß wir in anderen Fällen empfindsam genug sind, den Kindern helfende Zeugen ihrer Not zu werden.

    Die schweizer Psychotherapeutin Alice Miller hat in Jahren ihrer Arbeit sich mit dem Problem der menschlichen Destruktivität und Selbstdestruk- tivität befaßt. Dabei machte sie die Entdeckung, daß Menschen, deren Lebensweg als Mörder oder Selbstmörder endete, in ihrer Kindheit selbst Opfer von physischen oder auch psychischen Gewalttaten geworden sind. Alice Miller ging sogar noch einen Schritt weiter, indem sie sagte, daß unsere gesamte Kultur und Erziehung die Geschichte von ausgeübter und erlittener Gewalt ist, wobei jeweils die Elterngeneration der ausübende Teil und die Kinder der erleidende Teil ist. Sie vertritt die These, dass die in ihrer Jugend gequälten Kinder die Last dieser Qual verdrängen, um leben zu können. Wenn sie aber dann selbst Eltern sind, erwachsen, dann "rächen" sie sich wieder an ihren eigenen Kindern mit den Gewalttaten, die sie selbst erlitten haben. So würde von Generation zu Generation das Leid und die Not weitergegeben. Das heißt nun aber nichts anderes, als daß die Erfahrung, die unsere Kinder mit den Erwachsenen machen, die Erfahrung von Gewalt und ausgeübter Macht ist.

    Alice Miller be- und verurteilt auf Grund dieser Entdeckung jede Pädagogik als Macht- und Zwangsausübung. Man muß ihr nun nicht in jeder Hinsicht folgen, aber eins hat sie doch offsichtlich gemacht: Wenn der Lebensweg von Kindern aus der "normalen" Entwicklung herausbricht, dann hat das Ur- sachen, die oft genug in der ganz frühen Jugend liegen.

    "... Kinder fangen an, Häuser auszurauben, Güter zu zerstören und Ge- fühle anderer und deren Rechte zu ignorieren. Sie wissen nicht, daß man einst das gleiche mit ihnen getan hat: ihre Seele ausgeraubt, ihre Gefühle zerstört, ihre Rechte mißachtet und sich an ihnen, den unschuldigen Opfern, für die einst erlittenen Demütigungen schadlos gehalten hatte." [Miller, Alice: Der gemiedene Schlüssel. Frankfurt 1988, S. 123] Alice Miller schreibt weiter: "Wohin sollen sich die jungen Menschen mit ihren verdrängten, aber im Unbewußten ungeheuer aktiven Gefühlen wenden, wenn doch die ganze Gesellschaft deren Ursprung und Berechtigung in der Kindheit leugnet? In Friedenszeiten bietet wohl die Erziehung der eigenen Kinder den meisten Menschen einen legalen Weg zum Abreagieren der aufgestauten Wut. Solange dieser Weg den kinderlosen Jugendlichen noch verwehrt bleibt, suche sie einen anderen. Suizid, Sucht, kriminelles Verhalten, Terroraktionen, Beteiligung an organisierter sexueller Ausbeutung - all das kann ehemals mißhandelten Kindern einen Ausweg aus ihrer Not, aus der emotionalen Falle bieten, oder aber der Betreffende findet ihn in der Kreativität." [Miller, a.a.O. S. 124f.]

    Wenn wir das oben zitierte Interview mit dem jungen Satanisten in diesem Kontext betrachten, dann eröffnen sich plötzlich Dimensionen, die einen schaudern machen. "Tod - süße Verwesung, lockender Gestank, holdes Gebein, Tod zu sein ist für uns Zustand absoluter Erfüllung..." sagte ein siebzehnjähriger! Was muß ihm geschehen sein, daß er sich so äußern muss? Natürlich wissen wir nichts aus seiner frühen Biografie, aber er muß als Kleinkind schwer traumatisiert worden sein. Hier geht es nicht um Schuldzuweisung, sondern einfach um Akzeptanz einer Entwicklung. Aber wie kann man hier als Elternteil oder Erzieher einwirken? Sicher gibt es keine "Technologie", die unfehlbar wirksam wäre. Aber es gibt Ansätze, die es wert sind, verfolgt zu werden. Alice Miller war sich durchaus bewußt, daß sie die Situation überspitzt darstellt. Sie war sich auch darüber im Klaren, daß der von ihr postulierte Mechanismus ratlos macht, ja sogar zur Untätigkeit verdammt: Es ist ja doch nichts zu ändern ....

    Im Laufe ihrer späteren Arbeiten befaßt sie sich aber immer wieder mit der Frage nach den Auswegen aus diesem Teufelskreis. Sie sieht in in der Person des "helfenden Zeugen", eines Menschen im Umfeld des Kindes, der es als Person ernst nimmt, es um seiner selbst willen liebt. Das muß nicht unbedingt der Vater oder die Mutter sein, das kann ein Nachbar, Onkel oder Tante sein. "Das Fehlen oder die Gegenwart eines helfenden Zeugen in der Kindheit entscheidet darüber, ob ein mißhandeltes Kind zum Despoten wird oder zum Künstler, der über Leiden berichten kann." [Miller, a.a.O.S. 141] Wenn wir am Schluß unseres Diskurses über den Satanismus fragen, welche Erfahrungen denn die Täter in ihrer Kindheit gemacht haben, und wie man in ähnlichen Fällen solchen Jugendlichen gegenübertreten sollte, dann kann ich nur immer wieder auf Schleiermacher, den pädagogischen Lehrer Friedrich Fröbels, verweisen, der in seinen pädagogischen Vorlesungen von 1826 fern von den Vorstellungen einer Gewaltpädagogik deutlich machte, dass Erziehen ein behutsames Begleiten und denkendes Mitwirken sei.

    "Diese Tätigkeit und Teilhabe des Erziehers an dem Leben des Kindes läßt sich, in leichter Abwandlung Schleiermacherischer Begriffe, verstehen als

    Ich konnte hier nur Fragen aufwerden. Fragen, die uns als Erwachsene zur Behutsamkeit mahnen. Wie schnell sind wir doch mit Urteilen bei der Hand! Und doch spüren wir: Wir sind ratlos. Dieses Ge- fühl der Ratlosigkeit ist nicht das schlechteste. Es erinnert uns daran, daß wir Erwachsene eben nicht auf alles und jedes eine Antwort haben, es erinnert uns daran, uns selbst zu bescheiden, uns in Frage zu stellen. Diese Ratlosigkeit ist möglicherweise der erste Schritt zum Zuhören, zum Zurücknehmen der eigenen "Allwissenheit". Er ist möglicherweise der entscheidende Schritt, junge Menschen in der Not ihrer Gefühle ernst zu nehmen und zu lieben. Worte werden da wahrscheinlich wenig nützen, gefragt ist die Haltung, die in den Fröbelschen Worten liegt:

    Kommt, laßt uns unseren Kindern leben.