In der Nacht, die seine letzte sein sollte, wälzte sich Patrice Vic, 31, "stöhnend in seinem Bett", wie sich seine Ehefrau Nelly erinnert. Um fünf Uhr sprang er von seiner Schlafstätte auf und stürzte sich mit den Worten "die einzige Lösung" vom Balkon zwölf Stockwerke hinab in die Tiefe. Grund für die Verzweiflungstat des einst fröhlichen Lyoners: Der zweifache Familienvater konnte die 30 000 Francs nicht auftreiben, die er für eine innere "Reinigung" brauchte. Die rabiate Reinigungsfirma: Frankreichs Scientology-Sekte.
Die junge Witwe stellte Strafantrag. Aber es dauerte siebeneinhalb Jahre, bis die Menschen, die den Industriedesigner mit ihrem Psychoterror erst in einen unnahbaren Einzelgänger verwandelt und mit stetig steigenden Geldforderungen zum Suizid getrieben haben sollen, vor Gericht gestellt wurden. Seit der vergangenen Woche verhandelt das Strafgericht von Lyon gegen 22 Scientologen wegen gemeinschaftlichen Betrugs, illegaler ärztlicher Berufsausübung - und gegen den damaligen Lyoner Sektenchef Jean-Jacques Mazier auch wegen Totschlags.
Denn der Mann mit dem markanten Kinn soll es gewesen sein, der von seinem Opfer (Vic wurde durch ein harmlos scheinendes "Ferienquiz" mit 200 Fragen geködert) nicht mehr abließ. Vor Gericht erklärte Mazier die notorische Geldgier seiner Sekte: Scientology sei halt "teurer als katholisch sein". Die übrigen Angeklagten, unter ihnen ein Gärtner, ein inzwischen zum Katholizismus heimgekehrter Pfarrer sowie mehrere kaufmännische Angestellte, repräsentieren biedersten französischen Mittelstand.
Es ist das erstemal, daß gewissermaßen der Sekte als Institution - sie sieht sich mit ihren sieben Millionen Anhängern als "Kirche" und wird etwa in den USA auch als solche anerkannt - in Frankreich der Prozeß gemacht wird. "Im Verfahren von Lyon steht die Zukunft der Scientologen in Frankreich auf dem Spiel", schwant es denn auch der Mitangeklagten Daniele Gounord, Ex-Präsidentin der Pariser Filiale.
Im Prozeß wird der Sekte, die in der Republik etwa 40 000 Mitglieder zählt (prominentester Anhänger: Tennisstar Arnaud Boetsch), vorgeworfen, sie beute "für kommerziellen Profit Vertrauen und Gutgläubigkeit ihrer Opfer mittels pseudowissenschaftlicher und paramedizinischer Methoden" aus und schaffe "medizinisch-psychologische Risiken".
Ein gesetzliches Verbot droht den Adepten des 1986 verstorbenen Gründers Ron Hubbard in Frankreich nicht: Verfassung und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte garantieren Glaubensfreiheit. Aber die Aussagen von 60 Zeugen - von Scientology-Geschädigten bis zum psychiatrischen Sachverständigen - über den Psychoterror der Seelenfänger könnten die Anziehungskraft von Scientology nachhaltig dämpfen.
Bisher haben einige Verfahren gegen einzelne Adepten, etwa wegen Betrugs, der Sekte in Frankreich ebensowenig anhaben können wie die Entscheidung von Frankreichs höchstem Verwaltungsgericht, daß die Scientologen mit ihren umfassenden ökonomischen Aktivitäten kein Anrecht haben auf den Status eines gemeinnützigen Vereins - und damit keine Steuerfreiheit. Auch in Deutschland ist Scientology der steuersparende Titel "Kirche" verweigert worden.
Rund 943 Millionen Francs, so ein Kriminalkommissar vor Gericht, seien allein in drei Jahren transferiert worden. Vorzugsländer: Dänemark und Luxemburg. Das Pariser "Celebrity Centre", Treff berühmter und reicher Hubbard-Jünger, nahm stolze 25 Millionen Francs ein.
Weil sich die Scientologen unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit vor dem Steuerzahlen gedrückt hatten, wurde die Pariser Niederlassung im November letzten Jahres zu 48 Millionen Francs Nachzahlung verurteilt. Ein Angebot, die Schuld mit einem Scheck einer Luxemburger Bank zu begleichen, lehnte das Pariser Finanzministerium ab. Ein Sprecher: "Das Gesetz verbietet uns, möglicherweise schmutziges Geld aus einer dubiosen Quelle anzunehmen." Deswegen verfügte ein Handelsgericht die Liquidation des Pariser Scientology-Ablegers.
Die Strafaktion störte die "Zarathustras aus dem Popcorn-Land" (Le Figaro) kein bißchen - letzten Januar formierten sie sich einfach neu: In der Pariser Rue Jules-èsar residiert nun eine "Association spirituelle de léEglise de Scientologie déIle-de-France" im Verbund mit einem als GmbH eingetragenen "Centre culturel de léEglise de Scientologie" in der Rue Legendre.
Gleichzeitig verschärfte die Sekte offenbar ihren Grabenkrieg gegen Feinde. Im Wahlkreis des Abgeordneten Jacques Guyard, der in einem Parlamentsbericht über Sektenumtriebe die "arglistige" Methode der "mentalen Destabilisierung" durch die Scientologen anprangerte, gründete die Pseudo-Kirche eine Kampfzeitung, die sich auf den Sozialisten einschoß. Guyard: "Dreimal wurde ich mit dem Tod bedroht." Scientology erklärt, damit nichts zu tun zu haben.
Richter Georges Fenech, der den Prozeß vorbereitete, fühlte sich ständig beschattet, Post verschwand, gegen drei unter ihm arbeitende Polizisten gingen ominöse Strafanzeigen wegen "gemeinschaftlichen Diebstahls" ein.
Ein wahres Martyrium durchlitt der Psychiater Jean-Marie Abgrall, der in Lyon als Gutachter aussagt. Ein Scientology-Sprecher verglich ihn mit Hitler, der Sektenexperte wurde mit 18 Strafanzeigen überzogen, bis er selbst drei Scientologen wegen Postdiebstahls und Bestechungsversuchen vor Gericht brachte. Die gaben zu, sie hätten die Kampagne im Auftrag des "Office of Special Affairs", des Sekten-Geheimdienstes, inszeniert. Der Lohn: "Gute Punkte", um im System aufzusteigen.
Der Pariser Regierung macht das Phänomen der Sekten zunehmend angst. Die 150 bis 200 pseudoreligiösen Gemeinschaften in Frankreich mit ihren rund 300 000 Anhängern breiten sich wie ein Buschfeuer unter der Jugend aus; vor allem die Scientologen unterwandern systematisch Sport- und Kulturorganisationen und schleichen sich mit ihren Broschüren sogar schon in Kinder-Ferienlager ein. Vorige Woche verfügte Jugend- und Sportminister Guy Drut, daß jede der 22 französischen Regionen einen Sektenberater, "Monsieur secte", erhält. Justizminister Jacques Toubon hat seine Staatsanwälte zu schärferem Vorgehen gegen Sektierer aufgerufen.
Die neue Wachsamkeit stimmt Sektenjäger Jacques Guyard "erstmals" optimistisch: "Lyon wird für uns ein großer Punktsieg."
DER SPIEGEL 41/1996 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags