FOCUS 4/1996

Jehovas Zeugen

Neue Pläne der Endzeit-Sekte

Die Bibelforscher wollen 250 Betsäle in den neuen Bundesländern bauen. Um dies leichter durchzusetzen, fordern sie ihre Anerkennung als Kirche

Sie provozieren oft nur mitleidiges Kopfschütteln, wenn sie in der City desinteressierten Passanten ihr Zentralorgan "Wachtturm" entgegenhalten. Lästig werden sie allenfalls, wenn sie an der Haustür hartnäckig versuchen, ihre apokalyptische Botschaft loszuwerden: Seid bereit, das Ende der Welt ist nahe!

Was Jehovas Zeugen bewegt, ist allein die Sorge um ihre Errettung am Jüngsten Tag. Deshalb leben sie tugendhaft, ja asketisch. Deshalb unterwerfen sie sich altväterlich strengen, oft unbegreiflichen Regeln in ihren abgeschotteten Zirkeln. Kein Wunder, daß sie der Welt, von der sie sich absondern, verdächtig sind.

Das geheimnisumwitterte Innenleben der 1879 von einem ehemaligen Adventisten-Prediger gegründeten Endzeit-Religion (siehe Interview) war bislang vor allem ein Thema für die Sektenbeauftragten der Großkirchen. Jetzt wurde die religiöse Praxis der Zeugen Jehovas erstmals Verhandlungsgegenstand vor einem deutschen Verwaltungsgericht.

Seit der Wiedervereinigung klagen die Zeugen Jehovas im Land Berlin auf Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, ein Status, der ihnen in der Wende-DDR ganz zuletzt noch zuerkannt, im vereinigten Deutschland jedoch wieder entzogen worden war. Derzeit firmieren sie nur als eingetragener Verein (e. V.).

Hartnäckigen Widerstand leistet der Berliner Senat, weil die zuständige Kulturverwaltung Weiterungen befürchtet. Referatsleiter Manfred Becker stellt klar: "Berlin wird der Präzedenzfall. Und es geht dabei nicht nur um die Aufwertung der Zeugen Jehovas, sondern der ganzen Sektenszenerie."

"An eine bundesweite Signalwirkung" glaubt auch Willi Karl Pohl, Vizepräsident der Wachtturm-Gesellschaft, der deutschen Zentrale der Zeugen Jehovas in Selters/Taunus.

Der 76jährige Pohl, seit 1932 bei den Zeugen, die sich damals noch "Bibelforscher" nannten und wegen ihrer Verweigerungshaltung im Dritten Reich häufig in den KZs landeten, gehört heute sozusagen zum Urgestein der deutschen Sektion.

Pohl fordert Gleichbehandlung: "In Berlin haben bereits dreißig religiöse Gruppierungen den öffentlichrechtlichen Status (darunter Mormonen, Adventisten, Baptisten und die Neuapostolische Kirche, d. Red.). Wir wären also nur die Nummer 31."

Auch die Justiz sieht das so. Mitte Dezember siegten die Zeugen in zweiter Instanz vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin. Das Urteil löste Jubel aus bei der Wachtturm-Gesellschaft in Selters, die dort auf der grünen Wiese eine moderne Großdruckerei betreibt und halb Europa mit Bibeln und Traktaten versorgt. Vizepräsident Pohl spürt Rückenwind: "Wir sehen nicht ein, warum wir eine Religionsgemeinschaft minderer Qualität sein sollen, die in den Medien als unerwünscht, gefährlich und destruktiv dargestellt werden darf."

Gelitten hatte das Ansehen der Zeugen vor allem durch ehemalige Mitglieder, die im Fernsehen über den Gruppendruck in den Versammlungen, über Spitzelwesen und Disziplinierung mit Hilfe der sekteninternen Justiz-"Komitees" berichtet hatten.

Die Summe ähnlicher Erfahrungen brachte auch Mehmet Aslan dazu, sich nach 15 Jahren von der Sekte loszusagen. Der 31jährige Maschinenbautechniker aus Südbaden und seine Frau wollten die Eingriffe in ihr Privatleben nicht länger hinnehmen. Aslan: "Als wir unseren Jungen im Kindergarten anmeldeten, sagten die Zeugen: Das dürft ihr nicht tun, damit verletzt ihr eure Aufsichtspflicht! Und als meine Frau in einer öffentlichen Bibliothek eine Märchenlesestunde für Kinder hielt, wetterten die Ältesten: Märchen sind gefährliche Lügengeschichten, sie enthalten spiritistische Elemente."

Vergangenen November trat Mehmet Aslan mit seiner Familie bei den Zeugen aus. Problemlos, wie er versichert. Andere, die nicht selbst gehen, sondern rausgeworfen werden, tun sich damit meist nicht so leicht.

Der Ausschluß, genannt "Gemeinschaftsentzug", ist gleichbedeutend mit einer Kontaktsperre. Sie trifft vor allem jene hart, die, nach vielen Jahren bei Jehovas Zeugen, außer ihren Glaubensbrüdern und -schwestern schon lange keine anderen Bekannten mehr haben. Besonders problematisch wird es, wenn der Riß mitten durch eine Familie geht.

Ex-Zeuge Hans Huber (Name von der Redaktion geändert), wegen Alkoholproblemen ausgeschlossen, bangt jetzt um seine Ehe. "Ich weiß nicht, wie lange meine Frau diesen Druck noch aushält", vertraute er FOCUS an. "Ihre Eltern und Geschwister sind alle Zeugen. Zur silbernen Hochzeit und anderen Familienfeiern werde ich nicht mehr eingeladen. Zum Glück sind unsere Kinder noch so klein, daß sie nicht verstehen, was da läuft."

"Diese Sektenproblematik" ist für den Berliner Referatsleiter und Prozeßgegner Manfred Becker zwar der Punkt, an dem er die Zeugen in der nächsten Instanz auszuhebeln hofft. Doch es geht ihm eigentlich um etwas ganz anderes. Becker: "Als Körperschaft öffentlichen Rechts hätten die Zeugen Jehovas genauso wie andere Kirchen Anspruch auf vielerlei Subventionen, unter Umständen sogar für einen eigenen Religionsunterricht. Vor allem aber wären sie von der Grunderwerbsteuer befreit bei ihren großen Bauvorhaben in den neuen Bundesländern."

"Wachtturm"-Vizepräsident Pohl bestätigt: "Nach unserem jahrzehntelangen Verbot in der DDR planen wir jetzt etwa 250 Versammlungshäuser für fünf- bis sechshundert neu entstandene Gemeinden." Doch nach Geld vom Staat schielten die Zeugen nicht. Mit ihrem verbesserten öffentlich-rechtlichen Status hofft Pohl vor allem, die Widerstände von seiten der Amtskirchen, der Baubehörden und sektenfeindlicher Bevölkerungsgruppen gegen die Neubauten leichter zu überwinden.

Doch da ist immer noch der Berliner Senat vor. Zeugen-Gegner Manfred Becker: "Wir klagen weiter. Jetzt muß Karlsruhe entscheiden!"

Zeugen Jehovas:
Das Weltreich der Bibelforscher
Gründung:

1879 in den USA durch den Prediger Charles Taze Russell
Weltzentrale: Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.
Zentralorgan: "Der Wachtturm" erscheint in 120 Sprachen in 232 Ländern, Weltauflage: 16 Mio.
Mitglieder:
weltweit 5,2 Millionen. In Deutschland gibt es 170 000 getaufte Zeugen Jehovas. Sie sind flächendeckend organisiert in rund 2000 "Versammlungen".
Finanzierung: In Deutschland ausschließlich durch Spenden. In anderen Ländern teilweise auch durch Verkauf von Bibeln und Traktaten aus eigenen Großdruckereien
Rechtsform: In Deutschland firmiert die Dachorganisation der Zeugen in Selters/Taunus als "eingetragener Verein". Jetzt kämpft der "e. V." um seine Aufwertung zur Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Was Zeugen Jehovas glauben müssen:
Das Ende der Welt
mit großen Drangsalen steht kurz bevor.
Errettet werden nur Menschen, die in der biblischen Wahrheit der Zeugen Jehovas leben.
Was die Wahrheit ist, wird von der Wachtturm-Gesellschaft in New York verbindlich festgestellt und von den Gemeindeältesten in den Versammlungen verkündet.
Die Verkündigung dieser Wahrheit im Predigtdienst von Haus zu Haus ist die wichtigste Glaubenspflicht.
Nicht gern gesehen ist die Beschäftigung mit weltlichen Dingen, z. B. Politik, Sport, Hobbys, Popmusik.
Verboten sind: Bluttransfusionen, Militär- und Zivildienst, Teilnahme an Wahlen jeder Art, das Rauchen, Glücksspiele, nichtehelicher Sex, Geburtstags- und Weihnachtsfeiern


Interview

Wer wählen geht, fliegt raus
Zwei Vorstandsmitglieder der Zeugen Jehovas über die umstrittene Glaubenspraxis ihrer Sekte

DIE AUFSEHER: Vizepräsident Willi Karl Pohl (r.) und Vorstandsmitglied Werner Rudtke in der deutschen Zentrale der Zeugen Jehovas

FOCUS: Joseph Rutherford, ein früherer Präsident ihrer internationalen Glaubensgemeinschaft, erklärte: "Satan der Teufel ist der Vater jeder Religion." Jetzt wollen auch die Zeugen Jehovas rechtlich als Religion anerkannt werden. Wie erklären Sie Ihren Mitgliedern diesen Sinneswandel?

Pohl: Der Begriff "Religion" ist im Laufe unseres Bibelstudiums deutlicher definiert worden. Wir unterscheiden heute zwischen wahrer und falscher Religion und verstehen Rutherford so, daß der Teufel Vater der falschen Religion ist. Das sind Religionen, die nicht Gott allein bestimmen lassen, was gut und böse ist, sondern ihre Überlieferungen, Konzilsbeschlüsse und Dogmen über das von Gott inspirierte Wort der Bibel stellen.

FOCUS: Auf die Bibel berufen sich letztlich alle christlichen Religionen. Wer gibt Ihnen als Zeugen Jehovas die Gewißheit, daß ausgerechnet Sie die teilweise kryptischen Aussagen und Prophezeiungen richtig deuten?

Rudtke: Wir lassen die Bibel sich selbst auslegen, indem wir alle ihre Aussagen berücksichtigen. Außerdem haben wir Gremien, die sich mit den alten Sprachen der Bibel wissenschaftlich beschäftigen. Das Licht wird für uns immer heller.

FOCUS: Zu den bekanntesten und umstrittensten Glaubenssätzen in der Verkündung der Zeugen Jehovas zählt der vom bevorstehenden Ende der Welt. In einer Ihrer Schriften, 1995 erschienen, vertreten Sie die Überzeugung, "daß noch zu unseren Lebzeiten Gottes Königreich . . . alles Böse von der Erde beseitigen wird . . .". Könnten Sie das präzisieren?

Rudtke: Gemäß unserem biblischen Verständnis leben wir seit 1914 in der von Jesus bezeichneten "Zeit des Endes". Wie lange diese Epoche dauern wird, wissen wir nicht, aber wir glauben nach wie vor, daß der verheißene Weltwechsel nahe bevorsteht, ohne dafür einen konkreten Zeitpunkt nennen zu können.

FOCUS: Ebenso umstritten ist der Komplex, den Sie "die Blutfrage" nennen, also Ihre Ablehnung von Blutübertragungen, selbst in lebensbedrohlichen Situationen.

Pohl: In der Bibel heißt es: "Enthaltet Euch des Blutes!" Das verstehen wir so, daß man kein Blut zu sich nehmen soll.

FOCUS: Aber zu biblischen Zeiten war doch an Bluttransfusionen noch gar nicht zu denken.

Pohl: Wir glauben, daß Gott bei dem Verbot schon den Fortschritt der Medizin vorausgesehen haben kann.

Rudtke: Blut ist das Leben und daher heilig. Es darf weder im Krieg vergossen noch zum Gegenstand medizinischer Manipulationen werden. Seit den HIV- und Hepatitis-Infektionen durch verseuchte Blutpräparate sehen wir uns übrigens in unserer Haltung zusätzlich bestätigt.

FOCUS: Sie stellen noch andere rigorose Forderungen, die außer Ihnen niemand in der Bibel begründet finden kann: Ein Zeuge Jehovas, der beim Rauchen erwischt wird, muß sich vor den Gemeindeoberen dafür verantworten. Wenn dies öfter vorkommt, droht als Strafe der "Gemeinschaftsentzug". In solchen Fällen müssen die Gemeindemitglieder dann auch private Kontakte zu dem Ausgeschlossenen abbrechen, was oft menschliche Probleme schafft. Warum so streng?

Pohl: Die Bibel verlangt, daß wir uns von Narkotika enthalten. Sie spielen in den Riten mancher heidnischer Kulte eine Rolle. Die Bibel sagt klar: Raucher - und übrigens auch Trinker oder Menschen mit außerehelichen sexuellen Beziehungen - können nicht im Königreich Gottes leben.

FOCUS: Das Volk in Ihrem unsichtbaren Königreich - weltweit sind es 5,2 Millionen, in Deutschland immerhin 170 000 Menschen - strebt elitär nur seiner eigenen Errettung im erwarteten Gottesstaat zu. Aktive Beteiligung an irdischen Staatsformen dagegen lehnen die Zeugen Jehovas ab. Das betrifft nicht nur den Wehr- und den Zivildienst, sie dürfen nicht einmal wählen. Warum eigentlich?

Pohl: Jesus sagte: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt." Und zu seinen Jüngern sprach er: "Ihr seid kein Teil von dieser Welt." Daher ist es nicht erstaunlich, daß sich kein Zeuge Jehovas in eine Partei begibt. Wir wollen uns von der Welt unbefleckt erhalten. Deshalb wählen wir auch nicht.

FOCUS: Und wenn nun doch ein Zeuge dabei beobachtet wird?

Pohl: Wir würden ihm sagen, daß das nicht unserer Erkenntnis der Bibel entspricht und daß wir seinen Schritt leider so betrachten müssen, als ob er diese Überzeugung aufgegeben habe. Wenn er dann erklärt, daß er zum Beispiel von seinem Ehepartner dazu überredet worden sei, mag ihm Barmherzigkeit erwiesen werden, und er bleibt Glied der Gemeinde.

FOCUS: Die Ausübung eines staatsbürgerlichen Rechts gilt also bei Ihnen als eine Verfehlung?

Pohl: Nein, denn nicht zu wählen ist auch ein demokratisches Recht.

FOCUS: Was wäre denn, wenn niemand mehr wählen ginge?

Pohl: Dann brauchten wir keine Demokratie mehr . . .

FOCUS: . . . und bekämen wieder ein totalitäres Regime, das die Zeugen Jehovas sofort verbieten würde. Sie haben das ja unter dem Nationalsozialismus und in der DDR bereits zweimal erlebt.

Pohl: Bekanntlich kamen auch Hitler und die SED durch Wahlen an die Macht. Doch zu Ihrer Frage: Wir sind natürlich nicht gegen die Demokratie, denn wir wissen, daß sie eine sichere Regierungsform für alle Menschen, auch für die Zeugen Jehovas, ist. Und ich betone, daß viele unserer Brüder im Staatsdienst loyal ihre Pflicht erfüllen, selbst als Kriminaldirektoren oder Staatsanwälte.

FOCUS: Aber als Demokraten sehen Sie sich wohl nicht?

Pohl: Nein. Wir sind als Zeugen Jehovas Diener Gottes.