Freitag, 19. Juni 1998, 13:42 Uhr
Bonn (AP) Der Bundestag hält entgegen der landläufigen Meinung sogenannte Sekten und Psychogruppen nicht für gefährlich. Diese Einschätzung teilen alle Fraktionen im Bonner Parlament, wie die Debatte über den Abschlußbericht der zuständigen Enquete-Kommission am Freitag zeigte. Auch könne von einer Unterwanderung der Wirtschaft nicht die Rede sein,
erklärte die Vorsitzende der Kommission, Ortrun Schätzle. Allerdings müsse der Staat den einzelnen mit mehr Mitteln ausstatten, sich gegen Übervorteilungen und Schädigungen zur Wehr zu setzen.
Eine Sonderrolle wird Scientology eingeräumt, die die Kommission "auf keinen Fall" zu den religiösen Gemeinschaften zählt. Koalition und SPD plädieren dafür, die Organisation weiter vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Die Grünen dagegen fordern, gegen Scientology mit strafrechtlichen Mitteln und Aufklärung vorzugehen. Der FDP-Abgeordnete
Roland Kohn riet den Verteidigern der Organisation in den USA, sich doch einmal mit deren Doktrin zu beschäftigen und hinter deren "Hollywood-Leinwand" zu schauen.
Die Kommission kam nach zweijährigen Beratungen weiter zu dem Ergebnis, daß Menschen, die sich zu Sekten oder Psychogruppen hingezogen fühlen, keine passiven Opfer sind. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) begrüßte, daß der Bericht mit einer "Re ihe populärer Vorurteile" aufräume, und betonte ihrerseits: "Sekteneinsteiger sind keine willenlosen Opfer einer Gehirnwäsche."
Begriff Sekten vermeiden
Schätzle erklärte, Menschen, die sich zu neuen religiösen oder ideologischen Gemeinschaften oder Psychogruppen hingezogen fühlten, könnten auch einen individuellen und sozialen Zugewinn durch die Bindung an die Gemeinschaft erfahren. Diese Aspekte seien bislang in der öffentlichen Diskussion zu wenig beachtet worden. Nicht verharmlost werden dürfe allerdings der Aspekt, daß Einzelne auch erhebliche Konflikte oder Schädigungen erlebten.
Als Handlungsempfehlung gab die Mehrheit der Kommission, den negativen Begriff Sekte mit seiner stigmatisierenden Wirkung nicht mehr zu verwenden. Angeregt wird außerdem eine Bundesstiftung für Forschungsarbeiten, Fort- und Weiterbildungsprogramme und als "Mediationsstelle" in Konfliktfällen. Auch wurden neue Gesetze zum Schutz der Verbraucher gefordert.
Die Grünen-Abgeordnete Angelika Köster-Loßack lehnte dagegen "gesetzgeberischen Aktionismus" ab. Damit werde der falsche Eindruck erweckt, bei den betreffenden Gemeinschaften handele es sich um "hochproblematische und gefährliche Erscheinungen". Dagegen könne "Entwarnung" gegeben werden.