Was ist christliche Meditation?

IV. Gott in uns. Eine Weihnachtspredigt

von Christian J. Hövermann

Einleitung

Vor 25 Jahren, als ich Student war, hörte ich meine schönste Weihnachtspredigt. Ich habe sie seither nicht mehr vergessen. In einfachen Sätzen erläuterte der Prediger einen mir damals noch unbekannten Vers:

"Und wäre Christus tausendmal
in Bethlehem geboren,
doch nicht in dir,
du wärest ewiglich verloren."

(Der Vers stammt aus dem "Cherubinischen Wandersmann", 1674 von Angelus Silesius geschrieben, der mit bürgerlichem Namen Johannes Scheffler hieß.)

Der Prediger fragte: "Was wird von diesem Weihnachtsfest bleiben?" und er fuhr fort: "Wieder einmal haben wir von der Geburt Jesu Christi gehört, wieder einmal haben wir uns am Glanz der Weihnachtsbäume erfreut, wieder einmal haben wir die schönen alten Weihnachtslieder gesungen. Aber ist das alles gewesen? Bald ist die Weihnachtsatmosphäre verflogen und der Alltag hat uns wieder. - Es kommt darauf an, daß mit uns etwas Tieferes, Unüberholbares geschieht. Jesus Christus will in jedem von uns geboren werden, so daß er bleibend in unser Leben gehört."

Mich hat diese Predigt sehr angesprochen, weil ich das jähe Ende der Weihnachtsstimmung kurz nach dem Fest auch kannte und mir überlegte: "Wie kann man weihnachtlich leben?"

Das Stichwort, das der Prediger im Anschluß an Angelus Silesius gab, lautete: "Jesu leibliche Ankunft soll seine geistliche Ankunft bewirken. Jesus Christus muß in dir geboren werden. Wenn dies geschieht, dann ist Weihnachten nicht nur ein Tag im Kalender, sondern nimmt kein Ende."

Dieses bleibende Weihnachten ist auch in dem traditionellen kirchlichen Tagesgebet zum Christfest gemeint:

HERR GOTT, LIEBER VATER, AUS LIEBE
ZU UNS VERLORENEN MENSCHEN
HAST DU DER WELT DEINEN SOHN
GESANDT, DAß WIR IHN IM GLAUBEN
AUFNEHMEN UND DURCH IHN SELIG
WERDEN. WIR BITTEN DICH: GIB
DEINEN HEILIGEN GEIST IN UNSERE
HERZEN, DAß WIR IN DIESEM GLAUBEN LEBEN UND BLEIBEN. DURCH
UNSEREN HERRN JESUS CHRISTUS,
DEINEN SOHN, DER MIT DIR UND DEM
HEILIGEN GEIST LEBT UND REGIERT
VON EWIGKEIT ZU EWIGKEIT.

Es geht zu Weihnachten darum, daß der Heiland in unserem Herzen seinen Wohnsitz nimmt. Sein Quartiermeister ist der Heilige Geist. Er schafft in uns Raum für den Erlöser. Man nennt das die "Einwohnung Jesus Christi im Heiligen Geist in den Herzen der Gläubigen".

Später entdeckte ich, daß es in der christlichen Meditation um diese Einwohnung Christi geht. Sie hilft dazu, daß Jesus Christus, der in Bethlehem geborene GOTT UNTER UNS, zum GOTT IN UNS wird.

Die Einwohnung Jesu Christi im Heiligen Geist in den Herzen der Menschen ist m.E. kein Spezialthema der Mystik. In ihr sehe ich das Ziel des göttlichen Heilshandelns mit den Menschen. Ich möchte dies an zwei Bibelstellen erläutern.

Verheißung

"Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloß, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der Herr; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr. Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein" (Jeremia 31, 31-33 vergleiche Hesekiel 36, 26f.)

Diese Worte stammen von dem Propheten Jeremia. Er beklagt, daß der Bund Gottes mit dem Volk Israel nicht gehalten wurde, und prophezeit einen Bund, der gehalten wird, weil zu ihm eine Neuschöpfung gehört.

Gottes Bundesschluß mit Israel erfolgte, weil sich aus der Schöpfung heraus kein Einvernehmen zwischen Gott und den Menschen einstellte, wovon die ersten Kapitel der Bibel berichten (Kain und Abel, Noah, Turmbau zu Babel), und weil Gott es dabei nicht belassen wollte. Gott gibt sich nicht mit der "Normalität" des menschlichen Lebens zufrieden, die Jesus einmal so beschreibt:

"Sie aßen, sie tranken, sie heirateten und ließen sich heiraten." (Matthäus 24,38)

Gott hat den Menschen als sein Geschöpf und zur Gemeinschaft mit ihm und den Mitmenschen geschaffen, deshalb suchte er einen Weg, um zu dieser Gemeinschaft zu kommen. Dieser Weg war die Erwählung eines Volkes. Die Grundsätze dieser Erwählung lauten:

"Ich .. will euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein." (3. Mose 26, 12)

"Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr euer Gott." (3. Mose 19, 2)

Aus ihnen ist deutlich, daß Gott nicht der Normalität einen festlichen Rahmen geben will, sondern er möchte veränderte, zu ihm gehörige Menschen. Für viele Generationen Israels bedeutete der Bund auch wirklich gelebte Gemeinschaft mit Gott und seinen Geboten. - Die Propheten Amos, Hosea, Jesaja und Jeremia müssen dann aber einen irreparablen Bruch konstatieren. Unter einer frommen Fassade ist Gottes Willen außer Kraft gesetzt worden. Das Gesetz Gottes wurde nicht wirklich zum Lebensgesetz des Volkes, sondern blieb ein Fremdkörper. Es herrschte die "Normalität": sie aßen, sie tranken, sie heirateten und ließen sich heiraten.

Jeremia schaut einen neuen Bund, der hier Abhilfe schafft: An die Stelle der steinernen Tafeln vom Sinai tritt ein "Herzschrittmacher". Der Wille Gottes ist so tief in den Herzen der Menschen verinnerlicht, daß zwischen ihnen Einklang besteht. Der Mensch will, was Gott will.

Erfüllung

Der Prophet Jeremia läßt offen, wann dieser Neue Bund Wirklichkeit wird. Im Galaterbrief schreibt der Apostel Paulus einen Satz, der sich wie die Erfüllung des Prophetenwortes liest:

"Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben." (Galater 2,20)

Das "alte Ich" des Paulus ist in der Taufe abgestorben. An seine Stelle ist die Person Christi getreten, der ihn lenkt, der ihn schützt und der ihn stützt. Martin Luther geht davon aus, daß die Worte des Paulus für alle Christen gültig sind, Er schreibt zu dieser Stelle in seinem Galaterkommentar aus dem Jahre 1535:

"Aber der in mir lebende Christus hebt das Gesetz auf, verurteilt die Sünde, tötet den Tod, weil diese unter seiner Anwesenheit nicht unverflüchtigt bleiben können. Denn Christus ist ja ewiger Friede und Trost, ewige Gerechtigkeit und ewiges Leben; vor diesen muß der Gesetzesschrecken, die Schwermut, Sünde, Hölle und der Tod weichen. So trägt und verschlingt der in mir bleibende und lebende Christus alles Übel, das mich peinigt und bedrängt. Darum bewirkt diese Einwohnung, daß ich von den Schrecken des Gesetzes und der Sünde befreit werde, aus meiner Haut herausgenommen und in Christus und sein Reich übertragen werde. Es ist ein Reich der Gnade, der Gerechtigkeit, des Friedens, der Freude, des Lebens, Heils und der ewigen Herrlichkeit. Wenn ich mich nun aber dort befinde, kann mir kein Übel schaden."

Auch Martin Luther ist der Meinung, daß Gottes Handeln am Menschen dann zum Ziel kommt, wenn Jesus Christus in das Herz des Menschen einzieht. Die Einwohnung Jesu Christi im Heiligen Geist ist eine Folge der Taufe. "Gott in uns" ist Jesus Christus nicht als ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Wesens, sondern erst durch die Taufe kommt man mit ihm definitiv in Berührung. Diese in der Taufe grundgelegte Gemeinschaft mit Jesus Christus will wachsen und zur Entfaltung kommen. Wo das geschieht, kommt es zu Veränderungen im Leben, wie Martin Luther sie beschreibt. Ich fühle mich in das Reich der Gnade, der Gerechtigkeit, des Friedens, der Freude und des Lebens versetzt. Kein Übel kann mir - letztlich - schaden. Es kommt auch zur Erfüllung der Gebote Gottes - nicht aus äußerem Zwang oder moralischer Anstrengung, sondern von innen heraus.

Der Christ von morgen ein Mystiker

Der 1984 verstorbene katholische Theologe Karl Rahner gab folgende Prognose für den Christen von morgen:

"Der Fromme von morgen wird ein "Mystiker" sein, einer der etwas "erfahren" hat, oder er wird nicht mehr sein." (1966)

Unter "Mystik" verstand er dabei nicht eine Angelegenheit für Spezialisten, sondern die persönliche Glaubenserfahrung im biblischen Sinne.

"Die Mystiker sind nicht eine Stufe höher als die Glaubenden, sondern Mystik in ihrem eigentlichen, theologischen Kern ist inneres, wesentliches Moment des Glaubens." (1984)

Diese Prognose hat m. E. an Aktualität nichts verloren. Immer weniger Menschen geben sich mit der Überlegung zufrieden: "Ich bin in der Kirche, weil Vater und Mutter in der Kirche waren." Die Familientradition allein trägt nicht mehr. Wichtiger sind die eigenen Erfahrungen mit der Kirche, mit der Gemeinde und mit - Gott. Die Kirche tut sich denkbar schwer, Raum für Gotteserfahrung zu bieten. Denn Gott kann man nur erfahren, wenn man sich ihm ausliefert. Sich auszuliefern, passiv zu sein liegt dem modernen Menschen und auch der modernen Kirche recht fern:

Der Mensch will Gott gegenüber ebensowenig wie in seinem übrigen Leben passiv sein. Er richtet sein Augenmerk lieber auf die Bearbeitung der mit dem Glauben an Gott verbundenen gedanklichen Probleme oder kirchenorganisatorischen Fragen oder auf die aus ihm entspringenden Handlungsfolgen. Dementsprechend wird "Gott" und die Beschäftigung mit ihm in der Kirche bald als Denk- und Organisationsaufgabe, bald als Handlungsanweisung gesehen. Dabei überschätzt sie ihre Möglichkeiten bei weitem. Man hat oft den Eindruck, daß die Erfüllung der Verheißung des Propheten Jeremia auch in der Kirche noch aussteht. Es fehlt an spirituellem Wachstum und gesamtmenschlich erfahrbarer Reifung. Mit Gott in Beziehung zu treten ist keine Denkaufgabe, kein Organisationsproblem, sondern ein behutsames Sich Öffnen, Eintreten in ein Zwiegespräch und Aufmerken auf Jesus Christus, den GOTT IN UNS. Die christliche Meditation will dem neuen Menschen in mir Raum geben. Ihr Ziel ist es, die persönliche Bereitschaft des einzelnen zu wecken, sich aufgrund seiner Lebenserfahrungen auf Gott in Jesus Christus einzulassen und sich damit in einen Glaubensprozeß hineinzubegeben. Dazu wird der Weg des Gebetes eingeschlagen.

Das Gebet ist das Leben des neuen Herzens: Christus wohnt in deinem Herzen, wenn du dich in einem fortwährenden Zwiegespräch mit ihm befindest und ihm dadurch den Raum gibst, in deinem Leben zu walten und zu regieren. Dann wird Jesu leibliche Ankunft zu einer geistlichen Ankunft. Dann ist Weihnachten nicht nur ein Tag im Kalender, sondern nimmt kein Ende.


Christian J. Hövermann

Pfr. Christian J. Hövermann, 48, ist Pfarrer an der "Kirche zum Heilsbronnen" in Berlin-Schöneberg