Seite 32a n_rechtsweiter Seite 33 (8 KB) n_links Start-Seite 1
  

BERLINER DIALOG 26, 1-4 2002 - Epiphanias 2003

 

"Unser Glaube ist ein liebes bißchen kompliziert ..."
Bemerkungen eines Journalisten nach einem Besuch bei der Vissarion­Sekte
Von Anton Sawin

(...) 70% aller Sektenglieder, das sind vor allem die gebildeten, glauben im Grunde genommen nicht an die göttliche Natur Vissarions. Dazu funktioniert die sowjetische Kodierung noch zu gut - nach alter Gewohnheit vollkommen automatisch und eigenständig: Man kann das eine sagen, jedoch etwas anderes denken und dabei trotzdem ein ehrlicher und wahrhaftiger Mensch bleiben, das Phänomen der Doppelzüngigkeit.
Die Bücher Vissarions - "Die letzte Hoffnung", "Das Letzte Testament", "Gespräche mit dem Lehrer" - das ist die eine Seite des Phänomens; auf der anderen Seite ist es aber auch eine bestimmte Idee, die diese 3000 [die Behörden in Krasnojarsk nannten im Frühjahr 2001 die Zahl 4200 - G.S.] Menschen dort zusammenführt: die Vorstellung von gemeinsam gelebter äußerer Einfachheit, über die man zur gemeinsam erlebten Verinnerlichung zu gelangen hofft. Seit 200 Jahren werden Teile der russischen Intelligenz immer wieder einmal von solchen Sehnsüchten erfaßt. "Zurück zur Natur!" So überwindet man die oft beträchtlichen Entfernungen auf stets abenteuerlichen Wegen mit dem Fahrrad. Zum "Zurück zur Natur" paßt auch die von den Vissarion­Leuten praktizierte strengste Form des Vegetarimus - der Veganismus.
Nach der kräftezehrenden Feldarbeit kommen die Sektenmitglieder oft noch zusammen, um religiöse Texte auszulegen, aber auch um intellektuelle Zirkel mit musikalischem Programm durchzuführen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie lange intelligente Menschen, von denen es hier besonders viele gibt, diesen Hang zum einfachen Leben durchhalten - z.B. die bei ihnen unübersehbare Tendenz, Kindern nachzueifern - mit dem Ziel, naiv zu werden wie die Kinder.
Sektenglieder, die früher der schreibenden Zunft angehört hatten, werden zu Erzählern umqualifiziert, Maler lernen, gefällige Zeichnungen anzufertigen im Stil bunter Märchenbücher. Man beschenkt sich gegenseitig mit Skizzen und Büchlein; die Rede der Sektenmitglieder ist durchsetzt mit Verkleinerungsformen und zärtlichen Wendungen. So antworten sie, auf ihren Glauben angesprochen, gern: "Unser Glaube ist ein liebes bißchen kompliziert" (Nasa vera ... sloznovaten'kaja). Die Sektenglieder betätigen sich entweder im Gartenbau oder betreiben irgendwelche Handwerke. Besonders beliebt sind verschiedene Kunsthandwerke; wer eines beherrscht, wird "Meister" genannt. Ihre Erzeugnisse werden in großen Städten wie Krasnojarsk oder St. Petersburg verkauft - und die meisten sogar im Ausland!
Vielfach wird behauptet, die Sektenglieder führten ein überaus schweres Leben, das ihnen große Mühe bereite. Andererseits gibt es solche, die das anders empfinden. Manche bekunden öffentlich, daß sie Torop­Vissarion widerlich finden - und trotzdem kommen sie für ein-zwei Jahre her, weil ihnen die intellektuelle Zusammensetzung und das gesamte Umfeld der Sekte zusagt; sie finden das Leben in der Sonnenstadt erstaunlich demokratisch geordnet; dies und die Wunder der sibirischen Natur lassen sie den Bruch mit ihrem bisherigen Leben leichter vergessen.
Aber es gibt auch so etwas: Jemand, der eine Verwandte besuchte, schilderte, wie er auf dem "Trockenen Berg", dem Zentrum der Sonnenstadt, kurz ToropVissarion begegnet ist: "Ich habe diesen Vissarion gesehen, ein Augenblickchen lang. ... Und ich spürte, was von ihm und überhaupt von diesem Berg ausgeht. Ich sage es mal so: Er hat zwar nichts eigentlich Satanisches an sich, ein gewöhnlicher Teufel, wie sie bei Dostojewski vorkommen, ist er aber doch. Unter seinem roten Gewand hat dieser Torop einen Schwanz - klein und glatt, wie ein Windhund." ...
Die lokale Bevölkerung hat den Sektenleuten am Anfang die Scheiben eingeworfen, man hat sie verprügelt. Mit der Zeit hat man sich an sie gewöhnt; manche von ihnen arbeiten als Lehrer in umliegenden Schulen, einige in sozialen Diensten, andere bei der Post. Aber nach wie vor nennen die Alteingesessenen die Sektenleute abfällig "Kohlraupen" oder "Grasfresser".
Abgesehen von ihrem absolut synkretistischen Charakter (Vermischung von Christentum, Buddhismus, Islam, südostasiatischen Religionen, Esoterik usw.) ähnelt ihre Lehre in manchem derjenigen der Tolstojaner. Aber: Den Tolstojanern stehen für ihren Kult literarische Texte von höchster Qualität zur Verfügung: das Werk Leo Tolstojs. Dagegen sind die religiösen Texte der Vissarion­Sekte sprachlich einfach eine Zumutung: dürftig und mangelhaft. Angefangen mit dem luxuriös ausgestatteten vierbändigen "Letzten Testament" (gedruckt in St. Petersburg) über ihre Zeitschrift "Verheißenes Land" bis hin zu allen möglichen Aufschriften ist alles in einem grauenhaften, chaotischen Mischmasch von vier Stilen geschrieben: im Stil biblischer Texte, literarischer Märchen, pseudowissenschaftlicher Abhandlungen und journalistischer Artikel. ...

Quelle: Literaturnaja gazeta - Obscestvo 15./21. Nov. 2000, S.5f.
Übersetzung: Gerd Stricker


Seite 32a n_rechtsweiter Seite 33 (8 KB)
n_oben Anfang

n_links Start-Seite 1