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| BERLINER DIALOG 24-25, 1/2-2001 BÜCHER |
Psychische Zersetzung
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Begriff und Vorgang dessen, was umgangssprachlich als Gehirnwäsche bezeichnet wird, sind umstritten. Eine regelrechte Kultlobby hat mit allen Mitteln bis hin zum Wissenschaftsschwindel versucht, den Terminus ebenso wie das Gemeinte pauschal als Greuelpropaganda zu erweisen. Nicht aus der Auseinandersetzung mit Psychokulten, sondern aus einem ganz anderen Bereich kommt der folgende Erfahrungsbericht über psychische Folter und Manipulation. -Red.
Psychische Folter ist schwer nachweisbar, weil sie keine sichtbaren Spuren hinterläßt. In den Haftanstalten Sowjetrußlands wurde in den dreißiger Jahren die Methode der Gehirnwäsche erprobt. Sie gehörte zum Arsenal der "Großen Säuberungen". Die Zahl der überzeugten Parteigänger des Sozialismus, die in den dreißiger Jahren in das Mahlwerk der kommunistischen Sicherheitsapparate gerieten, geht in die Hunderttausende. Die erste Welle des Säuberungsterrors richtete sich vor allem gegen Trotzkisten und bolschewistische Intellektuelle. Wer überlebte, mußte schweigen.
Im Prager Gefängnis unterzog man sie dann der verfeinerten Sonderbehandlung, mit der Andersdenkende in kommunistischen Haftanstalten mürbe gemacht wurden. Dazu gehörte die Isolierung der politischen Häftlinge voneinander und die Verunsicherung durch Verhörspezialisten und Mithäftlinge, die der Geheimpolizei zu Diensten waren. Sibylle Plogstedt teilte ihre Prager Zelle mit einer Berufsbetrügerin, bei der offenbar durch medikamentöse Stimulation schizophrene Schübe ausgelöst wurden. Diese Frau war jedoch zwischen ihren Wahnanfällen in der Lage, die Zellengenossin in eine emotionale Bindung zu verstricken. Sie bemutterte die junge Deutsche und half ihr, die tschechischen Sprachkenntnisse zu verbessern. In Momenten der Ruhe las sie zum Trost selbstverfaßte Gedichte wie dieses: Die Poesie schuf Nähe, die weit über das Übliche des gemeinsamen Gefangenendaseins hinausging. Intime Nähe verwandelte sich während mehrtägiger schizophrener Schübe in unvermittelte Distanz. Es ist eine Frage der Zeit, wie lange ein normaler Mensch vierundzwanzig Stunden Tag um Tag mit einem geistig Verwirrten auf engstem Raum durchhält. Sibylle Plogstedt gab nach eineinhalb Jahren auf und stimmte einer Ausweisung aus der CSSR zu. Sie empfand das als Niederlage, als Verrat an den mitgefangenen Gefährten und ihrem Geliebten. Zurück in West-Berlin, stürzte sie sich, um Schuld- und Ohnmachtsgefühle zu überdecken, in hektische politische Betriebsamkeit. Zunächst als trotzkistische Agitatorin, was zum jähen Ende ihrer Universitätskarriere führte, weil das Kuratorium der Freien Universität Berlin 1976 ein Berufsverbot gegen die Osteuropa-Wissenschaftlerin aussprach. Danach gehörte sie zum Gründerkreis der radikal-feministischen Frauenzeitschrift "Courage" und war nach deren Einstellung als Redakteurin der sozialdemokratischen Parteizeitung "Vorwärts" beschäftigt. Seit 1989 arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin. Später fühlte sie sich dann frei genug, um die lange Reise zurück in die Zeit des Prager Frühlings, der Liebe und der Haft anzutreten: Nachforschungen in den Prager Archiven der Geheimpolizei, Gespräche mit den alten Gefährten, die später zur Charta 77 gehörten und heute zum Teil wichtige Ämter bekleiden, und der Besuch bei der früheren Zellengenossin. Erst durch die Wiedererscheinung der Vergangenheit konnte die Autorin das Gefängnistrauma überwinden. Ihr stilles und nachdenkliches Buch schildert diesen Prozeß der Aufarbeitung und beschreibt die Folgen der psychischen Folter. Erzählt wird "nur" die eine, eigene Opfergeschichte. Doch erst ein solch schmerzlicher Tiefenschnitt läßt verstehen, warum es vielen anderen Opfern psychischer Zersetzungsmethoden so schwerfällt, über ihre seelischen Verwundungen zu sprechen und deren Langzeitschäden zu überwinden. Dr. Jochen Staadt, 51, promovierte 1977 mit einer Arbeit über DDR-Romane; seit 1992 Mitarbeiter im Forschungsverbund SED-Staat der FU; zahlreiche Veröffentlichungen zur Westpolitik von SED, FDJ und MfS sowie zur Alltagskultur in der DDR; des weiteren Arbeiten zur Geschichte der SDS und der Neuen Linken in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Rezension erschien zuerst in der Rubrik "Politische Bücher" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. 07. 2001. |
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