Religiöses Panorama in der Schweiz

Zurück zur Titelseite der Zeitschrift

Sonnentempler-Katastrophe, rassistische Esoterik, christlichem Fundamentalismus

von Philipp Flammer

  1. Das Paradies kann warten
  2. Anerkennung von Religionsgemeinschaften
  3. Gesetzliche Handhabe gegen Scientology
  4. Rassistische Theosophen
  5. Fundamentalismus und weitere Auffächerung der religiösen Szene

Das Paradies kann warten

Das Paradies kann warten so heißt ein bekanntes Buch in der Schweiz zu Sekten und Psychokulten. Die Hölle wartet auch in der Schweiz nicht so kommentierten Beobachter zynisch das Drama um den esoterischen Sonnentempler-Orden. Während die Ereignisse im gleichermaßen betroffenen Frankreich schon in die Arbeit einer Parlamentskommission eingingen (vgl. BERLINER DIALOG 2-96), gehen die Schweizer Uhren langsamer. Wir erhielten diesen Bericht von infoSekta, einer Beratungsinitiative in der Schweiz, die mit den deutschen Initiativen kooperiert.

Die religionspolitische Diskussion in der Schweiz steht noch deutlich im Zeichen der Nachwehen der Ereignisse bei den Sonnentemplern vom Oktober 1994 (vgl. BERLINER DIALOG 1-95: "Das Geheimnis des Sonnentempels" und "Dokumente der Sonnentemplerlehre") und Dezember 1995, als weitere 16 "Sonnentempler", darunter drei Kinder, einen inszenierten Tod in den französischen Alpen sterben mußten. Erst am 3. April 1996 veröffentlichten die Schweizer Behörden ihren längst fälligen Untersuchungsbericht zu der Sonnentempler-Katastrophe in der Westschweiz 1994. Allgemein enthielt der Bericht kaum Neuigkeiten. In der Öffentlichkeit wurde er als eine verpaßte Chance der Behörde wahrgenommen, zu erklären, warum trotz deutlicher Vorzeichen auf das zweite Drama keine oder nur mangelhafte präventive Maßnahmen eingeleitet worden sind. Während in Frankreich der Staat entschlossen zu handeln begann, stehen in der Schweiz noch immer unbeantwortete Fragen im Raum: Was darf und was kann der Staat gegen Sekten und Kulte mit deutlich totalitären Strukturen und Ambitionen unternehmen? Und was muß er in Zukunft unternehmen, um das Wohl seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten und auch langfristig eine demokratisch-liberale Grundordnung sicherstellen zu können?

Wie schwer sich der Staat im Umgang mit totalitären Gruppen und destruktiven Kulten tut, wurde auch im März 1996 bei einem dreitägigen Kongreß in Interlaken deutlich, zu dem die Schweizerische Arbeitsgruppe für Kriminologie erstmals zum Thema "Sekten und Okkultismus" einlud. 17 Experten und Expertinnen referierten vor einem renommierten Publikum aus Justiz und Polizei zu kriminologischen, soziologischen und anderen Aspekten der Thematik. Ein Sammelband der Referate dieser Tagung erscheint im Herbst 1996 ( Auskunft: Verlag Ruegger AG, Postfach 134, CH-7004 Chur/ SCHWEIZ).

Anerkennung von Religionsgemeinschaften

Im Kanton Zürich geht der Kirchenrat nach der Ablehnung der Volksinitiative für die Trennung von Kirche und Staat im September 1995 in die Offensive: Die öffentlichrechtliche Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften gehört zu seinen vordringlichen Reformanliegen. Bis anhin (bis jetzt) genossen diese Anerkennung nur die drei christlichen Landeskirchen: die reformierte Kirche, die römisch-katholische Kirche und die kleine christkatholische (altkatholische) Kirche. Zur Zeit ist eine Vorlage für eine Verfassungsänderung und ein Anerkennungsgesetz hängig (in Vorbereitung). Kernproblem der Diskussion sind die Kriterien, nach denen der Staat seine Anerkennung aussprechen soll ohne Gefahr zu laufen, plötzlich auch Gruppen wie Scientology anerkennen zu müssen. Interessiert am neuen rechtlichen Status sind u.a. Israelitische Cultusgemeinde Zürich, Evangelisch-Lutherische Kirche, Baptistengemeinde Zürich, Neuapostolische Kirche Schweiz, Tamilischer Tempelverein und das Islamische Zentrum Zürich.

Gesetzliche Handhabe gegen Scientology

Im Vergleich zu Frankreich oder Deutschland nehmen sich die Anstrengungen der Schweizer Behörden und Politikerinnen und Politiker in Sachen Scientology noch immer bescheiden aus. Allerdings gibt es in Zürich und Basel Anzeichen einer Trendwende. Besonders interessant ist eine hängende Motion (schwebende Initiative) im Basler Großen Rat zur Einführung eines Gesetzes "gegen das sektiererische Verhalten auf öffentlichem Grund". Damit könnte der Spielraum von Scientology erstmals in einem Schweizer Kanton etwas enger werden.

Rassistische Theosophen

Nachdem in der Schweiz seit Januar 1995 ein Antirassismus-Gesetz in Kraft ist, das öffentliche Meinungsäußerungen mit rassistischen Inhalten verbietet, gelangten ab Mitte 1995 erstmals auch ideologische Propagandaelemente einer sektenartigen Gruppe ins rechtliche Kreuzfeuer. Vorläufiges Ergebnis: Am 11. Juni 1996 wurde der europäische Leiter des "Fundaments für Höheres Geistiges Lernen", der theosophisch-gnostischen sogenannten "Universalen Kirche", vom Appenzeller Kantonsgericht verurteilt. In einem Rundbrief der theosophischen Organisation hatte Reimer Peters unter anderem behauptet, die Juden hätten "in ihrer satanischen Gier den zweiten Weltkrieg angezettelt". Das Strafurteil gilt als das wichtigste seit Inkraftsetzung des neuen Gesetzes.

Fundamentalismus und weitere Auffächerung der religiösen Szene

Spätestens seit der großangelegten Propagandaaktion "Jesus für Züri" von 1993 haben christlich-fundamentalistische Kreuzzüge amerikanischer Prägung auch in der Schweiz voll eingesetzt. Besonders aufgefallen war im September 1995 Reinhard Bonnke, der mit seiner millionenschweren "Vom Minus zum Plus"-Aktion auch die Schweiz großflächig zudeckte. Heftige Kontroversen lösten die Großveranstaltungen der "Basileia Bern" aus, die den "TorontoSegen" (vgl. BERLINER DIALOG 2-96) der pfingstlerischen Vineyard-Bewegung in die Schweiz importierte. Die These der Basileia Bern bei ihrem Pfingstkongress, daß Homosexuelle krank sind und von ihrer "sexuellen Zerbrochenheit" geheilt werden müßten, stieß auf Ablehnung in der Öffentlichkeit. Doch scheint solcher "amerikanischer" Wertkonservatismus an Boden zu gewinnen: die "Aktion wahre Liebe wartet", welche einen "neue Keuschheit" der sog. "Promise Keeper"-Bewegung zu importieren versucht, scheint auch auf römischkatholischer Seite beachtliche Zustimmung zu erhalten.

Anfragen beim Verein INFOSEKTA in Zürich, der einzigen privaten Beratungsstelle in der Schweiz, waren auch 1995 bei knappen Mitteln weiter steigend. Dauerbrenner und neuer Favorit unter den nachgefragten Gruppen ist das Psychounternehmen Landmark Education, eine Nachfolgeorganisation von EST, dem Ehrhard Seminar Training. Dahinter folgen mit beachtlicher Häufigkeit Scientologen, Jehovas Zeugen und verschiedene Gruppen aus der Pfingstbewegung. Die ständig wachsende Bandbreite der angefragten Gruppen signalisiert eine weitere Pulverisierung des religiösen Marktes, wobei die Anfragen einen deutlichen Trend in Richtung von Gruppen mit esoterischem und hinduistischem Hintergrund signalisieren.

Philipp Flammer, lic.phil. ist Soziologe und Mitarbeiter von infoSekta

Zurück zur Titelseite der Zeitschrift