Weltweiter Truppeneinsatz
Wenn Unbekannte vor der
Wohnungstür stehen, dann können es durchaus Zeugen Jehovas sein.
Mitte Oktober 1996 führte die religiöse Gemeinschaft eine
Imagekampagne durch. Nach Mitteilung von Uwe Langhals vom Informationsdienst
Sachsen-Ost der Zeugen wurden allein im Großraum Dresden 30.000
Exemplare einer Broschüre verteilt, mit der die Vorurteile
gegenüber den "Bibelforschern" ausgeräumt werden sollen. Die
Zeugen Jehovas stellen sich darin als höfliche und freundliche Leute
aus der Nachbarschaft vor, die sich kaum vom Durchschnittsbürger
unterscheiden. Mancher macht allerdings andere Erfahrungen. Ein
Familienvater berichtet: "Sie kommen immer wieder, sind penetrant. Ich habe
ihnen schon oft gesagt, daß ich meine Ruhe haben will. Das
nächste Mal hole ich die Polizei." Die wird sich allerdings nicht
einmischen. Uwe Langhals selbst entspricht so gar nicht dem
herkömmlichen Bild eines Zeugen Jehovas. Er ist zurückhaltend,
scheint um Toleranz bemüht, wirkt nicht agitierend. Sicher gebe es
einige Zeugen, die ihren Einsatz übertreiben, gibt Langhals zu,
schwächt aber gleich ab: Schließlich habe man den Menschen etwas
Wichtiges zu sagen. Und in den Schulungen der Prediger würde stets
darauf hingewiesen, die Gesprächspartner möglichst "taktvoll"
anzusprechen.
Alle Feinde Gottes werden vernichtet
Hier und da hat der Sprachschatz von Langhals militärische Klänge.
Angesichts der strikten Ablehnung des Wehrdienstes mag das verwundern, weist
aber auf die strenge Organisationsstruktur der Zeugen: "Wir sind eine
weltweit funktionierende Truppe." Das deutsche Zentrum liegt in Selters. ...
(Anm. der Red.: Nicht dort, wo das Selters herkommt, aus Selters an der
Lahn, sondern in Selters im Taunus). Die fünf hauptberuflichen
Sondervollzeitprediger im Raum Dresden kommen alle aus dem Westen. Die
Sitten sind streng. Kein Gläubiger ist vom Predigerdienst ausgenommen.
Methoden sind vor allem der Straßendienst und der Ansprechdienst. Im
weltlichen Sprachgebrauch würde man dazu Direktmarketing sagen, eine
bewährte Vertriebsstrategie, die - wie auch die Glaubensgesellschaft
selbst - aus den USA stammt: Die Leute direkt ansprechen, auf der
Straße oder in der Wohnung, sie mit den Lebensproblemen und dem
bedauernswerten Zustand dieser Welt konfrontieren und ihnen die
Möglichkeit der persönlichen Rettung durch die Zeugen Jehovas
bieten. Das System erinnert an einen Strukturvertrieb. Im Angebot sind
"Überlebensversicherungen": Alle Freunde Gottes werden gerettet, alle
Feinde vernichtet. Wer möchte schon vernichtet werden? Angesprochene
beklagen, wie sie sich durch frontale Argumentation unter Druck
fühlten.
Rasterfahndung nach neuen Seelen
Auch wenn sich Zeugen Jehovas moderat gebärden, bleibt die exklusive
Grundhaltung. "Wir haben das Vorrecht, mit den Menschen über den wahren
Gott zu sprechen", heißt es in einer aktuellen Selbstdarstellung. Sie
nehmen die persönlichen Probleme, Ängste und Enttäuschungen
in dieser gottlosen Welt auf und bieten eine einfache, paradiesische
Lösung: Noch zu unseren Lebzeiten wird Gottes Königreich alles
Böse von der Erde beseitigen und die Menschen können als vereinte
Familie unter gerechten Verhältnissen glücklich zusammen leben.
"Seid bereit!" Das Ende der Welt ist nahe. Ein genauer Termin steht
allerdings zur Zeit nicht fest. Bevor die Prediger in die
Öffentlichkeit geschickt werden, müssen sie mindestens 120
Kursstunden absolviert haben.
In den Kursen werden sie unter Anleitung von sogenannten "Aufsehern" mit Rollenspielen und Elementen der Supervision fit gemacht. Vollzeitprediger durchlaufen die "Pionierdienstschule". Die Ausbildung besteht nicht nur in der Analyse von Bibelstellen. In einem speziellen Ausbildungsprogramm, der Theokratischen Predigtdienstschule (vergleichbar einem Rhetorikkurs), trainieren die Zeugen zudem psychologische Gesprächsführung. Der Erfolg der Zeugen Jehovas liegt u.a. in dem zentral durchorganisierten Management von der Watchtower Society in New York bis zur Ortsebene. Der Inhalt der vertriebenen Literatur wird überwacht von der leitenden Körperschaft und ist weltweit gleich, in allen Ländern werden - wöchentlich wechselnd - simultan dieselben Themen besprochen. In jedem Land existieren Zweigbüros, die allen Versammlungen ein Teilgebiet zuteilen. Diese wiederum teilen das Gebiet in kleinere Bezirke auf. So hängt an der Pinwand im Königreichssaal auf dem Berganderring in Dresden-Reick ein Plan des Stadtteils mit dem Raster, wer für welche Straße verantwortlich ist. Damit wird eine flächendeckende Präsenz erreicht.
Gut vorbereitet an der Wohnungstür
Die Zeugen Jehovas notieren sich bei ihren Besuchen, wo niemand zu Hause war
oder wo sie aus irgend einem anderen Grund "kein gründliches Zeugnis"
geben konnten. Dort sprechen sie wieder vor, vermerken sich, wer Interesse
gezeigt hat, um den Versuch zu wiederholen. "Am besten ist es, aus der Bibel
des Wohnungsinhabers vorzulesen oder ihn vorlesen zu lassen und ihm zu
zeigen, was drin steht", beschreibt Uwe Langhals die Besuchsregie. Was
darauf hindeutet, daß besonders auch die Klientel der kleiner
werdenden Großkirchen umworben werden. Das bleibt nicht ohne Erfolg.
Immerhin wächst die Anhängerschar, zwar nicht sensationell, aber
doch stetig. Angesichts von Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Vereinzelung
ist die Aussicht auf das Paradies für manche ein problemlösendes
Angebot. Zeugen Jehovas verzichten deshalb sogar auf Hochschulausbildung,
enthalten sich politischen Engagements, ja gehen noch nicht einmal zu
Wahlen. Sie werden allerdings auch niemals gegen eine bestehende Regierung
rebellieren, verhalten sich politischen Themen gegenüber streng neutral
und fügen sich den jeweiligen Machthabern.
Das Leben ist unübersichtlich geworden. Zeugen Jehovas bieten Orientierung. Mit der Analyse von 1100 Bibelstellen gibt es für jede Lebenslage eine Antwort. Die Botschaft ist leicht zu verstehen für die, die sich darauf einlassen. Wer die Bibel als Rezeptbuch nimmt, wer einmal diese Entscheidung getroffen hat, muß sich nicht ständig neu entscheiden zwischen verschiedenen Varianten. Es gibt nur eine. Vor der Versammlung im Königreichsaal begrüßen sich die Gläubigen herzlich. Es geht keinesfalls sauertöpfisch zu. Die persönliche Verbundenheit mag auf viele anziehend wirken. Auch durch praktische Hilfen im Alltag unterstützen sich die Gläubigen. Voraussetzung, um dazuzugehören, ist jedoch die kritiklose Übernahme der vorgegebenen Lehre. Durch die Schulungen und den Besuchsdienst hat jeder eine Aufgabe. Auch zuvor am Rande Stehende erlangen wieder Bedeutung, sind herausgefordert, niemand in der Versammlung bleibt anonym. Wer sich an die Regeln hält, wird sich auch nicht an der strengen Führung stoßen. Schließlich sind die Anhänger hier, weil sie eine Autorität suchen, die ihnen genau sagt, was richtig und falsch ist. Und die anderen? Sie werden von den Ältesten "zurechtgewiesen und in Zucht genommen", so der Sprachgebrauch der Zeugen.
Insider: Gruppendruck und Kontaktverbot
Äußerungen von Aussteigern bringen die Zeugen Jehovas allerdings
regelmäßig ins Zwielicht. Berichtet wird von starkem
Gruppendruck, einem Kontrollsystem, das bis zum Spitzelwesen reicht,
Disziplinierung, Eingriffen ins Privatleben besonders bei der Erziehung der
Kinder, Blockierung der Bildungschancen. Es bestehe die Verpflichtung zum
"Jünger" machen an Haustüren und zu finanziellen Spenden. Durch
das Kontaktverbot mit Abtrünnigen sei der Ausstieg extrem erschwert.
Denn während der Mitgliedschaft breche die Verbindung zur
Außenwelt ab und es entstehe meist völlige Abhängigkeit.
Außerdem wird der Religionsgesellschaft vorgeworfen, einen
weitverzweigten Profitbetrieb mit umsatzstarken Verlags-, Immobilien- und
Finanzgeschäften zu unterhalten, der sich insbesondere aus der
unterbezahlten Arbeitskraft der Mitglieder finanziert.
17 Stunden pro Woche im Dienst
Für Langhals stammt die Kritik vor allem von religiösen
Konkurrenten und von Leuten, die wegen krimineller Delikte ausgeschlossen
wurden und der Gemeinschaft jetzt Böses wollen. Er hebt dagegen den
freiwilligen Einsatz seiner Schäfchen trotz aller Schmähungen
hervor. Im Durchschnitt 17,5 Stunden pro Woche würden sie für ihre
religiösen Tätigkeiten aufwenden. "Materielle Werte bedeuten uns
nichts. Wir sind ordentlich, gastfreundlich, üben uns in bescheidener
Lebensweise, rauchen nicht und fahren nicht aggressiv Auto." Allerdings: Ein
nichtrauchender, defensiver Autofahrer muß nicht zwangsläufig
Zeuge Jehovas werden.