Politische und theologische Häresie im Pluralismus der Religionen

von Wolfgang Ullmann

Religion unter den Bedingungen der Redundanz ihres Begriffes

Die Herausforderung durch neue Kulte und neue Religionen zu diagnostizieren und zu identifizieren als Herausforderung durch einen Totalitarismus, der den Zusammenbruch des Nationalsozialismus und des Kommunismus überlebt hat oder durch diese Zusammenbrüche neu belebt worden ist. Das scheint so etwas wie der leitende Gedanke und die Grundvoraussetzung für den derzeitigen Umgang mit dem Problem der neuen Religionen und Sekten zu sein.

Nicht durch die Kirchen, sondern durch die Parlamente werden wie in Frankreich und in Deutschland Enquete-Kommissionen zum Studium der die Öffentlichkeit beunruhigenden Phänomene der neuen Religionen einberufen.

Ein Parlament wie das Europäische und nicht eine kirchliche Synode verabschiedet eine Resolution über den Umgang mit Scientology und anderen durch Rechtsverletzungen in der Öffentlichkeit aller Kontinente aufgefallene religiösen Gruppenaktivitäten. Aber wo bleibt die kirchliche und die theologische Antwort auf eine solche Herausforderung?

Kann man sich zufriedengeben mit einem Hinweis auf die Arbeit der kirchlichen Sektenbeauftragten? Gewiß haben sie Beträchtliches an Aufklärung und Information geleistet und leisten es noch, und die genannten Kommissionen machen sich die Ergebnisse ihrer Arbeit dankbar zunutze. Aber kann diese Aufklärungsarbeit eine verbindliche kirchliche und theologische Antwort auf beunruhigende Erfolge der neuen Religionsstifter und -stiftungen ersetzen?

Wir betrachten diese Frage als eine rhetorische und wenden uns zunächst der auffallenden Widersprüchlichkeit zu, in der die Theologie mit Begriff und Wirklichkeit der Religion zur Zeit umgeht. Einerseits gehört das Reden über Religion schlechthin (im Sinne Schleiermachers), über Religion in der Einzahl zu den Selbstverständlichkeiten in Theologie und Religionswissenschaft der Postmoderne. "Religion ist ein Urphänomen der menschlichen Existenz, weil es dabei um Fragen nach Grund, Sinn und Grenzen menschlicher Existenz geht", heißt es in einem EKD-Memorandum zur Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Vertragswerk der Europäischen Union vom Juni 1995. Man braucht nur die Namen von Augustin, Luther und Barth in Erinnerung zu rufen, um zu signalisieren, daß dieser indifferente Begriff von Religion theologisch nichts weniger als selbstverständlich ist.

Was wir erleben, läßt sich aber andererseits mit diesem Begriff nur sehr schlecht oder gar nicht in Einklang bringen: Der offenkundige Zusammenhang von Religion und Kriminalität, Religion und terroristischer Gewalt wie im Fall der buddhistischen Aum-Sekte in Japan oder in dem des Sonnentempler-Ordens oder der erst jüngst in Erscheinung getretenen Gruppe "Heavens Gate". Beinahe alltäglich ist mittlerweile der Zusammenhang von Terrorismus und Religion in Nordirland und dem vorderen Orient bzw. überall dort, wo der islamische Terrorismus seine Opfer sucht und findet oder auch im terroristischen Christentum wie dem der Serben in Bosnien.

Die Vertreter des indifferenten Religionsbegriffes suchen mit diesem Problem fertig zu werden, indem sie es schlicht für nichtexistent erklären. In allen Fällen, denen der Sekten wie denen der großreligiösen Fundamentalisten, sei dieser Zusammenhang bloßer Schein. Religion diene dabei nur als Vorwand und Deckmantel ganz anderer politisch-ethnischer Tendenzen und Motive.

Aber diese Interpretation wird den Tatsachen gegenüber schwerlich aufrechterhalten werden können. Die religiösen Gewaltfanatiker definieren auch ihre Gegner religiös, als Abgefallene, Ungläubige, Mißachter göttlicher Gebote. Umgekehrt versuchen sie ihr offenkundig kriminelles Tun mit der Berufung auf göttliche Weisungen zu rechtfertigen, wie die israelischen Attentäter Goldstein und Amin, der Mörder Rabins. Es ist, als ob sie Kierkegaards Formel von der theologischen Suspension der Ethik durch Religion einen möglichst mörderischen Sinn unterlegen wollten.

Mit alledem aber wird eine Voraussetzung hinfällig, die seit dem Ende der Konfessionskriege im 17. Jahrhundert eine Grundüberzeugung der älteren Aufklärung war: Die Überzeugung, religiöse Konflikte gehörten einer eben damals abgeschlossenen Epoche an, weil sie allein auf inzwischen aufgeklärten Mißverständnissen beruhten. In Zukunft könne es nur noch intellektuelle und politische Auseinandersetzungen geben. Alle anderen, einschließlich der religiösen könnten auf diese beiden reduziert werden.

Mit dem Ende dieser Voraussetzung aber wird eine weitere hinfällig: die Kategorientafel der Religions- und Religionensoziologie von Max Weber und Ernst Troeltsch. Obwohl es sich um Bekanntes handelt, scheint es im Interesse unserer Überlegungen, auch die Terminologie, wie sie speziell von Troeltsch geprägt worden ist, wieder einmal in Erinnerung zur rufen. Danach waren 3 Haupttypen zu unterscheiden: - die Großkirchen, als gesellschaftlich herrschende und darum kasuistisch und kompromißethisch angepaßte Religionen; - Sekten als Vertreter eines ethisch-religiösen Rigorismus, eben darum überlebensfähig nur als Randgruppen; - Mystik, in der Religion die Form einer weithin ethisch indifferenten und darum praxislosen privaten, der individuellen Intimsphäre zugehörigen Innerlichkeit angenommen hat ("Professorenreligiösität", Religion Fausts gegenüber der Volksreligiösität Gretchens).

Sekten zu tolerieren war in diesem Rahmen und unter solchen Bedingungen niemals ein Problem; weil mit Recht vorausgesetzt werden konnte, daß sie ihrer Definition nach etwas gesellschaftlich Marginales sein mußten, agierend allein in Hinterzimmern, Konventikeln oder allenfalls an Straßenecken, wie die unermüdlich ihren "Wachtturm" feilbietenden Zeugen Jehovas.

Auf diesem Hintergrund wird der Schock verständlich, der ausgelöst wird, wenn die Sektenreligiösität plötzlich in zentrale Bereiche der Gesellschaft, womöglich gar in die Macht- und Herrschaftssphäre vorzudringen scheint wie Scientology oder die Ernsten Bibelforscher, die auf ihre Klage hin den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts zugesprochen bekommen wollen. Analog ziehen die Erfolge der Anthroposophie im Bildungssektor polemische, ja aggressive Reaktionen nach sich, die sich bis zu Hetzkampagnen des Vulgärmaterialismus steigern, z. B. im "Schwarzbuch Anthroposophie" der Gebrüder Grandt.

Umgekehrt fühlen sich auch die nicht im Zentrum der Debatte stehenden Gruppierungen wie Christian Science von der öffentlichen Polemik mitbetroffen, wie eine Intervention der letzteren beim Europäischen Parlament erst jüngst zeigte. So kann man nicht umhin, als erste Schlußfolgerung aus dieser Situation die Feststellung zu treffen: Entgegen der Voraussetzung der postmodernistischen Religionstheologie unterliegen Begriff und Realität der Religion einer kulturellen und soziologischen Redundanz, der die herkömmlichen Begriffs- und Vorstellungsmuster radikal in Frage stellt. Kein Wunder, daß diejenigen, die weiterhin mit diesen Kriterien zu hantieren versuchen, angesichts ihrer Rat- und Handlungsunfähigkeit Nervosität, ja Panikstimmung ergreift.

Der Vorschlag, in dieser Situation den Begriff der Häresie wieder aufzugreifen und neu zu durchdenken, erscheint darum gerechtfertigt. Manches deutet darauf hin, daß allein von ihm aus die theologische und auch die rechtliche Urteils- und Handlungsfähigkeit wiederhergestellt werden kann. Der soziologische Häresiebegriff des Dissidenten Die bisherige Reaktion auf die religionssoziologischen Redundanzphänomene beschränkt sich im Wesentlichen auf ihre Kennzeichnung mittels politischer oder religions-politischer Kampfbegriffe wie Totalitarismus oder Fundamentalismus.

Beiden gemeinsam aber ist eine auffallende Abstraktheit hinsichtlich der Inhalte, die sie abwehren wollen. Der Begriff des Totalitarismus orientiert sich an den politisch-ideologischen Vorbildern der KP- und NS-Diktatur, d.h. an einem offenen oder getarnten Angriff auf die Demokratie mit dem Ziel ihrer Beseitigung. Insofern handelte es sich offenkundig um auch nach den Normierungen des Grundgesetzes verfassungsfeindliche Bestrebungen, die ihre gewaltsame Unterbindung im Sinne von Art. 20 Abs. 4 GG rechtfertigen, etwa im Sinne eines Verbotsprozesses wie gegen die SRP oder die KPD.

Aber schon die Tolerierung der Neugründung der DKP und die offenkundig bisher erfolglosen Versuche der Liquidierung neonazistischer Umtriebe zeigen die Problematik eines solchen Vorgehens. Um wieviel problematischer erst würde der Versuch enden, gegen die neuen Religionen mit den Instrumenten einer antitotalitaristischen Justiz vorzugehen.

Es muß vor allem in diesem Zusammenhang drauf hingewiesen werden, daß die internationale Rechtsprechung, soweit sie erfolgreich gegen das Diktaturunrecht und seine Kriminalität in diesem Jahrhundert vorgegangen ist, niemals auf dem von der NS-Diktatur selbst benutzten Begriff der Totalität beruhte, sondern auf klar definierten Tatbeständen wie Verletzung der Menschenrechte, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen gegen den Frieden. Niemandem aber dürfte entgehen, welche Beweislasten diese Begriffe nach sich ziehen!

So liegt es offenbar näher, auf den Begriff des Fundamentalismus zurückzugreifen, der selbst der neuzeitlichen Religionsgeschichte angehört und am Anfang des Jahrhunderts (1910) unter dem Titel "The Fundamentals" als antimodernistische Kampflosung in den USA aufkam, bis heute dort auch weiterlebt und zur Zeit wohl eher an Boden gewinnt als verliert, als Konsequenz der unbestritten wirksamen Religionsfreiheit in den USA.

Nun ist dem Begriff des Fundamentalismus freilich das genaue Gegenteil dessen widerfahren, was wir am Totalitarismus beobachtet haben. Wurde und wird der letztere aus der politischen in die religiöse Sphäre übertragen, so der Fundamentalismus aus der religiösen in die politische, wie es mit allen terroristischen Konsequenzen vor allem aber nicht nur der schiitische Islamismus tut.

So sehr diese faktische Identifikation die begriffliche zu rechtfertigen scheint: Es sollte nie vergessen werden, daß sie in jedem Fall zu einer Verwicklung mit der Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit, d.h. mit einem Kernartikel der modernen Demokratie, führt. Man darf das nicht leicht nehmen. Unser Jahrhundert und besonders die Geschichte der DDR hat uns gelehrt, wohin man kommt, wenn im Kampf gegen die Diktatur und unter dem Zwang der Waffengleichheit die Demokratie auf eine Weise verteidigt wird, die ihrer Aushöhlung und am Ende ihrer Abschaffung gleichkommt. Aber versuchen wir zunächst einmal, den rechtlichen Kern der polemischen Klassifizierungen "Totalitarismus" und "Fundamentalismus" zu ermitteln. Dann scheint es am sinnvollsten, in ihnen einen Verstoß gegen das zu sehen, was in Art. 2 Abs. 1 GG "das Sittengesetz" genannt wird. Ein in der Rechtssprache geläufiger Begriff der auch sonst, etwa im Europäischen Patentübereinkommen als Verstoß "gegen die guten Sitten" oder als "Sittenwidrigkeit" im Vertragsrecht des BGB auftritt. Aber gerade die Selbstverständlichkeit im Gebrauch dieser Terminologie signalisiert das Problem: Beim Verweis auf das Sittengesetz handelt es sich um Bezugnahme auf eine überpositive Norm, die nur solange rechtlich wirksam sein kann, wie ein ihr entsprechender Auslegungskonsens vorausgesetzt werden kann. Wie wenig das aber im derzeitigen kulturellen Pluralismus der Fall ist, das haben gerade die Auseinandersetzungen um jenen Passus des europäischen Patentrechts im Zusammenhang mit der Gentechnologie ins hellste Licht gesetzt!

Was im Bereich der Philosophie und der Theologie längst geschehen war, sozusagen nur auf den Kathedern und nur in Büchern, entfaltet mittlerweile seine Wirkungen im Alltag des Rechtsdenkens und der Gesetzgebung: der Zusammenbruch des naturrechtlichen Ptolemäismus, wie er wohl nirgendwo klassischer ausgeprägt werden ist als in Thomas von Aquinos Summa Theologiae (S Th I,II qu. 90-97): der Mensch, umgeben von einem göttlich geordneten Gesetzeskosmos, determiniert durch die Zentral- und Rahmennorm der lex aeterna, die er nur auf sich, sein individuelles und kollektives Handeln, zu applizieren braucht, um einen unfehlbaren Kompaß zum allgemeinen Guten zu finden.

Das ist mit unserer Wirklichkeitserfahrung nicht mehr in Einklang zu bringen. Unsere Wirklichkeitserfahrung ist die eines dissipativen, nicht eines konservativen Systems, einer Wirklichkeit des Miteinanderlebens von Mitgeschöpfen eigner Kreativität, wie es seit Luther, Pascal, Leibniz, Kant, Planck und Einstein einen Grad von Selbstverständlichkeit erlangt hat, der jeden Rückweg in eine Metaphysik des Gesetzespositivismus ein für allemal abschneidet.

Um so dringlicher ist eine Erinnerung an den Ursprung des soziologischen Häresiebegriffes aus einer theologischen Aporie, die Einführung des Dissidentenbegriffes gleichzeitig mit der Entstehung der Inquisition. Es ist das 4. Laterankonzil von 1215 gewesen, das im Kanon 3 seiner Beschlüsse folgendes festgelegt hat: "... daß, wer ebendort Wissen über Häretiker erlangt hat oder über irgendwelche Leute, die geheime Versammlungen begehen oder vom gemeinsamen Leben der Gläubigen den Lebensgewohnheiten und den Sitten nach abweichen (dissidentes), .... der möge sie dem Bischof anzeigen". Jedes Schulkind weiß, daß diese Bestimmungen eines der düstersten Kapitel der europäischen Kirchengeschichte einleiten, mit Folgen, die in ganz Südeuropa noch heute zu spüren sind bis nach Bosnien!

Für unseren Zusammenhang aber ist zweierlei wichtig. Die Tatsache, daß Häresie hier rein politisch und soziologisch, als Abweichlertum definiert ist, ohne jede inhaltliche theologische Begründung: Häretiker ist schlechthin der, der mit der herrschenden Religion nicht übereinstimmt. Das Zweite sind die schwerwiegenden Rechtsfolgen dieser Häresiedefinition, die religiöse Macht mit allen Instrumenten der politischen ausstattet und damit zu einer erschrekkenden Vorwegnahme all dessen gelangt, was wir in unserem Jahrhundert als "totalitär" zu bezeichnen gewohnt sind - bis hin zur Installation eines ausgedehnten Spitzelwesens, mit allen demoralisierenden Folgen eines solchen. Und alle, die heute geneigt sind, die Lösung religiöser Probleme durch politische Macht zu erzwingen, sollten dieser Erinnerung eingedenk bleiben: Auch die Inquisition war eine Defensivstrategie, die Defensivstrategie einer Kirche, die dem Auftreten des Neomanichäismus in Südeuropa keine theologisch überzeugenden Argumente entgegenzusetzen hatte trotz aller Bemühungen des Heiligen Dominicus und seiner Nachfolger bis zu dem großen Thomas von Aquino!

Vom soziologischen zum theologischen Häresiebegriff

Es war nur die Anwendung jener oben wiedergegebenen Meinung von der Obsoletheit aller Religionsstreitigkeiten unter den Bedingungen der historischen Aufklärung, der den theologischen Liberalismus zu der besonders eindrucksvoll von Harnack vertretenen Überzeugung führte, der theologische Begriff der Häresie sei dort grundsätzlich überflüssig, wo theologische oder religiöse Meinungsverschiedenheiten sich in jedem Fall durch historische Forschung auf widerlegbare Irrtümer reduzieren lassen. Freilich widersprach die Kirchengeschichte alsbald dieser These. 1872 verurteilte eine Konstantinopeler Lokalsynode den Phyletismus, d.h. die Lehre, die Verfassung der Kirche müsse sich nach Grenzen der Nationen richten. 1901 wurde Tolstois Auffassung der Lehre Christi von dem Metropoliten von St. Petersburg als häretisch verworfen. 1934 tat die Bekenntnissynode das Gleiche gegenüber der Geschichtstheologie der Deutschen Christen, und 1948 bzw. 1961 stellten Vollversammlungen des Ökumenischen Rates fest, daß Basis der kirchlichen Einigung nicht irgendwelche Strategien der Kirchen, sondern einzig und allein das Christusbekenntnis und das Bekenntnis zur Dreieinigkeit Gottes sein könnte.

Aber in eigentlich allen Fällen haben die Kirchen diese Häresieurteile ignoriert. Der Phyletismus ist mittlerweile zwar nicht herrschende Lehre, aber jedenfalls herrschende Praxis der sich unentwegt um ihre Jurisdiktionsgebiete streitenden orthodoxen Kirchen. Eine tolstoianische Jesusreligion, d. h. ein Moralismus einmal der mehr intellektualischen, ein andermal der mehr psychologistischen Spielart, ist so etwas wie die Durchschnittspredigt aller westlichen Kirchen geworden. Die deutsch-christliche Irrlehre lebt weiter in allen progressiven oder konservativen Kulturtheologien. Kein Wunder, wenn die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) schon 1947 erklärte, Barmen habe lediglich ekkesiologische, aber keine dogmatische Bedeutung. Die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates und auch die Römisch-Katholische Kirche haben im letzten Jahrzehnt alles getan, um unter Beweis zu stellen, daß ihnen ihr jeweiliges Amtsverständnis um ein Vielfaches wichtiger ist als die Gemeinsamkeit des Christus- und des Dreieinigkeitsbekenntnisses. Aber daß ein theologischer Häresiebegriff unumgänglich ist, zeigt schon der Vorwurf von Satansgedanken, den Jesus gegen Petrus erhebt (Mt. 16,23), ebenso wie die berühmte Anathemaformel des Paulus am Anfang des Galaterbriefes (Gal. 1.9).

Aber Häresie ist nicht nur ein theologischer, sondern auch ein kirchenrechtlicher Begriff. Selbst in Bethges Bonhoefferbiografie zittert noch etwas von dem Unwillen, ja dem Entsetzen nach, das Bonhoeffer auslöste, als er in seinem Aufsatz "Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft" 1936 diese einfache Wahrheit wieder einmal aussprach. Wies er damit doch darauf hin, daß alles Kirchenrecht seinem Wesen nach nicht Institutionenrecht, sondern Sakramentsrecht ist. Darum hat das kirchenrechtliche Häresieurteil seine doppelte Basis in Taufe und Herrenmahl. In der Taufe vollzieht der Täufling zusammen mit dem Taufenden und der Gemeinde die Absage an alles, was Götzendienst, Aberglaube und insofern eine Verleugnung des Ersten Gebotes ist. Analog das Herrenmahl. An ihm teilnehmen kann nur, wer getauft ist und darum jene Absage an allen Götzendienst einschließlich der Vergehen gegen den Nächsten vollzogen hat, und darum durch nichts mehr vom Vollzug der Gottes- und Nächstenliebe abgehalten wird.

Natürlich kann jederzeit der Fall eintreten, daß diese Absage als Häresieurteil der Kirche im Ganzen öffentlich vollzogen werden muß. Das kann unter Umständen schon durch eine einzelne Gemeinde geschehen, muß aber auf jeden Fall der Gemeinschaft der Gemeinden, d. h. der Synode zur Prüfung und Rezeption vorgelegt werden. Eine solche Gemeinde- und Synodalentscheidung kann sich zwar auf Expertengutachten stützen, ist aber durch ein solches nie ersetzbar.

Die Sektenbeauftragten der Kirchen sollten darum nicht müde werden, ihre Kirchen daran zu erinnern, daß ihre Informations- und Aufklärungsarbeit das theologische Urteil der Kirche, ihrer Gemeinden und Synoden nicht ersetzen kann.

Allein aus dem oben über Taufe und Herrenmahl Gesagten ergibt sich zwingend, daß für den Christen die Teilnahme an satanistischen Kulthandlungen der Verleugnung seines Glaubens und dem Totalverlust seiner Glaubens- und Gewissensfreiheit gleichkäme. Warum wird das nicht wenigstens gepredigt und gelehrt? Genau so klar verhält es sich mit Scientology. Entscheidend für das theologische Urteil ist nicht die Frage, ob Scientology eine Religion ist oder nicht. Theologisch entscheidend ist vielmehr, daß zu den Grundvoraussetzungen von Scientology die Aufhebung der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf und die Umdeutung des Kreuzes zu einem menschlichen Allmachtssymbol gehört. Wer sich an beidem beteiligt, verleugnet seinen christlichen Glauben auf eine Weise, die es ihm verbietet, je wieder zu ihm zurückzufinden.

Warum beteiligen sich Theologen an dem sinnlosen, weil unentscheidbaren Streit über den Religionscharakter von Scientology, statt die obigen Klarstellungen zu vollziehen? Fürchten sie etwa wie die Leser von Bonhoeffers Artikel in den 30er Jahren, daß diese Klarstellung auch Schlaglichter auf ganz andere Unklarheiten der kirchlichen Praxis wirft als nur die gegenüber der Scientology?

Denn eines kann man jetzt schon feststellen: Eine wirklich theologische Auseinandersetzung mit der neuen Soziologie der Religionen erfordert eine erhebliche theologische Aufräumungsarbeit. Sie müßte z. B. darauf eingehen, daß es auch im protestantischen Bereich einen Sieg der politischen Häresiedefinition über die theologische gegeben hat seit Luther 1522/1524 den Begriff des "Schwärmertums" prägte und damit so etwas wie die kirchliche Verurteilung rebellischer Gewalt aufgrund religiösen Subjektivismus (Luther gegen den Wittenberger Bildersturm und gegen Müntzer) auf die Bahn brachte.

Der gleiche Übergang vom theologischen zum politischen Häresiebegriff hat sehr zum Schaden der Sache sogar Eingang gefunden in die Theologische Erklärung von Barmen. Es ist just die Verurteilung des Totalitarismus, in der dieser schwerwiegende Schritt getan wird. Bekanntlich wird dort die "falsche Lehre" verurteilt; "der Staat sei die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens". Gerade diese - wohl die meistzitierte und wirksamste aller Barmer Verwerfungen! - erliegt der Tücke des NS-Begriffes "Totalität" und seiner notorischen Abstraktheit. Er mußte sich schon deswegen als unbrauchbar erweisen, weil die Nazis mit ihm gerade nicht die Staatsallmacht, sondern die Totalität ihrer Bewegung und der von ihr repräsentierten Herrenrasse meinten.

Daß die Kirchen trotz der offenbargewordenen Märtyrerzeugnisse wie der der "Weißen Rose", Moltkes, Bonhoeffers und der russischen Märtyrer, im Ganzen beiden Diktaturen gegenüber sich schwach bis zur offenen Kollaboration erwiesen, hängt nicht nur mit ihrem Versagen in der Judenfrage zusammen. Es basiert vielmehr zuallererst auf dem Versuch, die Bereiche von Staat und Kirche möglichst wirksam abzugrenzen und Totalitätsansprüchen des ersteren entgegenzutreten. Aber es wird niemals gelingen, sich von der Häresie mit deren eigenen Begriffen abzugrenzen. Im Gegenteil! Soweit wie diese Begriffe aufgegriffen werden, ist der Abgrenzungsversuch schon gescheitert, der Häresie der Einbruch ins eigene Terrain gelungen. Letztenendes ist genau diese Gefahr es, derentwegen der theologische Häresiebegriff unumgänglich ist. Denn er ist kein Abgrenzungsversuch, sondern die effektive Absage an "Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten" (Barmen I), die sich an Gottes Stelle setzen und damit den Menschen seiner Freiheit berauben wollen.

Häresie als Rechtsfrage

Was aber sind die rechtlichen Konsequenzen der hier geforderten theologischen Präzisierung? Die Antwort kann in einem Satz gegeben werden. Die Konsolidierung der Glaubens- und Gewissensfreiheit als oberste und regierende Norm dieses Grundrechtsbereiches.

Um es verfassungsrechtlich auszudrükken: Der Weg, der vom Art. 135 der Weimarer Reichsverfassung als Teil des Rechtes der Religionsgemeinschaften zum selbständigen Art. 4 des Grundgesetzes geführt hat, wird nicht nur bestätigt, sondern weitergeführt. Denn der theologische Häresiebegriff dient nicht dazu - wie schon Bonhoeffer in jener oben zitierten Abhandlung ausgeführt hat - festzulegen, wer zur Kirche gehört und wer nicht, sondern dazu, durch den Vollzug der Absage an falsche Lehre und Unwahrheit dem bzw. der Einzelnen die Verantwortung für seine bzw. ihre eigene Gewissensentscheidung zu übertragen und einzuschärfen. Man muß wissen, was die Entscheidung für die eine oder die andere Alternative nach sich zieht.

Das heißt aber zugleich, daß Glaubens- und Gewissensfreiheit, auch wenn sie einzeln oder mit anderen zusammen wahrgenommen werden kann, im striktesten Sinn als Individualrecht verstanden und behandelt werden muß.

Man kann nicht deutlich genug warnen vor der heimlichen oder offenen Transformation dieses Individualrechtes in ein Kollektivrecht der Religionsgemeinschaften, wie sie z. B. in der öffentlichen, besonders der kirchlichen Polemik gegen das Kruzifixusurteil des Bundesverfassungsgerichtes zu Tage trat.

Was sich in dieser Kollektivierung andeutet, ist nicht nur eine Transformation, sondern eine Liquidation dieses Grundrechtes. Gewissensfreiheit basiert historisch auf Glaubensfreiheit. Sie kann aber nicht auf Glaubensfreiheit reduziert werden und darum auch unter keinen Umständen auf Religionsfreiheit. Nicht ohne Grund wird Glaubensfreiheit immer aufs Neue zum Prüfstein des Vorhandenseins und der Gewährleistung von Gewissensfreiheit. So ist schon die Menschenrechtserklärung von 1948 individualrechtlich ausgestaltet als Reaktion auf die kolletivistischen Diktaturen unseres Jahrhunderts. Aber auch für den christlichen Glauben geht es hier um Essentielles. Die klassischen Bekenntnisformulierungen bedienen sich der Ichform und auch die Taufformel kann nur lauten: "Ich taufe dich", niemals "Wir taufen dich". Wer das als Individualismus denunziert, hat noch nicht verstanden, daß Glauben immer nur ein individueller Vorgang sein kann, wie es am eindringlichsten in dem neutestamentlichen Ausruf des Vaters des Epileptischen "Ich glaube! Herr, hilf meinem Unglauben" zum Ausdruck kommt. Das muß so sein, weil die Gottesebenbildlichkeit jedem einzelnen Menschen zukommt, ja mit ihm identisch ist, wie Augustin in seinem Monumentalwerk über die Dreieinigkeit dargelegt hat.

Darum muß die Anwendung des Dissidentenschemas, des politischen Häresiebegriffes immer verfassungsrechtlich bedenklich oder eindeutig verfassungswidrig sein. Das gilt auch, so ungern das zur Zeit gehört wird, gegenüber Scientology. Es muß in jedem einzelnen Fall geprüft werden, ob der Organisation kriminelles oder verfassungswidriges Handeln vorgeworfen und nachgewiesen werden kann.

Das sollte freilich auch geprüft werden. Dabei wird man aber an einer Tatsache nicht vorbeikommen: Daß in den Auseinandersetzungen um Scientology zwei staatskirchenrechtliche Systeme aufeinanderstoßen, die miteinander unvereinbar sind, das der USA, in dem der öffentlichen Gewalt jede Gesetzgebungskompetenz in Religionssachen abgesprochen wird (1. Amendment der USA-Verfassung) und das des Artikels 140 des Grundgesetzes, in dem die Regelungen der Kirchenprivilegien aus den Zeiten des kollegialistischen d. h. vordemokratischen Staatskirchenrechtes fortgeschrieben werden. Das hat zur Folge: In unserem Lande werden die Auseinandersetzungen um den Status religiöser Gruppierungen noch immer nach einem Paradigma ausgetragen, das seine klassische Formulierung im Allgemeinen Preußischen Landrecht vom Ende des 18. Jahrhunderts gefunden hat.

Nach Titel 11 dieses Gesetzeswerkes sind alle Religionsgesellschaften einzuteilen in unerlaubte (§§14- 15), privilegierte (§§17 - 19) und geduldete (§§20 - 26).

Aber dieses Schema ist nicht nur deswegen antiquiert, weil es aus einer autoritären Privilegienordnung stammt. Es ist antiquiert auch aus der Sicht der Kirche. Denn wenn sie etwas in der Auseinandersetzung mit dem Nationalismus und Totalitarismus dieser Epoche gelernt hat, dann dies, daß sie keine Religionsgesellschaft, sondern eine ökumenische Lebensgemeinschaft ist.

Im umgekehrten Sinne gilt das auch von Scientology. Weder ist sie in ihrer Gestalt als weltweit aktive Hierarchie ein "Kollegium" im Sinne des aufklärerischen Vereinsrechtes, noch gibt es einen anderen soziologischen oder öffentlich-rechtlichen Begriff unter dem sie mit der Kirche zusammengefaßt werden könnte, obwohl sie aus durchsichtigen Gründen den Titel derselben für sich beansprucht.

Daß das ein Argument mehr ist für die Beendigung des Zustandes der unvollständigen ("hinkenden") Trennung von Staat und Kirche, braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Aber es ist nicht schwer zu prophezeien: Wer das alte System aus statusrechtlichen Gründen verteidigt, wird den Kampf nach jeder Seite verlieren.

Ein Problem, das in Gestalt der neuen Religionen unsere Gesellschaft herausfordert, ist damit freilich keineswegs gelöst, ja noch nicht einmal präzise formuliert: das der Menschenund Grundrechtsverletzungen nicht durch den Staat, sondern in dem durch Grundrechtsgarantie geschützten Privatbereich (Art. 2 und 4 GG).

Eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Abhilfe dürfte niemals den Weg der sukzessiven Einschränkung dieser Grundfreiheiten gehen, wie es leider in der Auseinandersetzung mit der mafiosen Kriminalität versucht wird.

Ein Vorschlag scheint indessen schon jetzt denkbar. Es könnte ein dem Parlament zugeordneter Ombudsmann oder eine Ombudsfrau mit einer besonderen Zuständigkeit für die Wahrung der Rechte von Art. 2 und Art. 4 GG durch Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften berufen werden. Auf diese Weise könnte eine öffentliche Instanz geschaffen werden, an die sich Opfer von Repressalien wenden könnten, wobei aber gleichzeitig Vertraulichkeit und doch öffentlicher Schutz gewährleistet wäre.

Niemandem wird entgangen sein, wie groß in dem hier diskutierten Bereich der Bedarf an weiterer theologischer, juristischer, soziologischer Forschung noch ist.

Dennoch besteht kein Grund resigniert in den derzeitigen Aporien zu verharren. Die Rechtsgrundlagen öffentlichen Reagierens sind vorhanden: UNO-Menschenrechtsdeklaration, die Pakte für politische, soziale und kulturelle Rechte sowie die Übereinkünfte des Helsinkiprozesses über die menschliche Dimension; der Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention über Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; nicht zuletzt das kostbare Gut der Individualnorm des Art. 4 GG.

Die Kirchen gerade sind es, die in diesem Bereich eine besondere Verantwortung dafür haben, allen Versuchen seiner kollektivistischen Aufweichung oder Abschwächung entgegenzutreten.

Wie aber sollen sie diese Verantwortung wahrnehmen? Das wird sich angesichts der Komplexheit der Situation schwerlich auf eine einzige Maßregel reduzieren lassen. Aber eine Warnung, was die Kirche auf keinen Fall tun sollte, soll doch am Ende nicht unausgesprochen bleiben.

Gleicht der Durchschnittsmensch auf dem Areopag der heutigen religiösen Auseinandersetzungen nicht in mancher Hinsicht dem von Lemuren und dämonischen Scheusalen hin- und hergezogenen Heiligen Antonius auf Grünewalds Isenheimer Altarbild? Freilich besteht ein bemerkenswerter Unterschied: Was dem Heiligen Antonius in der Wüste widerfährt, findet heutzutage statt auf den überfluteten Straßen und Plätzen der Metropolen aller Kontinente. Aber eins ist unserem Lemurenüberfall mit dem des Grünewald-Bildes gemeinsam: Gegen solche Überfalle hat es keinen Zweck, nach der Polizei zu rufen. In der Wüste gibt es keine Polizei und in unseren Großstädten kann sie gegen die Übermacht des Aberglaubens und der modischen Götzendienste nichts ausrichten.

Darum machte sich die Kirche, wenn sie unter solchen Umständen nichts besseres zu tun wüßte, als nach der Polizei zu rufen, nicht nur lächerlich. Sie verleugnete ihren Auftrag, auch dort den Beweis des Geistes und der Kraft zu führen, wo ihr das nicht Ruhm und Beifall, sondern offene Feindschaft einbringt.


Dr. Wolfgang Ullmann, 68,
Mitglied des Europäischen Parlamentes für Bündnis90/Die Grünen