Was darf der Staat, was sollen die Kirchen tun?

von Eduard Trenkel

DEBATTE

Totalitäre Gruppierungen, die unter dem Deckmantel von Religion oder Weltanschauung ihre machtpolitischen Ansprüche geltend machen, stellen eine neue Herausforderung für Gesellschaft, Staat und Kirche dar. Wie sehr muß sich die Politik mit extremen "Sekten" und "Cults" befassen? Wie stark muß sich die Kirche in der Auseinandersetzung mit (politischen) totalitären Bewegungen engagieren? "Politik - Totalitarismus - Psychokulte" - unter diesem Thema stand darum die diesjährige Dialog Akademie der Konsultation Landeskirchlicher Beauftragter (KLB) in Wildbad Rothenburg o.T. für Verantwortliche aus Politik und Kirchen. Unter dieser Fragestellung referierten in Rothenburg u.a. Prof. Dr. Abel, Sachverständiges Mitglied der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages, Prof. Dvorkin, Leiter des St.-Irenäus-Zentrums Moskau, Prof. Dr. Ullmann, Mitglied des Europaparlaments, Diakon Ingolf Christiansen Göttingen, Sachverständiges Mitglied der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages und Staatsminister Dr. Günther Beckstein, Innenminister des Freistaates Bayern. Wir haben Prof. Ullmann gebeten, sein Referat als Grundsatzbeitrag für den BERLINER DIALOG auszuarbeiten. Staatsminister Dr. Beckstein haben wir gebeten, besonders seine Erwartungen an die Kirchen zu formulieren. Der Geschäftsführer der KLB, Pfr. Eduard Trenkel, faßt einleitend die Diskussion zum Thema "Was darf der Staat, was sollen die Kirchen tun?" zusammen und markiert die offenen Fragen. Die Redaktion dankt den Beteiligten für die anregende Mitarbeit. - Red.

Was darf der Staat, was sollen die Kirchen tun?

In der öffentlichen Auseinandersetzung mit Sekten, neureligiösen Bewegungen und Psychoorganisationen hat sich in den letzten Monaten Erstaunliches ereignet: In den vergangenen Jahren sahen sich kirchliche Sektenbeauftragte, Betroffene und Elterninitiativen oft hilflos der Anforderung nach Informationen, Aufklärung und Beratung gegenübergestellt. Immer wieder forderten sie den Staat auf, sich den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen, die aus dem Wirken der Sekten, neureligiösen Bewegungen und Psychoorganisationen für den Einzelnen, seine Familie und in der Folge für die Gesamtgesellschaft erwachsen, zu stellen. Über lange Zeit blieben diese Appelle weitgehend ungehört.

Hohe Erwartungen an staatliches Handeln

Fast euphorisch wurde dann in der Betroffenenszene die Berufung staatlicher Sektenbeauftrager auf Länderebene und schließlich die Einberufung der Enquetekommission "Sogenannte Sekten und Psychoorganisationen" begrüßt. Die Anfangsbegeisterung hat sich gelegt und bei manchen hat sich gar Resignation eingestellt. Zu groß waren die Erwartungen an schnelles staatliches Handeln angesichts der persönlich verspürten Bedrohung durch die Gruppierungen.

Realistische Einschätzungen

Viele kirchliche Beobachter hatten demgegenüber nichts anderes erwartet. Der Staat in seiner Neutralitätspflicht ist gut beraten, nicht vorschnelle Beurteilungen vorzunehmen, die dann rechtlich keinen Bestand haben. So wundert es nicht, weil eigentlich selbstverständlich, daß die Diskussionen in der Enquetekommission im wesentlichen eben auf politischer und juristischer Ebene geführt werden. Bei aller möglichen Kritik ist mindestens eines durch die staatliche Auseinandersetzungsebene erreicht: Das öffentliche Interesse hat zugenommen und die Sensibilisierung der Bürger für die Bedrohung durch pseudoreligiöse Gruppierungen ist gestiegen. Nicht zuletzt die aggressive Polemik der Gruppen gegen die Enquetekommission im ganzen und gegenüber einzelnen Mitgliedern der Enquetekommission, wie auch gegenüber den Politikern, die sich auf Länderebene des Problems angenommen haben, lassen darauf schließen, daß diese Form der politischen Auseinandersetzung wichtig und den Gruppen ein Dorn im Auge ist.

Soll sich Kirche lieber heraushalten?

Um so seltsamer mutet es an, wenn in bestimmten Zusammenhängen von bestimmten Mitgliedern der Enquetekommission gefordert wird, die Kirchen sollten sich aus der Diskussion "heraushalten". Dieser manchmal nicht nur gut gemeinte Ratschlag, der unter Hinweis auf die angebliche Befangenheit der Kirchen gegeben wird, greift ungeniert Argumentationen auf, wie sie bislang von den Kulten und problematischen Gruppen selbst ins Gespräch gebracht wurden. Dagegen muß zurückgefragt werden: Stehen nicht gerade Politiker sehr wohl unter dem Zwang, die Popularität ihrer Aussagen im Auge haben zu müssen? Und, peinlicher, sind nicht auch bestimmte Sachverständige bisher mehr durch ihre durchaus ehrenwerte - Lobbyarbeit für berufsständische Interessen als durch profunde Sachbeiträge hervorgetreten?

Politiker fordern apologetisches Handeln der Kirchen

Angesichts der, bisher unwidersprochenen "Ratschläge" und Stimmungen, die Kirchen mögen sich zurückhalten, erstaunt es um so mehr, daß sich nun zwei Politiker sehr unterschiedlicher Couleur zu Wort melden, um ausdrücklich ein apologetisches Handeln der Kirchen einzufordern. Beide sind engagierte Christen, der eine Theologe, der andere Synodaler. Und beide haben sich in ihrer politischen Funktion bereits mutig gegen die Selbstansprüche der Scientology-Organisation gewehrt. Während der bayerische Innenminister Dr. Günther Beckstein kirchliche Apologetik als ureigene kirchliche Aufgabe zum Schutze der Gewissensfreiheit und als unverzichtbare Ergänzung staatlichen Handelns im Rahmen der staatlichen Fürsorgepflicht gegenüber den Bürgern ansieht, fordert Professor Wolfgang Ullmann sogar die Wiedergewinnung eines theologischen Häresiebegriffs durch die Kirchen und damit die Neugewinnung von Kategorien zur Unterscheidung wie Verantwortung und Verbindlichkeit.

"Religiöse Verbraucherberatung" oder "Dialog & Apologetik"?

Gemeinsam ist beiden Politiker-Voten, daß sie gegen den Chor der vielen gegenteiligen Stimmen die Kirchen auffordern, ihren Platz im Streit der Meinungen wieder einzunehmen, den sie zu besetzen haben, wollen sie nicht ihren ureigenen Auftrag vernachlässigen. Professor Ullmann mahnt zu Recht, daß Aufklärungsarbeit als kirchliche Antwort nicht ausreicht, um den Herausforderungen der religiösen und weltanschaulichen Szene gerecht zu werden. Ullmann ist deshalb Recht zu geben, weil ja z.B. tatsächlich verantwortliche kirchliche Mitarbeiter ihren Dienst öffentlich als "religiöse Verbraucherberatung" abwerteten, wie es erst jüngst da und dort geschehen ist. Es waren jedoch gerade die kirchlichen Sektenbeauftragten, die den Verzicht auf kirchliche Apologetik kritisiert und ihm die Formel von "Dialog und Apologetik" entgegenstellt haben. Es heißt deshalb an dieser Stelle fast Eulen nach Athen zu tragen, wenn betont wird, daß sich die meisten kirchlichen Sektenbeauftragten keineswegs auf Informationsarbeit beschränken, sondern ihren Dienst wesentlich als pastorale und apologetische Aufgabe verstehen.

Offene Fragen

Vieles besticht an der historischen Analyse, die Professor Ullmann in seinem Beitrag (S. 28 ff.) vornimmt. Dennoch bleiben Fragen offen:
  1. Warum sollte der Begriff des "Totalitarismus" zur Beschreibung der Ideologie und Struktur einer Organisation wie der SO untauglich sein? Muß nicht gerade deshalb, weil sich dieser Begriff "orientiert an den politisch-ideologischen Vorbildern der KP- und NS-Diktatur" der Vergleich gezogen werden, wenn einzig die propagierte SO-Technologie "zum Wohle aller" mit allen Mitteln durchgesetzt werden soll ("1. Gegenabsichten entfernen. Ist das erreicht: 2. Fremdabsichten entfernen")?
  2. Ist es nicht geradezu als Perfektionierung des totalitären Anspruchs und der totalitären Methoden anzusehen, wenn zum Erreichen dieses Zieles manipulative Psychotechniken angewandt werden, die die Selbststeuerungsfähigkeit aufheben?
  3. Könnte es nicht sein, daß gerade hierdurch die grundgesetzlich garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit aufgehoben wird, weil ein selbstverantworteter Glaubensvollzug ausgeschlossen wird und eine eigene Glaubensentscheidung methodisch verhindert wird?
  4. Müßte nicht gerade ein solches Vorgehen zur Abschaffung der Glaubens- und Gewissensfreiheit als totalitäre Bedrohung nicht nur für den Einzelnen betrachtet werden und vom Staat zur Verteidigung seiner eigenen Grundlagen, deren Kern doch die Glaubens- und Gewissensfreiheit bildet, verhindert werden?

Glaubens- und Gewissenfreiheit für alle schützen und erhalten

Die hierzu notwendigen sachlichen und wissenschaftlichen Untersuchungen, einschließlich der Untersuchung der in den Gruppen angewandten Methoden, müssen konsequent fortgeführt werden, um die vorliegenden Verdachtsmomente zu verifizieren oder zu falsifizieren. Hierin kann, auch wenn die Gruppen dies lautstark behaupten, kein Eingriff in Grundrechte gesehen werden. Es geht hierbei keineswegs darum, mangelnde Übereinstimmung mit dem religiösen oder gesellschaftlichen mainstream zu be- und verurteilen, sondern um den Schutz vor Freiheit einschränkender Manipulation, um die Verteidigung der mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit errungenen Bürgerfreiheit, die u.a. darin besteht, auch künftig mit dem religiösen und gesellschaftlichen mainstream nicht übereinstimmen zu müssen.

Ruf zur persönlichen Entscheidung und öffentliche Kritik an Ideologie- und Machtvergötzung

Die Kirchen sind in besonderer Weise gefordert, sich mit den Ideologien und Lehren auseinanderzusetzen. Dabei wird die Praxis aber nicht aus dem Blick geraten dürfen, versteht sich Apologetik als pastoraler Dienst. Aus seelsorgerlicher Einsicht muß deshalb festgehalten werden: Das Häresieurteil gegenüber dem Einzelnen, das Ullmann einfordert, kann nur da gesprochen werden, wo Aberglaube und Götzendienst in freier Entscheidung gewählt wurden und bewußt vollzogen werden. Im Rahmen einer "apologetischen Diakonie" (Friedrich-Wilhelm Haack) darf aber auch das "Böse in den Strukturen" nicht unbeachtet bleiben. Offen formulierte Machtansprüche sind ebenso wie die schleichenden Wirksamkeiten und unabsichtlichen Folgen der Methoden im Lichte der Aussagen des Evangeliums zu sehen und zu kritisieren. Das deutliche Urteil über Menschenverachtung, Leistungsvergötzung und Selbstvergottung in Ideologien, Strukturen und Methoden der Gruppen, gehört zum Auftrag der Kirche selbst. Sie kann es nicht delegieren weder an kirchliche Beauftragte noch an staatliche Kommissionen. Die Bischöfe und die Synoden selbst sind in der Verantwortung.


Pfr. Eduard Trenkel, 46,
ist der Beauftragte der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck für Sekten- und Weltanschauungsfragen. Er amtiert außerdem als Geschäftsführer der KLB.