DEBATTE
Totalitäre Gruppierungen, die unter dem Deckmantel von
Religion oder Weltanschauung ihre machtpolitischen Ansprüche geltend
machen, stellen eine neue Herausforderung für Gesellschaft, Staat und
Kirche dar. Wie sehr muß sich die Politik mit extremen "Sekten" und
"Cults" befassen? Wie stark muß sich die Kirche in der
Auseinandersetzung mit (politischen) totalitären Bewegungen
engagieren? "Politik - Totalitarismus - Psychokulte" - unter diesem Thema
stand darum die diesjährige Dialog Akademie der Konsultation
Landeskirchlicher Beauftragter (KLB) in Wildbad Rothenburg o.T. für
Verantwortliche aus Politik und Kirchen. Unter dieser Fragestellung
referierten in Rothenburg u.a. Prof. Dr. Abel, Sachverständiges
Mitglied der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages, Prof. Dvorkin,
Leiter des St.-Irenäus-Zentrums Moskau, Prof. Dr. Ullmann, Mitglied des
Europaparlaments, Diakon Ingolf Christiansen Göttingen,
Sachverständiges Mitglied der EnqueteKommission des Deutschen
Bundestages und Staatsminister Dr. Günther Beckstein, Innenminister des
Freistaates Bayern. Wir haben Prof. Ullmann gebeten, sein Referat als
Grundsatzbeitrag für den BERLINER DIALOG auszuarbeiten. Staatsminister
Dr. Beckstein haben wir gebeten, besonders seine Erwartungen an die Kirchen
zu formulieren. Der Geschäftsführer der KLB, Pfr. Eduard Trenkel,
faßt einleitend die Diskussion zum Thema "Was darf der Staat, was
sollen die Kirchen tun?" zusammen und markiert die offenen Fragen. Die
Redaktion dankt den Beteiligten für die anregende Mitarbeit. - Red.
Was darf der Staat, was sollen die Kirchen tun?
In der öffentlichen Auseinandersetzung mit Sekten, neureligiösen
Bewegungen und Psychoorganisationen hat sich in den letzten Monaten
Erstaunliches ereignet: In den vergangenen Jahren sahen sich kirchliche
Sektenbeauftragte, Betroffene und Elterninitiativen oft hilflos der
Anforderung nach Informationen, Aufklärung und Beratung
gegenübergestellt. Immer wieder forderten sie den Staat auf, sich den
sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen, die aus dem Wirken der
Sekten, neureligiösen Bewegungen und Psychoorganisationen für den
Einzelnen, seine Familie und in der Folge für die Gesamtgesellschaft
erwachsen, zu stellen. Über lange Zeit blieben diese Appelle weitgehend
ungehört.
Hohe Erwartungen an staatliches Handeln
Fast euphorisch wurde dann in der Betroffenenszene die Berufung staatlicher
Sektenbeauftrager auf Länderebene und schließlich die Einberufung
der Enquetekommission "Sogenannte Sekten und Psychoorganisationen"
begrüßt. Die Anfangsbegeisterung hat sich gelegt und bei manchen
hat sich gar Resignation eingestellt. Zu groß waren die Erwartungen an
schnelles staatliches Handeln angesichts der persönlich verspürten
Bedrohung durch die Gruppierungen.
Realistische Einschätzungen
Viele kirchliche Beobachter hatten demgegenüber nichts anderes
erwartet. Der Staat in seiner Neutralitätspflicht ist gut beraten,
nicht vorschnelle Beurteilungen vorzunehmen, die dann rechtlich keinen
Bestand haben. So wundert es nicht, weil eigentlich selbstverständlich,
daß die Diskussionen in der Enquetekommission im wesentlichen eben auf
politischer und juristischer Ebene geführt werden. Bei aller
möglichen Kritik ist mindestens eines durch die staatliche
Auseinandersetzungsebene erreicht: Das öffentliche Interesse hat
zugenommen und die Sensibilisierung der Bürger für die Bedrohung
durch pseudoreligiöse Gruppierungen ist gestiegen. Nicht zuletzt die
aggressive Polemik der Gruppen gegen die Enquetekommission im ganzen und
gegenüber einzelnen Mitgliedern der Enquetekommission, wie auch
gegenüber den Politikern, die sich auf Länderebene des Problems
angenommen haben, lassen darauf schließen, daß diese Form der
politischen Auseinandersetzung wichtig und den Gruppen ein Dorn im Auge ist.
Soll sich Kirche lieber heraushalten?
Um so seltsamer mutet es an, wenn in
bestimmten Zusammenhängen von bestimmten Mitgliedern der
Enquetekommission gefordert wird, die Kirchen sollten sich aus der
Diskussion "heraushalten". Dieser manchmal nicht nur gut gemeinte Ratschlag,
der unter Hinweis auf die angebliche Befangenheit der Kirchen gegeben wird,
greift ungeniert Argumentationen auf, wie sie bislang von den Kulten und
problematischen Gruppen selbst ins Gespräch gebracht wurden. Dagegen
muß zurückgefragt werden: Stehen nicht gerade Politiker sehr wohl
unter dem Zwang, die Popularität ihrer Aussagen im Auge haben zu
müssen? Und, peinlicher, sind nicht auch bestimmte Sachverständige
bisher mehr durch ihre durchaus ehrenwerte - Lobbyarbeit für
berufsständische Interessen als durch profunde Sachbeiträge
hervorgetreten?
Politiker fordern apologetisches Handeln der Kirchen
Angesichts der, bisher unwidersprochenen "Ratschläge" und Stimmungen,
die Kirchen mögen sich zurückhalten, erstaunt es um so mehr,
daß sich nun zwei Politiker sehr unterschiedlicher Couleur zu Wort
melden, um ausdrücklich ein apologetisches Handeln der Kirchen
einzufordern. Beide sind engagierte Christen, der eine Theologe, der andere
Synodaler. Und beide haben sich in ihrer politischen Funktion bereits mutig
gegen die Selbstansprüche der Scientology-Organisation gewehrt.
Während der bayerische Innenminister Dr. Günther Beckstein
kirchliche Apologetik als ureigene kirchliche Aufgabe zum Schutze der
Gewissensfreiheit und als unverzichtbare Ergänzung staatlichen Handelns
im Rahmen der staatlichen Fürsorgepflicht gegenüber den
Bürgern ansieht, fordert Professor Wolfgang Ullmann sogar die
Wiedergewinnung eines theologischen Häresiebegriffs durch die Kirchen
und damit die Neugewinnung von Kategorien zur Unterscheidung wie
Verantwortung und Verbindlichkeit.
"Religiöse Verbraucherberatung" oder "Dialog & Apologetik"?
Gemeinsam ist beiden Politiker-Voten, daß sie gegen den Chor der
vielen gegenteiligen Stimmen die Kirchen auffordern, ihren Platz im Streit
der Meinungen wieder einzunehmen, den sie zu besetzen haben, wollen sie
nicht ihren ureigenen Auftrag vernachlässigen. Professor Ullmann mahnt
zu Recht, daß Aufklärungsarbeit als kirchliche Antwort nicht
ausreicht, um den Herausforderungen der religiösen und
weltanschaulichen Szene gerecht zu werden. Ullmann ist deshalb Recht zu
geben, weil ja z.B. tatsächlich verantwortliche kirchliche Mitarbeiter
ihren Dienst öffentlich als "religiöse Verbraucherberatung"
abwerteten, wie es erst jüngst da und dort geschehen ist. Es waren
jedoch gerade die kirchlichen Sektenbeauftragten, die den Verzicht auf
kirchliche Apologetik kritisiert und ihm die Formel von "Dialog und
Apologetik" entgegenstellt haben. Es heißt deshalb an dieser Stelle
fast Eulen nach Athen zu tragen, wenn betont wird, daß sich die
meisten kirchlichen Sektenbeauftragten keineswegs auf Informationsarbeit
beschränken, sondern ihren Dienst wesentlich als pastorale und
apologetische Aufgabe verstehen.
Offene Fragen
Vieles besticht an der
historischen Analyse, die Professor Ullmann in seinem Beitrag (S. 28 ff.)
vornimmt. Dennoch bleiben Fragen offen:
Glaubens- und Gewissenfreiheit für alle schützen und
erhalten
Die hierzu notwendigen sachlichen und wissenschaftlichen Untersuchungen,
einschließlich der Untersuchung der in den Gruppen angewandten
Methoden, müssen konsequent fortgeführt werden, um die
vorliegenden Verdachtsmomente zu verifizieren oder zu falsifizieren. Hierin
kann, auch wenn die Gruppen dies lautstark behaupten, kein Eingriff in
Grundrechte gesehen werden. Es geht hierbei keineswegs darum, mangelnde
Übereinstimmung mit dem religiösen oder gesellschaftlichen
mainstream zu be- und verurteilen, sondern um den Schutz vor Freiheit
einschränkender Manipulation, um die Verteidigung der mit der Glaubens-
und Gewissensfreiheit errungenen Bürgerfreiheit, die u.a. darin
besteht, auch künftig mit dem religiösen und gesellschaftlichen
mainstream nicht übereinstimmen zu müssen.
Ruf zur persönlichen Entscheidung und öffentliche
Kritik an Ideologie- und Machtvergötzung
Die Kirchen sind in besonderer Weise gefordert, sich
mit den Ideologien und Lehren auseinanderzusetzen. Dabei wird die Praxis
aber nicht aus dem Blick geraten dürfen, versteht sich Apologetik als
pastoraler Dienst. Aus seelsorgerlicher Einsicht muß deshalb
festgehalten werden: Das Häresieurteil gegenüber dem Einzelnen,
das Ullmann einfordert, kann nur da gesprochen werden, wo Aberglaube und
Götzendienst in freier Entscheidung gewählt wurden und
bewußt vollzogen werden. Im Rahmen einer "apologetischen Diakonie"
(Friedrich-Wilhelm Haack) darf aber auch das "Böse in den Strukturen"
nicht unbeachtet bleiben. Offen formulierte Machtansprüche sind ebenso
wie die schleichenden Wirksamkeiten und unabsichtlichen Folgen der Methoden
im Lichte der Aussagen des Evangeliums zu sehen und zu kritisieren. Das
deutliche Urteil über Menschenverachtung, Leistungsvergötzung und
Selbstvergottung in Ideologien, Strukturen und Methoden der Gruppen,
gehört zum Auftrag der Kirche selbst. Sie kann es nicht delegieren
weder an kirchliche Beauftragte noch an staatliche Kommissionen. Die
Bischöfe und die Synoden selbst sind in der Verantwortung.