Wie hast Du's mit der Religionsfreiheit?
Glauben, Religion und Freiheit
von Wolfgang Ullmann
- Das christliche Bekenntnis ordnet den Glauben in jeder Hinsicht und
in jedem Fall der Religion über. "Gott hat die Welt geschaffen, nicht die
Religion", sagt die jüdische Tradition. Die ersten Sätze der kirchlichen
Bekenntnisse sagen dasselbe
- Glauben hat Gott zum Gegenstand und nichts außerdem. Darum ist er ein
Grundakt der menschlichen Existenz, Religion dagegen betrifft nur einen
Ausschnitt derselben, den des Kultes und seiner sozialen Konsequenzen.
- Wegen dieser sozialen Konsequenzen muß zwischen wahrer und falscher
Religion wie zwischen Glauben und Aberglauben, Gottesdienst und Götzendienst
unterschieden werden.
- Der Vollzug dieser Unterscheidung ist eine theologische Aufgabe und kann
allein auf der Basis der Glaubens- und Gewissensfreiheit vollzogen werden.
- Die Frage nach der Verfassungswidrigkeit bestimmter Religionen kann
nur auf der Basis des Verfassungsrechtes (Gewissensfreiheit,
Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Unantastbarkeit der Menschenwürde)
entschieden werden. Die Frage nach der Privilegierung oder
Nichtprivilegierung bestimmter Religionen kann nicht Teil einer sozialen
Entscheidung sein.
- In den Fällen religiös motivierter Kriminalität ist nach den Regelungen
des Strafrechtes zu verfahren, genau wie in denen des politisch motivierten
Terrorismus.
- Die Unterscheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen
Organisationen kann nur in soziologischen und theologischen Begriffen
vollzogen werden. Die vereins-, gewerbe-, steuer- und
körperschaftsrechtlichen Aspekte der betroffenen Organisationen sind von
dieser Unterscheidung unabhängig.
- Der Versuch, die Unterscheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen
Organisationen auf der Basis einer juristischen Religionsdefinition
vorzunehmen, muß in jedem Fall eine Einschränkung der Glaubens- und
Gewissensfreiheit zur Folge haben. Dies gilt schon deswegen, weil auch
Weltanschauungsgemeinschaften, die sich entschieden nichtreligiös verstehen,
unter der Verfassungsgarantie der Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit
stehen.
Prof. Dr. Wolfgang Ullmann MdE, 68, ist für Bündnis90/Die Grünen Mitglied
des Europaparlaments
Religionsfreiheit und Verantwortung
von Hartmut Zinser
- Religionsfreiheit als eine der ältesten bürgerlichen Freiheiten darf
nicht eingeschränkt werden; sie gilt auch für Gruppen, die andere Lehren,
Praktiken und Lebensvorstellungen vertreten, als sie bisher bekannt und
anerkannt waren, Unter Berufung auf die Religionsfreiheit können allerdings
nicht die für alle geltenden Gesetze und Regeln überschritten oder umgangen
werden, insbesondere entbindet Religionsfreiheit nicht Verantwortung.
- Es wird darauf ankommen, mit Toleranz zwischen der Religionsfreiheit und
Verantwortung einen sozial und individuell vertretbaren Ausgleich zu
schaffen. Daraus folgt:
- Es muß von neuen religiösen Gruppen innerverbandliche Demokratie und
Rechtstaatlichkeit gefordert werden, die eine Kontrolle durch die Mitglieder
ermöglicht.
- Es ist eine klare Trennung von Wirtschaftsbetrieb und dem religiösen
Bereich zu fordern. Ein Unternehmen, das vornehmlich wirtschaftliche
Interessen hat, darf nicht unter Berufung auf die Religionsfreiheit sich den
Regeln der Wirtschaft, des Sozialrechts usw. entziehen.
- Die Anbieter religiöser Dienstleistungen müssen verpflichtet sein, den
Kun- den und Teilnehmern vorher eindeutig und klar zu Kenntnis zu bringen,
was in diesen Kulten stattfindet, damit jeder selber beurteilen kann, ob er
oder sie sich daran beteiligen wollen.
- Die Anbieter religiöser Dienstleistungen sind zur Haftung für ihre
innerweltlichen Angebote und Versprechungen verpflichtet.
- Von den Gruppen ist zu fordern, daß sie keine psychischen, materiellen
oder sozialen Abhängigkeiten ihrer Mitglieder und Anhänger hervorbringen
oder billigend in Kauf nehmen. Solche Abhängigkeiten beschränken die
Religionsfreiheit, die auch das Recht einschließt, daß jeder jederzeit seine
religiöse Gemeinschaft verlassen kann.
- Nachdem sich ein Markt der Religionen entwickelt hat,
geht es vor allem um Regulierungen dieses bisher chaotischen Marktes.
Prof. Dr. Zinser, 51, lehrt Religionswissenschaften an der Freien
Universität Berlin und ist Mitglied der Enquetekommission des deutschen
Bundestages zu sog. Sekten und Psychogruppen
Staat muß Religionsfreiheit schützen
von Thomas Gandow
- Sekten, also "echte" Religionsparteien, sind wie andere "echte"
Religionsgesellschaften organisatorischer Ausdruck der Glaubens- und
Gewissensfreiheit ihrer Anhänger. Ihre organisatorischen Sonderrechte sind
begrenzt und unterliegen in Deutschland dem für alle Personengesellschaften
geltenden Vereins- bzw. Körperschaftsrecht.
- Keinesfalls dürfen sie ihren eigenen Mitgliedern an die Menschenwürde
oder gar ans Leben gehen. Denn der "ungestörten Religionsausübung" (Artikel
4,2 des Grundgesetzes, also der deutschen Verfassung) vorgeordnet sind
Menschenwürde, Freiheit der Person, Lebensrecht, körperliche Unversehrtheit,
Gleichheit vor dem Gesetz, Diskriminierungsverbot (Art. 1 bis 3 GG).
- Die Menschenwürde "zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller
staatlichen Gewalt" in Deutschland (Art 1.1 GG).
- Die Verpflichtung der staatlichen Gewalt, aller staatlichen Gewalt - zu
Achtung und Schutz gilt unabhängig von der organisatorischen Form und
Begründung, mit der Menschenwürde und Grundrechte verletzt werden.
- Besonders der Schutz von Kindern und Schwachen gegen rücksichtslose
Unterdrückung und Ausbeutung aus wirtschaftlichen, sexuellen, religiösen
oder ideologischen Gründen kann zur staatlichen Aufgabe werden. Selbst in
Ehe und Familie müssen Recht, Achtung und Schutz u.U. mit staatlicher Hilfe
durchgesetzt und gesichert werden.
- Religionsfreiheit ist also kein Freibrief für Organisationen.
Und selbst "regelrechte" Religionsgesellschaften, auch die Kirchen, sind
kein rechtsfreier Raum, denn "die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte
und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt
noch beschränkt" (Art. 136 Weimarer Reichsverfassung in Verbindung mit Art.
140 GG).
- Gilt dies alles schon für "echte" Religionsgesellschaften,
wieviel mehr müssen die zuständigen staatlichen Gewalten "achten und
schützen", wenn unter dem bloßen Deckmantel einer Religionsgemeinschaft
religionsfremde, nämlich wirtschaftskriminelle Bestrebungen oder Aktivitäten
zur Abschaffung der demokratischen Ordnung mit ihren Grundrechten
vorgetragen werden?
- Die Glaubens- und Gewissensfreiheit war wie die meisten Grundrechte
herkömmlich zunächst ein Freiheitsrecht des einzelnen Bürgers, das gegenüber
dem (obrigkeitlichen) Staat und der jeweils herrschenden Religion
einzufordern war. Heute ist es ein Freiheitsrecht des einzelnen Bürgers, das
vom freiheitlichen Staat zu schützen und zu gewährleisten ist gegenüber
Organisationen, Gruppen und Bestrebungen, die die Freiheitsrechte seiner
Bürger einschränken wollen.
Provinzialpfarrer Thomas Gandow, 50, ist Herausgeber des BERLINER DIALOG