Wie hast Du's mit der Religionsfreiheit?

Glauben, Religion und Freiheit

von Wolfgang Ullmann
  1. Das christliche Bekenntnis ordnet den Glauben in jeder Hinsicht und in jedem Fall der Religion über. "Gott hat die Welt geschaffen, nicht die Religion", sagt die jüdische Tradition. Die ersten Sätze der kirchlichen Bekenntnisse sagen dasselbe
  2. Glauben hat Gott zum Gegenstand und nichts außerdem. Darum ist er ein Grundakt der menschlichen Existenz, Religion dagegen betrifft nur einen Ausschnitt derselben, den des Kultes und seiner sozialen Konsequenzen.
  3. Wegen dieser sozialen Konsequenzen muß zwischen wahrer und falscher Religion wie zwischen Glauben und Aberglauben, Gottesdienst und Götzendienst unterschieden werden.
  4. Der Vollzug dieser Unterscheidung ist eine theologische Aufgabe und kann allein auf der Basis der Glaubens- und Gewissensfreiheit vollzogen werden.
  5. Die Frage nach der Verfassungswidrigkeit bestimmter Religionen kann nur auf der Basis des Verfassungsrechtes (Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Unantastbarkeit der Menschenwürde) entschieden werden. Die Frage nach der Privilegierung oder Nichtprivilegierung bestimmter Religionen kann nicht Teil einer sozialen Entscheidung sein.
  6. In den Fällen religiös motivierter Kriminalität ist nach den Regelungen des Strafrechtes zu verfahren, genau wie in denen des politisch motivierten Terrorismus.
  7. Die Unterscheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen Organisationen kann nur in soziologischen und theologischen Begriffen vollzogen werden. Die vereins-, gewerbe-, steuer- und körperschaftsrechtlichen Aspekte der betroffenen Organisationen sind von dieser Unterscheidung unabhängig.
  8. Der Versuch, die Unterscheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen Organisationen auf der Basis einer juristischen Religionsdefinition vorzunehmen, muß in jedem Fall eine Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit zur Folge haben. Dies gilt schon deswegen, weil auch Weltanschauungsgemeinschaften, die sich entschieden nichtreligiös verstehen, unter der Verfassungsgarantie der Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit stehen.


Prof. Dr. Wolfgang Ullmann MdE, 68, ist für Bündnis90/Die Grünen Mitglied des Europaparlaments

Religionsfreiheit und Verantwortung

von Hartmut Zinser
  1. Religionsfreiheit als eine der ältesten bürgerlichen Freiheiten darf nicht eingeschränkt werden; sie gilt auch für Gruppen, die andere Lehren, Praktiken und Lebensvorstellungen vertreten, als sie bisher bekannt und anerkannt waren, Unter Berufung auf die Religionsfreiheit können allerdings nicht die für alle geltenden Gesetze und Regeln überschritten oder umgangen werden, insbesondere entbindet Religionsfreiheit nicht Verantwortung.
  2. Es wird darauf ankommen, mit Toleranz zwischen der Religionsfreiheit und Verantwortung einen sozial und individuell vertretbaren Ausgleich zu schaffen. Daraus folgt:
  3. Es muß von neuen religiösen Gruppen innerverbandliche Demokratie und Rechtstaatlichkeit gefordert werden, die eine Kontrolle durch die Mitglieder ermöglicht.
  4. Es ist eine klare Trennung von Wirtschaftsbetrieb und dem religiösen Bereich zu fordern. Ein Unternehmen, das vornehmlich wirtschaftliche Interessen hat, darf nicht unter Berufung auf die Religionsfreiheit sich den Regeln der Wirtschaft, des Sozialrechts usw. entziehen.
  5. Die Anbieter religiöser Dienstleistungen müssen verpflichtet sein, den Kun- den und Teilnehmern vorher eindeutig und klar zu Kenntnis zu bringen, was in diesen Kulten stattfindet, damit jeder selber beurteilen kann, ob er oder sie sich daran beteiligen wollen.
  6. Die Anbieter religiöser Dienstleistungen sind zur Haftung für ihre innerweltlichen Angebote und Versprechungen verpflichtet.
  7. Von den Gruppen ist zu fordern, daß sie keine psychischen, materiellen oder sozialen Abhängigkeiten ihrer Mitglieder und Anhänger hervorbringen oder billigend in Kauf nehmen. Solche Abhängigkeiten beschränken die Religionsfreiheit, die auch das Recht einschließt, daß jeder jederzeit seine religiöse Gemeinschaft verlassen kann.
  8. Nachdem sich ein Markt der Religionen entwickelt hat, geht es vor allem um Regulierungen dieses bisher chaotischen Marktes.


Prof. Dr. Zinser, 51, lehrt Religionswissenschaften an der Freien Universität Berlin und ist Mitglied der Enquetekommission des deutschen Bundestages zu sog. Sekten und Psychogruppen

Staat muß Religionsfreiheit schützen

von Thomas Gandow
  1. Sekten, also "echte" Religionsparteien, sind wie andere "echte" Religionsgesellschaften organisatorischer Ausdruck der Glaubens- und Gewissensfreiheit ihrer Anhänger. Ihre organisatorischen Sonderrechte sind begrenzt und unterliegen in Deutschland dem für alle Personengesellschaften geltenden Vereins- bzw. Körperschaftsrecht.
  2. Keinesfalls dürfen sie ihren eigenen Mitgliedern an die Menschenwürde oder gar ans Leben gehen. Denn der "ungestörten Religionsausübung" (Artikel 4,2 des Grundgesetzes, also der deutschen Verfassung) vorgeordnet sind Menschenwürde, Freiheit der Person, Lebensrecht, körperliche Unversehrtheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Diskriminierungsverbot (Art. 1 bis 3 GG).
  3. Die Menschenwürde "zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" in Deutschland (Art 1.1 GG).
  4. Die Verpflichtung der staatlichen Gewalt, aller staatlichen Gewalt - zu Achtung und Schutz gilt unabhängig von der organisatorischen Form und Begründung, mit der Menschenwürde und Grundrechte verletzt werden.
  5. Besonders der Schutz von Kindern und Schwachen gegen rücksichtslose Unterdrückung und Ausbeutung aus wirtschaftlichen, sexuellen, religiösen oder ideologischen Gründen kann zur staatlichen Aufgabe werden. Selbst in Ehe und Familie müssen Recht, Achtung und Schutz u.U. mit staatlicher Hilfe durchgesetzt und gesichert werden.
  6. Religionsfreiheit ist also kein Freibrief für Organisationen. Und selbst "regelrechte" Religionsgesellschaften, auch die Kirchen, sind kein rechtsfreier Raum, denn "die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt" (Art. 136 Weimarer Reichsverfassung in Verbindung mit Art. 140 GG).
  7. Gilt dies alles schon für "echte" Religionsgesellschaften, wieviel mehr müssen die zuständigen staatlichen Gewalten "achten und schützen", wenn unter dem bloßen Deckmantel einer Religionsgemeinschaft religionsfremde, nämlich wirtschaftskriminelle Bestrebungen oder Aktivitäten zur Abschaffung der demokratischen Ordnung mit ihren Grundrechten vorgetragen werden?
  8. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit war wie die meisten Grundrechte herkömmlich zunächst ein Freiheitsrecht des einzelnen Bürgers, das gegenüber dem (obrigkeitlichen) Staat und der jeweils herrschenden Religion einzufordern war. Heute ist es ein Freiheitsrecht des einzelnen Bürgers, das vom freiheitlichen Staat zu schützen und zu gewährleisten ist gegenüber Organisationen, Gruppen und Bestrebungen, die die Freiheitsrechte seiner Bürger einschränken wollen.


Provinzialpfarrer Thomas Gandow, 50, ist Herausgeber des BERLINER DIALOG