Die Vernunft hat bei Martin Luther einen Namen
Die Vernunft hat bei Martin Luther einen Namen, Frau Hulda heißt sie.
Die kluge Hulda weiß von der Existenz Gottes, aber sie erkennt ihn
nicht. Hulda kann auch eine Böse sein: Wo sie versucht, den Menschen zu
Gott zu führen, wird sie zur Hure des Teufels. Was würde der
Reformator nun aber zu einer Geschichte sagen, die mir in Colorado
widerfuhr? Sie liegt ein Vierteljahrhundert zurück. Damals lautete
mein journalistischer Auftrag, einer anmutigen Maid aus Deutschland meine
Aufwartung zu machen. Nennen wir sie Hertha. Sie war noch jung, aber die 15
Minuten Glorie, die laut Andy Warhol irgendwann im Leben jedem Menschen
gewährt sind, lagen bereits hinter ihr: Arm in Arm mit Daniel
Cohn-Bendit und anderen APO-Chaoten hatte sie vor laufenden TV-Kameras gegen
"Papas miese Bullen" demonstriert und sich damit ein scharfes Apercu des
Schriftstellers Hans Habe eingehandelt. Er schrieb ihr in einem offenen
Brief: "Sie rächten sich dafür, daß Ihr Vater Sie in die
Welt gesetzt hat; daß er Ihnen eine Klapper kaufte; daß er Ihnen
das Nasenbohren verbot, Ihr Schulgeld bezahlte." Der Vater war
Polizeipräsident. Wegen seines Vorgehens gegen die randalierende Jugend
wurde er auf Wunsch des linken SPD-Flügels abgesetzt. Er starb bald an
Krebs. Als ich Hertha in Colorado kennenlernte, war sie keine
Revolutionärin mehr.
Sie meinte, ihren Gott gefunden zu haben
Sie meinte, ihren Gott gefunden zu haben. Nun kniete sie in einem Kloster
vor einem Altar und kokelte mit Weihrauchstäbchen. Sie hatte bis auf
weiteres der Erotik abgeschworen. Sie rauchte nicht mehr, trank keinen
Alkohol, und in der deutschen Erbsensuppe, die sie für ihre
Mitschwestern und -brüder zubereitete, war keine einzige Fleischfaser,
denn man lebte vegetarisch. Wer war nun das Objekt all dieser
Werkeheiligkeit?
Guru Maharaj-Ji
Guru Maharaj-Ji, ein pummeliger Teenager, der sich als fleischgewordene
Gottheit ausgab. In Augenblicken besonderer Gnade versetzte er seine
Anbeterinnen in Ekstase, indem er sie durch den Ashram scheuchte und mit
Rasierschaum besprühte. Hertha war darüber dermaßen
entzückt, daß sie der Familie dieses Gottes immer näherkam
und schließlich seinen Bruder ehelichte. Noch einmal: Was würde
wohl Luther dazu sagen? Wohl dies: Sprechen wir hier nicht von der Vernunft,
die ja eine gute Gabe ist, damit wir uns in der Welt zurechtfinden; nennen
wir dies einen Fall von Unvernunft, die zu allem Unfug fähig ist - auch
dazu, religiöse Sehnsüchte zum Altar eines Teenagers zu steuern.
Aber nicht nur dorthin. Was hat uns die postmoderne Ära nicht alles an
Albernheiten beschert! Ich denke da an einen Kollegen, der in einem
NS-Internat, einer Napola, zur Gottlosigkeit gedrillt worden war und
später seinen Gott im indischen Poona suchte; er wurde ebenso
enttäuscht wie Hertha, die mittlerweile übrigens keine
Gottesschwägerin mehr ist.
Ich denke an die ausgemergelten Hare-Krischna-Mönche
Ich denke an die kahlgeschorenen, ausgemergelten Hare-Krischna-Mönche,
Sprosse aus dem Volk der Dichter und Denker, die klappernd, klingelnd,
Mantren murmelnd durch unsere Straßen hampeln und, Geld erheischend,
eine abstruse Heilslehre von sich geben. Ich denke an die vielen
Mitbürger, die sich auf der Suche nach Transzendenz dem atheistischen
Buddhismus zuwenden und gar nicht bemerken, daß sie dies unter einer
falschen Prämisse tun. Sie suchen ja nicht die Erlösung von der
Gesetzmäßigkeit der Wiedergeburt, die richtige Buddhisten als
leidvoll empfinden; sie, die sich vom Gott Israels abgewandt haben, begehren
kein "Nirwana", also kein Erlöschen, kein Verwehen, kein Eintreten in
den erhofften Endzustand völliger Ruhe. Nein, sie haben Angst vor dem
Tod. Und deshalb erscheint ihnen die Aussicht auf eine Kette von
Reinkarnationen als ein passabler Ausweg. Da trifft es sich gut, daß
der Buddhismus keinen Schöpfergott kennt; folglich ist aus
"neubuddhistischer" Sicht der Mensch oben auf dem Haufen. Mit anderen
Worten: eine vermessene Heilslehre!
Was würde Luther wohl dazu sagen?
Was würde Luther wohl dazu sagen? Er würde auf das Bibelwort
verweisen: "Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein
Ärgernis und den Griechen eine Torheit" (1.Kor 1,23). Daß dieses
Ärgernis, diese Torheit, das Kontrastprogramm zur postmodernen
Unvernunft ist, hat ein junger Freund begriffen, den ich unlängst
besuchte - ebenfalls in Colorado. Er berichtete mir von seinem unheilbar
kranken Sohn. Der junge Vater sagte, nach Jahren der Gottesferne sei er
jetzt ein Christ. Nun ahne er, was es mit dem Kreuz auf sich habe; er ahne
dies nicht dank seiner Vernunft und schon gar nicht aus Unvernunft, sondern
aufgrund jener alternativen Intelligenz, die er als ein großes
Geschenk betrachte. Er meinte den Glauben. Ich werde diese wunderbare
Geschichte aus Colorado, ebensowenig vergessen wie das tragikomische
Erlebnis mit der armen Hertha, die von Luthers Hulda nichts wußte und
ebensowenig vom Kreuz als dem einzigen Ausweg aus dem Labyrinth modernen und
postmodernen Aberwitzes.
Was würde Luther wohl dazu sagen? Dieser Beitrag erschien zuerst in der neuen Zeitschrift "CA Confessio Augustana - Das lutherische Magazin für Religion, Gesellschaft und Kultur". Die empfehlenswerte Zeitschrift kann bestellt werden beim CA AboService, Ringstr. 15, D-91564 Neuendettelsau, Tel. 09874-66704
Dr. Uwe Siemon-Netto,
60, Princeton (USA), Journalist und Theologe. Foto: idea